VG Würzburg

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Zitieren als:
VG Würzburg, Urteil vom 16.02.2012 - W 2 K 11.30330 - asyl.net: M19769
https://www.asyl.net/rsdb/M19769
Leitsatz:

Für eine alleinstehende Afghanin aus der Provinz Logar, die der Minderheit der Tadschiken angehört, besteht aufgrund des bewaffneten Konflikts eine erhebliche individuelle Gefahr.

Schlagwörter: Afghanistan, Logar, besonders schutzbedürftig, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, erhebliche individuelle Gefahr, Schiiten, Tadschiken, interner Schutz, interne Fluchtalternative, alleinstehende Frau, gesundheitliche Beeinträchtigung, psychische Erkrankung, Krankheit,
Normen: RL 2004/83/EG Art. 8 Abs. 1, RL 2004/83/EG Art. 15 Bst. c, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 2,
Auszüge:

[...]

Allerdings ist die Lage hinsichtlich der unterschiedlichen Provinzen differenziert zu sehen. Nicht in allen Teilen Afghanistans ist von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt in diesem Sinne auszugehen, bei denen wahllos stattfindende Gewalt insbesondere die Zivilbevölkerung stark in Mitleidenschaft zieht. (bejahend: HessVGH vom 11.12.2008 Az. 8 A 611/08.A <juris> für die Provinz Paktia; VG Kassel vom 01.07.2009 Az. 3 K 206/09.KS.A <juris> für den Süden und Südosten des Landes; VG Ansbach vom 03.03.2011 Az. AN 11 K 10.30505 <juris> für die Provinz Helmand; VG Augsburg vom 10.06.20011 Az. AU 6 K 10.30644 <juris> für die Provinz Kandahar; VG Gießen vom 20.06.2011 Az. 2 K 499/11.GLA, Asylmagazin 2011, 235 insbesondere für die Provinz Maidan-Wardak, aber auch allgemein für das ganze Land; verneinend: VG Osnabrück vom 16.06.2009 Az. 5 A 48/09 <juris> für die Stadt Herat; VG Kassel vom 01.07.2009 Az. 3 K 206/09.KS.A <juris> für den Großraum Kabul; VG des Saarlandes vom 26.11.2009 Az. 5 K 623/08 <juris> für den Großraum Kabul; VG Ansbach vom 16.12.2009 Az. AN 11 K 09.30327 <juris> für Stadt und Distrikt Kabul; VG Regensburg vom 15.04.2010 Az. RN 9 K 09.30075 <juris> ohne regionale Differenzierung; BayVGH vom 03.02.2011 Az. 13a B 10.30394 <juris> für die Provinzen Parwan und Kabul; VG Augsburg vom 24.02.2011 Az. AU 6 K 09.30134 <juris> für den Großraum Kabul; VG Ansbach vom 04.08.2011 Az. AN 11 K 11.30262 <ju(s> für die Provinz Herat).

Aus dem Quarterly Data Report des Afghanistan NGO Safety Office (ANSO) ergibt sich eine Einstufung der Provinz Logar auf einer fünfstufigen Skala von "low insecurity" bis "extremely insecure" in die mittlere Kategorie "moderately insecure" (Berichte Q.1 - Q.4 2011). Demgegenüber erfolgte im Bericht Q.2 2009 noch eine Einstufung in die zweitunterste Kategorie "deteriorating". Die Einzelstatistik im Bericht Q.2 2011 zeigt, dass die Anzahl der Vorfälle (attacks) von 89 im 2. Quartal 2009 auf 111 im 2. Quartal 2011 gestiegen ist. Demgegenüber ist die Anzahl der Vorfälle insgesamt im Jahr 2010 mit 265 höher als im Jahr 2011 mit 226. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die Provinz Logar von den als "highly insecure" eingestuften Provinzen Wardak und Paktia umgeben ist und auch die als "extremly insecure" eingeschätzten Provinzen Ghazni, Khost und Paktika nicht weit entfernt sind. Dies ist insofern von Bedeutung, als die Provinz Logar für bewaffnete oppositionelle Gruppen aus den genannten Nachbarprovinzen als Aufmarsch- und Durchzugsgebiet nach Kabul von großer Bedeutung ist. Wegen der weiteren Einzelheiten hinsichtlich der Situation in der Provinz Logar wird auf den Inhalt des Urteils des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 25. August 2011 (Az.: 8 A 1657/10.A <juris>) Bezug genommen, welches der Klägerbevollmächtigte in das Verfahren eingeführt hat.

Auf dieser Grundlage ist festzustellen, dass die Provinz Logar nicht vergleichbar mit der Provinz Parwan ist, die nordöstlich von Kabul liegt. Für diese Provinz, die ebenfalls der Zentralregion zugeordnet wird, hat der Bayer. Verwaltungsgerichtshof in seiner Entscheidung vom 3. Februar 2011 (Az.: 13a B 10.30394 <juris>) entschieden, dass hier kein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt vorliegt. Allerdings können nicht alle Provinzen der Zentralregion gleichgesetzt werden. Insbesondere ist zu beachten, dass die Provinz Parwan von Afghanistan NGO Safety Office der Stufe "low insecurity" bzw. "deteriorating" zugeordnet wird und dass diese Provinz von anderen ebenfalls relativ befriedeten Gebieten. umgeben ist. Vielmehr muss die Provinz Logar trotz ihrer Zuordnung zur Zentralregion eigenständig beurteilt werden.

