VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Beschluss vom 05.06.2012 - A 4 K 1630/12 - asyl.net: M19759
https://www.asyl.net/rsdb/M19759
Leitsatz:

Eine Ablehnung als offensichtlich unbegründet setzt missbräuchliches Verhalten des Antragstellers voraus. Der Umstand, dass aufgrund des Vorbringens bei der Anhörung weitere Ermittlungen im Heimatland des Antragstellers durchgeführt und erst in ihrer Folge das Vorbringen als unglaubhaft qualifiziert wird, rechtfertigt keine Ablehnung gem. § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG.

Schlagwörter: ernstliche Zweifel, Missbrauch, Missbrauchsvorschrift, Rechtsmissbrauch, offensichtlich unbegründet, weitere Ermittlungen, Ermittlungen, Ermittlungen im Herkunftsland, Amtsermittlung,
Normen: AsylVfG § 75, AsylVfG § 36 Abs. 3, VwGO § 80 Abs. 5, VwGO § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3, AsylVfG § 30 Abs. 3, AsylVfG § 30 Abs. 3 Nr. 1
Auszüge:

[...]

Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 25.04.2012 und die darin enthaltene Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung ist gemäß §§ 75, 36 Abs. 3 AsylVfG i.V.m. § 80 Abs. 5, Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO statthaft und auch sonst zulässig. Der Antrag ist auch begründet, da ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts bestehen (Art. 16 a Abs. 4, § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG).

Es sprechen erhebliche Gründe dafür, dass die (beabsichtigte sofortige) Beendigung des Aufenthalts des Antragstellers im Bundesgebiet, die sich gerade auf die qualifizierte Ablehnung des Asylantrages als offensichtlich unbegründet stützt, einer rechtlichen Überprüfung wahrscheinlich nicht standhält (vgl. BVerfG, Urt. v. 14.05.1996 - 2 BvR 1516/93 -, NVwZ 1996, 678). Das Bundesamt hat die Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet auf § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG gestützt. Nach dieser Vorschrift ist ein unbegründeter Asylantrag als offensichtlich unbegründet abzulehnen, wenn das Vorbringen des Ausländers in wesentlichen Punkten nicht substantiiert oder in sich widersprüchlich ist, offenkundig den Tatsachen nicht entspricht oder auf gefälschte oder verfälschte Beweismittel gestützt wird. Das Bundesamt ist im angefochtenen Bescheid davon ausgegangen, die Voraussetzungen dieser Vorschrift lägen vor, weil im Hinblick auf eine zum Anhörungsvorbringen des Antragstellers eingeholte Auskunft des Auswärtigen Amtes von offenkundiger Unrichtigkeit auszugehen sei.

Der Antragsteller hat bei seiner Anhörung vorgetragen, am 11.05.2008 habe es einen Überfall politischer Gegner seines ermordeten Onkels auf ihn gegeben, bei dem er einen schweren Stromschlag erlitten und er längere Zeit im Krankenhaus habe behandelt werden müssen, wo ihm sein rechter Arm habe amputiert werden müssen. Im Zusammenhang mit dem Überfall hat der Antragsteller u.a. die Kopie eines F.I.R. vom 11.05.2008 und weitere Unterlagen vorgelegt. Daraufhin hat die Antragsgegnerin in dieser Sache weiterrecherchiert und unter Einschaltung des Auswärtigen Amtes (und von dort über einen Vertrauensanwalt der Botschaft) Informationen darüber erlangt, wonach der F.I.R. gefälscht sei, die Identität des Antragstellers von dessen Bruder bestätigt worden sei, die Anschrift der Eltern offenbar unrichtig sei und das Krankenhaus ohne Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht keine Auskünfte erteilen könne.

Darauf, ob diese Informationen sachlich richtig sind, kommt es im vorliegenden Verfahren nicht an. Denn auch dann, wenn man mit dem Bundesamt - jedenfalls im Hinblick auf den F.I.R. vom 11.05.2008 - davon ausgeht, dass damit die Unglaubhaftigkeit des Asylbegehrens dargetan wäre, so reicht dies jedenfalls nicht für das Offensichtlichkeitsurteil im Sinne von § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG.

§ 30 Abs. 3 AsyIVfG wurde nämlich als formelle Missbrauchsvorschrift konzipiert (vgl. BVerwG, Urt. v. 21.11.2006 - 1 C 10.06 -, DVBl 2007, 446). Das ist bei der Auslegung und Anwendung von § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG zu beachten. Die auf diese Vorschrift gestützte Ablehnung als offensichtlich unbegründet setzt daher missbräuchliches Verhalten des Antragstellers voraus. Ein solches Verhalten kann dem Antragsteller jedoch hier nicht vorgehalten werden. § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG träfe vielmehr nur dann zu, wenn bereits aus dem Vortrag des Antragstellers selbst der Schluss auf eine offenkundig den Tatsachen nicht entsprechende Sachlage hätte gezogen werden können; das kann in Situationen der Fall sein, wo aufgrund einer eindeutigen allgemeinen Auskunftslage schon von vornherein feststeht, dass das individuelle Vorbringen offensichtlich den Tatsachen nicht entspricht (vgl. Hailbronner, AuslR, § 30 AsylVfG Rdnr. 56). Der Umstand, dass aufgrund des Vorbringens bei der Anhörung jedoch weitere Ermittlungen im Heimatland des Antragstellers durchgeführt und erst in ihrer Folge das Vorbringen als unglaubhaft qualifiziert wird, rechtfertigt indes nach dem Dargelegten eine Ablehnung des Asylantrags nach § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG nicht. [...]