VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Beschluss vom 12.03.2012 - A 3 K 345/12 - asyl.net: M19491
https://www.asyl.net/rsdb/M19491
Leitsatz:

Eine alleinstehende Mutter mit einem Kleinkind ohne sicheren familiären Rückhalt würde bei Rückkehr in die D.R. Kongo in eine aussichtslose Lage geraten, da sie am Rande der Existenzmöglichkeit für sich und das Kind Überlebenschancen wahrnehmen müsste, die einer extremen Gefahr im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG gleichkommen.

Schlagwörter: Demokratische Republik Kongo, alleinerziehend, Kleinkind, existenzbedrohende Lage, extreme Gefahrenlage, Existenzgrundlage
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...]

Der Antrag ist zulässig und begründet.

Im rechtskräftig gewordenen Urteil vom 30.09.2009 - A 3 K 310/09 [...] wird ausgeführt:

"Ausländern, die der allgemein gefährdeten Bevölkerung bzw. Bevölkerungsgruppe angehören, für die aber ein Abschiebestopp nach § 60a Abs. 1 AufenthG nicht besteht, ist allerdings ausnahmsweise Schutz vor der Durchführung der Abschiebung in verfassungskonformer Handhabung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zuzusprechen, wenn die Abschiebung wegen einer im Zielstaat landesweit bestehenden extremen Gefahrenlage Verfassungsrecht verletzen würde (vgl. BVerwG, Urteile vom 17.10.1995 - 9 C 9.95 -, BVerwGE 99, 324 und 8.12.1998 - 9 C 4.98 -). Nach der Formulierung des Bundesverwaltungsgerichts ist eine solche extreme allgemeine Gefahrenlage gegeben, wenn der Ausländer durch die Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert wird.

Kleinkinder im Alter der Klägerin, die in Deutschland geboren sind, geraten, wenn ihre Ausreise in die Demokratische Republik Kongo gemeinsam mit Familienangehörigen erzwungen wird, - auch in der Hauptstadt Kinshasa - in Lebensgefahr. Bei Kindern bis zu fünf Jahren ist die Sterblichkeit durch Atemwegs- und Durchfallerkrankungen sowie Malaria stark erhöht. In Fällen wie dem vorliegenden, in denen nach dem insoweit glaubhaften Vorbringen der Mutter der Klägerin unterstellt werden muss, dass sie als alleinerziehende Mutter ohne sicheren familiären Rückhalt unter sehr schwierigen Bedingungen am Rande der Existenzmöglichkeit für sich und das Kind Überlebenschancen wahrnehmen müsste, ist jedenfalls eine extreme Gefahr im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG anzunehmen. Der Einzelrichter schließt sich insoweit nach Auswertung der zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen der Rechtsprechung an, auf die sich auch der Klägervertreter bezieht (z.B.: OVG des Saarlandes, Beschlüsse vom 12.07.2006 - 3 Q 45/05 -, juris, und vom 11.07.2007 - 3 Q 160/06 -, juris; OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 16.04.2002 - 4 L 39/02 -, juris; nicht abschließend zu in Deutschland geborenen Kleinkindern: VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 24.07.2003 - A 6 S 971/01 -, juris; siehe auch BVerwG, Beschluss vom 17.10.2006 - 1 B 3.06 -, Buchholz 402.242 § 60 Abs. 2 ff AufenthG Nr. 22).

Die schier aussichtslose Lage alleinstehender Mütter mit Kleinkindern hat sich seit den zitierten Entscheidungen nicht verbessert. Dass karitative Einrichtungen einen wesentlichen Beitrag zur Existenzsicherung leisten können, erscheint nicht gewährleistet. Das Auswärtige Amt weist in seiner Auskunft vom 14.04.2005 an das OVG Nordrhein-Westfalen darauf hin, dass die Frage, ob eine alleinstehende Mutter mit einem Kleinkind in Kinshasa existieren kann, nicht allgemein beantwortet werden kann. Im Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 01.02.2008 heißt es, ohne familiäre Bindung oder sonstige Unterstützung könne die Sicherung einer Existenzgrundlage für Rückkehrer schwierig bis unmöglich sein. Diesen Aussagen kann entnommen werden, dass eine alleinstehende Mutter mit einem Kleinkind zur Existenzsicherung ein Mindestmaß an stützenden Faktoren benötigt, um auf sich gestellt im Großraum Kinshasa überleben zu können. Diese Bedingungen sind wohl nicht gegeben (vgl. dazu VG Stuttgart, Urteil vom 24.04.2009 - A 3 K 749/08 -). Bei der einjährigen in Deutschland geborenen Klägerin kommt hinzu, dass sie eine noch höhere Infektionsanfälligkeit als im Lande geborene Kinder hat. Sie träfe auf ein desolates Gesundheitssystem in der Demokratischen Republik Kongo, das sich zuletzt sogar noch verschlechtert hat (siehe Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 09.05.2005, 05.09.2006, 01.02.2008 und insbesondere vom 14.05.2009). Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg tendiert wegen des jüngsten Lageberichts des Auswärtigen Amtes inzwischen zur Annahme eines Abschiebungsverbots für Familien mit Kleinkindern (Beschluss vom 25.09.2009 - 13 S 1887/09 -).

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge kann unter diesen Umständen der Klägerin den nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG gebotenen Schutz vor Gefahren für Leben und Gesundheit nicht verwehren."

Die Gefährdungslage für Kleinkinder und ihre Mütter hat sich im Herkunftsland seit diesen Erkenntnissen nicht verbessert. Der Antragstellervertreter verweist zu Recht darauf, dass das Auswärtige Amt in den seither veröffentlichten Lageberichten (vom 19.07.2010 und vom 31.10.2011, siehe auch Schweizerische Flüchtlingshilfe vom 06.10.2011) seine Befunde fortgeschrieben hat. Die medizinsoziologischen Erkenntnisse zu den gesundheitlichen Risiken für Kleinkinder bei einer Rückkehr oder - wie hier - erstmaligen Einreise in die Demokratische Republik Kongo sind nach wie vor deprimierend (siehe Gutachten Junghanss - Universität Heidelberg - vom 18.01.2010). Die Mutter der Antragstellerin könnte aller Voraussicht nach ihr Überleben und das ihrer beiden Kinder im Falle einer Rückkehr nicht sichern. Das Bundesamt ignoriert, dass der vorliegende Fall anders ist als der von Rückkehrern mit familiären Rückhalt (zu diesem anderen Sachverhalt vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19.01.2010 - A 5 S 63/08 -, juris). [...]