Das Gericht gelangt auf der Grundlage der oben genannten Unterlagen zu dem Ergebnis, dass hier ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt herrscht. Das Gericht ist sich dabei bewusst, dass es hier an sachtypische Grenzen tatrichterlicher Überzeugungsbildung stößt, denn eine statistische Berechnung eines Risikoquotienten ist problematisch angesichts des Fehlens zuverlässiger amtlicher Zahlen und angesichts einer hohen Dunkelziffer von Gewaltakten. Auf dieser Grundlage sind die oben genannten Erkenntnismittel für das Gericht hinreichend, um für die Provinz Logar mit ihren etwa 400.000 Bewohnern einen innerstaatlichen bewaffneten Konflikt anzunehmen.

Zumindest für die Klägerin als besonders schutzbedürftige Person führt dieser bewaffnete Konflikt zu einer erheblichen individuellen Gefahr. Dies ergibt sich schon daraus, dass sie als Frau ohne Ehemann auf keinen unmittelbaren Schutz eines männlichen Familienmitgliedes hoffen kann. Hinzu kommt, dass sie Schiitin ist und dem Volk der Tadschiken angehört, also einer Minderheit in der von Paschtunen geprägten Provinz. Zudem leidet die Klägerin, wie die vorgelegten medizinischen Atteste ergeben, an einer chronisch therapieresistenten endogenen Depression sowie an den Folgen von Verletzungen im Unterschenkelbereich.

All dies zusammengenommen macht deutlich, dass die Klägerin dem in der Provinz herrschenden innerstaatlichen bewaffneten Konflikt leicht zum Opfer fallen kann und sich dieser deshalb für sie als erhebliche individuelle Gefahr erweist.

Die Klägerin hat auch keine interne alternative Schutzmöglichkeit. In Betracht käme hier lediglich der Großraum Kabul.

Nach Art. 8 Abs. 1 QRL benötigt ein Schutzsuchender keinen internationalen Schutz, sofern in einem Teil des Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung bzw. keine tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, besteht. Zudem muss vom Schutzsuchenden vernünftigerweise erwartet werden können, dass er sich in diesem Landesteil aufhält. Dabei sind die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände (vgl. Art. 4 Abs. 3c QRL) des Schutzsuchenden zu berücksichtigen. Damit wird die Nachrangigkeit des Schutzes verdeutlicht. Der Schutzsuchende muss am Zufluchtsort aber eine ausreichende Lebensgrundlage vorfinden, d.h. es muss zumindest (in faktischer Hinsicht) das Existenzminimum gewährleistet sein, was er unter persönlich zumutbaren Bemühungen sichern können muss. Dies gilt auch, wenn im Herkunftsland die Lebensverhältnisse gleichermaßen schlecht sind. Unerheblich ist, ob eine Gefährdung in einem Herkunftsort in gleicher Weise besteht. Darüber hinaus ist es auch erforderlich, dass das Zufluchtsgebiet für den Schutzsuchenden erreichbar ist.

Unter Beachtung dieser Voraussetzungen stellt sich die Lage in Afghanistan bzw. im Großraum Kabul wie folgt dar:

Nach den Lageberichten des Auswärtigen Amtes (vom 28.10.2009, 27.07.2010 und 09.02.2011) führt die verbreitete Armut landesweit vielfach zu Mangelernährung, auch wenn die Ernten 2009 und 2010 besser ausgefallen sind als im Jahr 2008. In den Städten ist die Versorgung mit Wohnraum zu angemessenen Preisen schwierig. Die medizinische Versorgung ist unzureichend. Die soziale Absicherung liegt traditionell bei den Familien und Stammesverbänden. Die für eine geordnete Rückkehr der Flüchtlinge angelegten so genannten townships sind für eine permanente Ansiedlung kaum geeignet.

Hinsichtlich der medizinischen Versorgung berichtet die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland (Auskunft vom 29.04.2009 an VG Hamburg), dass diese in den ländlichen Gebieten oftmals nicht gewährleistet ist, während sich die Lage in größeren Städten verbessert. Die kostenlose Medikamentenversorgung ist sehr eingeschränkt.

Nach der Auskunft des UNHCR (vom 30.11.2009 an den BayVGH) bilden die Familien- und Gesellschaftsstrukturen den vorwiegenden Schutzmechanismus. Hierauf sind die Afghanen angewiesen. Eine Ansiedlung ist nur denkbar, wenn entsprechender Schutz durch die eigene erweiterte Familie, die Gemeinschaft öder den Stamm gewährleistet ist. Ein starker Anstieg der Lebensmittelpreise und Arbeitslosigkeit stellt vor allem für gering Qualifizierte ein Problem dar, eine Existenz aufzubauen. Hinzu kommen Knappheit an Lebensmitteln, ein mangelhaftes Gesundheitssystem und in Kabul die extrem hohen Wohnungskosten. Rückkehrer aus westlichen. Staaten können wegen ihrer westlichen Lebensweise in erhöhtem Maße gefährdet sein.

