SG Stade

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Zitieren als:
SG Stade, Gerichtsbescheid vom 16.12.2011 - S 33 AY 31/09 - asyl.net: M19486
https://www.asyl.net/rsdb/M19486
Leitsatz:

1. Rechtsfehlerhaft bewilligte Leistungen gem. § 2 AsylbLG können nur durch eine Vertrauensschutzprüfung gem. § 45 Abs. 2 Satz 1 SGB 10 zurückgenommen werden.

2. Bei Ermessensausfall bei der Rücknahmeentscheidung kommt die ursprüngliche Bewilligungslage zum Tragen.

Schlagwörter: Ermessen, Analogleistungen, rückwirkende Bewilligung, Rücknahme, Leistungsbescheid
Normen: SGG § 54 Abs. 1, SGB X § 48, AsylbLG § 3
Auszüge:

[...] Die Klage hat Erfolg, soweit es um die Rechte der Kläger zu 1 bis 4 geht. [...]

Die angegriffene Entscheidung des Beklagten vom 24. März 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 06. Juli 2009 erweist sich für die Kläger zu 1 bis 4 als rechtswidrig und beschwert diese insoweit gemäß § 54 Abs. 2 SGG. Die Umstellung der den Klägern zu 1 bis 4 ursprünglich bewilligten Analogleistungen auf Grundleistungen scheitert an den Voraussetzungen des § 45 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X). Die Gewährung von Leistungen gemäß § 3 AsylbLG betreffend die Kläger zu 7 und 8 durch den Bescheid vom 26. Mai 2009 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 03. Juli 2009 erweist sich jedoch als rechtmäßig, da die Voraussetzungen der Gewährung von Analogleistungen, insbesondere die notwendigen Vorbezugszeiten, bei den Klägern zu 7 und 8 nicht erfüllt waren und diesen auch nicht zuvor Analogleistungen bewilligt worden waren. Deren Verpflichtungsbegehren konnte daher nicht zu einem Erfolg führen. Im Einzelnen:

Die Voraussetzungen für eine Aufhebung des Bewilligungsbescheids vom 26. Februar 2009 betreffend die Kläger zu 1 bis 4, soweit Analogleistungen gewährt worden waren, sind nicht erfüllt. Die teilweise Aufhebung oder Rücknahme richtet sich dabei wegen § 9 Abs. 3 AsylbLG nach den Vorgaben der §§ 44 ff. des Zehntes Buches Sozialgesetzbuch (SGG) und nicht nach den Vorschriften des VwVfG.

a) Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 48 SGB X sind nicht erfüllt.

Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass des Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt.

Bei dem Bescheid vom 26. Februar 2009 handelt es sich um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung (vgl LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 30. Juni 2011 - L 8 AY 25/11 E -). Die rechtlichen oder tatsächlichen Verhältnisse haben sich nach Erlass des Bescheids nicht geändert. Insbesondere ist die Änderung des § 2 AsylbLG in Bezug auf die Zahl der erforderlichen Vorbezugszeiten zeitlich schon vorher wirksam geworden und wurde offenbar von der Sachbearbeitung des Beklagten übersehen.

b) Die Voraussetzungen für eine Rücknahme des Bescheids vom 26. Februar 2009 auf Grundlage des § 45 SGB X waren ebenfalls nicht erfüllt, weil der Beklagte das ihm eingeräumte Ermessen nicht ausgeübt hat.

Gemäß § 45 Abs. 1 SGB X darf ein begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder die Vergangenheit zurückgenommen werden, soweit er rechtswidrig ist. Gemäß § 45 Abs. 2 Satz 1 SGB X darf ein Verwaltungsakt nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte gemäß § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 SGB X nicht berufen, wenn er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat, oder - gemäß Nr. 2 - wenn der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat, oder - gemäß Nr. 3 - er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte.

Der Bescheid vom 26. Februar 2009 war anfänglich objektiv rechtswidrig, weil den Klägerin zu 1 bis 4 Analogleistungen bewilligt wurden, obwohl die materiellen Voraussetzungen hierfür nicht vorlagen.

Die Alternativen des § 45 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 sind nicht einschlägig, so dass es auf eine Vertrauensschutzprüfung auf Grundlage des § 45 Abs. 2 Satz 1 SGB X ankommt. Allerdings handelt es sich bei der Rücknahmeentscheidung auch dann, wenn im Ergebnis der Abwägung kein schutzwürdiges Vertrauen angenommen wird, in jedem Fall um eine Ermessensentscheidung. Es ist nicht erkennbar, dass der Beklagte das ihm eingeräumte Ermessen bezüglich der Rücknahme des Bescheids vom 26. Februar 2009 ausgeübt hat. Weder der Bescheid vom 24. März 2009 noch der Widerspruchsbescheid vom 06. Juli 2009 enthalten hierzu irgendwelche Ausführungen (vgl auch insoweit LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 30. Juni 2011 - L 8 AY 25/11 B -). Das Gericht kann auch nicht im Rahmen der Überprüfung des Ermessens des Beklagten sein eigenes Ermessen an die Stelle des Verwaltungsermessens setzen (vgl Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl. 2008, § 54, Rn. 28). Damit war der Bescheid vom 24. März 2009 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 06. Juli 2009 rechtswidrig und deshalb aufzuheben.

Durch die Aufhebung des Bescheids vom 24. März 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 06. Juli 2009 kommt die ursprüngliche Bewilligungslage zum Tragen, d.h. die Regelung der beiden Bescheide vom 26. Februar 2009, allerdings in der Fassung des Änderungsbescheids vom 26. Mai 2009. Dieser enthält außerdem zusätzlich eine Regelung bezüglich der rückwirkenden Gewährung von Analogleistungen für die Kläger zu 5 und 6 ab Januar 2009. Damit wurden den Klägern zu 1 bis 6 letztlich ab Januar 2009 wirksam Leistungen nach § 2 AsylbLG bewilligt.

Zwar ist diese Bewilligung mit Blick auf die Nichterfüllung der vorgeschriebenen Vorbezugszeiten möglicherweise materiell rechtswidrig. Ob eine Änderung unter Beachtung der Vorgaben und Fristen des § 45 SGB X noch möglich ist, muss allerdings dem Beklagten überlassen bleiben. Dem Gericht ist nicht bekannt, inwieweit zwischenzeitlich weitere Änderungsbescheide ergangen sind. [...]