Nach den Updates der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (21.08.2008, 26.02.2009, 11.08.2009, 06.10.2009, 11.08.2010 und 23.08.2011) können wegen der weit verbreiteten Arbeitslosigkeit viele Menschen nicht für ihren Lebensunterhalt aufkommen. Wohnungsknappheit, fehlender Zugang zu Trinkwasser und zu medizinischer Versorgung erschweren die Lage. Ohne eine Familien- und Gemeinschaftsstruktur als wichtigstes Netz für Sicherheit und das ökonomische Überleben ist eine Existenz kaum möglich.

Dr. Mostafa Danesh berichtet in seinen Stellungnahmen an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof (vom 23.01.2006, 04.12.2006, 03.12.2008 und 07.10.2010), dass alleinstehende Rückkehrer in Afghanistan keinerlei Aussicht haben, sich aus eigener Kraft eine Existenz zu schaffen. Insbesondere ältere Männer (ab 40 Jahre) haben keinerlei Chance auf einen Arbeitsplatz. Ein soziales Netz in Form der Großfamilie ist überlebensnotwendig. Weiterhin beschreibt Dr. Danesh Lebensmittelknappheit.

Peter Riek (Stellungnahme vom 15.01.2008 an OVG Rheinland-Pfalz) berichtet, dass offene Arbeitsstellen meist Kräften mit höherer Schulbildung vorbehalten sind. Einfachere Arbeiten werden aufgrund persönlicher Kontakte vergeben. Alleinstehende, arbeitsfähige, wenig qualifizierte männliche Afghanen ohne Verwandte haben nur geringe Chancen auf eine dauerhafte Erwerbsmöglichkeit. Damit können auch Unterkunft und Lebensunterhalt nicht gesichert werden.

Dem entspricht die Stellungnahme von Dr. Bernt Glatzer (vom 31.01.2008 an das OVG Rheinland-Pfalz), der die Gefahr für Rückkehrer, wegen der schlechten Versorgungs- und Erwerbsmöglichkeiten in Kabul das zum Leben Notwendige nicht zu erlangen, als sehr hoch einschätzt. Außerhalb Kabuls ist die Arbeitsmarktsituation hiernach noch ungünstiger.

Die Bewertung dieser Auskünfte durch die Gerichte ist unterschiedlich (vgl. statt vieler z.B. VG Sigmaringen vom 16.03.2006 Az. A 2 K 10668/05 <juris>; VG München vom 16.10.2007 Az. M 23 K 06.51077 <juris>; VG des Saarlandes vom 26.11.2009 Az. 5 K 623/08 <juris>; VG Ansbach vom 04.08.2011 Az. AN 11 K 11.30262 <juris>; VG Augsburg vom 05.04.2011 Az. AU 6 K 10.30152 <juris>; BayVGH vom 03.02.2011 Az. 13a B 10.30394 <juris> jeweils m.w.N.).

Auf dieser Grundlage gelangt das Gericht zu der Erkenntnis, dass Personen ohne familiäre oder verwandtschaftliche Strukturen bzw. ohne soziales Netzwerk und mit besonderem Schutzbedarf wie z.B. ältere oder behandlungsbedürftig kranke Personen, alleinstehende Frauen mit und ohne Kindern, Familien und Personen mit besonderen ethischen oder religiösen Merkmalen keine Möglichkeit haben, sich in Afghanistan eine neue Existenz aufzubauen. [...]

Auf dieser Grundlage gelangt das Gericht zu der Erkenntnis, dass die Klägerin keine Möglichkeit hat, sich eine wenn auch kümmerliche Existenz im Großraum Kabul aufzubauen. Dies ergibt sich schon daraus, dass es sich bei der Klägerin um eine Frau handelt. Als solche hat sie keine Möglichkeit, selbständig im Großraum Kabul für eine Existenz zu sorgen. Hinzu kommen ihre schon oben angesprochenen körperlichen Einschränkungen, die einen weiteren Hinderungsgrund dafür bilden, dass sie für sich selbst sorgen kann.

Dies gilt auch unter Berücksichtigung der in Kabul wohnenden Verwandtschaft der Klägerin, also des Cousins, an dessen Hochzeit sie teilgenommen hat. Es ist nicht erkennbar, dass dieser bereit wäre, dauerhaft für die Klägerin zu sorgen. Zudem ergibt sich der Vorteil eines verwandtschaftlichen Netzwerkes im Herkunftsstaat daraus, dass der Schutzsuchende mit dessen Hilfe eine Arbeit und eine Wohnung finden und so für sich selbst sorgen kann. Dies ist aus den schon dargestellten Gründen bei der Klägerin nicht möglich.

Hieraus ergibt sich, dass die Klägerin für sich geltend machen kann, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG besteht. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 und Abs. 3 Satz 1 AufenthG sind demgegenüber nicht erkennbar. Entsprechendes hat die Klägerin weder im Verfahren vor dem Bundesamt noch im Gerichtsverfahren vorgetragen. [...]