AG Korbach

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Zitieren als:
AG Korbach, Urteil vom 13.08.2012 - 4 Cs - 1620 Js 8985/12 (=ASYLMAGAZIN 12/2012, S. 443 f.) - asyl.net: M20084
https://www.asyl.net/rsdb/M20084
Leitsatz:

Art. 31 Abs. 1 GFK findet auch Anwendung auf typische Begleitdelikte der illegalen Einreise eines Flüchtlings. Der Gebrauch von unechten Urkunden ist bei einer Flucht häufig unvermeidlich. Ein rechtliches Auseinanderreißen des einheitlichen Lebenssachverhaltes von Benutzung einer unechten Urkunde und Einreise würde durch die Bestrafung des Begleitdeliktes die pönalisierungsbefreiende Wirkung des Art. 31 Abs. 1 GFK untergraben.

Schlagwörter: fluchtspezifische Notstandssituation, unerlaubte Einreise, unerlaubter Aufenthalt, illegale Einreise, illegaler Aufenthalt, Verwendung falscher Ausweispapiere, Urkundenfälschung, gefälschter Pass, gefälschtes Reisedokument, Pass, Reisedokument, Täuschung über Identität, strafbefreiende Wirkung, Asylbewerber, Asylantrag, Strafbarkeit,
Normen: GFK Art. 31 Abs. 1, GG Art. 59 Abs. 2, StGB § 267,
Auszüge:

[...]

Der Einspruch des Angeklagten gegen den Strafbefehl vom 23. April 2012 ist zulässig und auch begründet.

Der Angeklagte hat sich durch die Verwendung des französischen Reisepasses bei seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland nicht wegen Urkundenfälschung strafbar gemacht. Der Angeklagte hat zwar den objektiven und subjektiven Tatbestand des § 267 StGB verwirklicht, seine Handlungen sind aber gemäß Art. 31 Abs. 1 GFK gerechtfertigt, weil er sich in einer fluchtspezifischen Notstandssituation befand (vgl. Fischer-Lescano/Horst, Das Pönalisierungsverbot aus Art. 31 Abs. 1 GFK, ZAR 3/2011, 81 ff., 90, linke Spalte oben).

Art. 31 GFK ist im vorliegenden Fall vom Gericht zu berücksichtigen.

Die GFK ist von deutschen Gerichten zu beachten. Sie steht, wie sich aus Art. 59 Abs. 2 GG ergibt, im Rang eines Bundesgesetzes. In Art. 31 Nr. 1 GFK heißt es: "Die vertragschließenden Staaten werden wegen unrechtmäßiger Einreise oder Aufenthalts keine Strafen gegen Flüchtlinge verhängen, die unmittelbar aus einem Gebiet kommen, in dem ihr Leben oder ihre Freiheit im Sinne von Artikel 1 bedroht waren und die ohne Erlaubnis in das Gebiet der vertragschließenden Staaten einreisen oder sich dort aufhalten, vorausgesetzt, dass sie sich unverzüglich bei den Behörden melden und Gründe darlegen, die ihre unrechtmäßige Einreise oder ihren unrechtmäßigen Aufenthalt rechtfertigen."

Der Angeklagte ist als Asylbewerber Flüchtling i.S.d. Art 31 GFK.

Er hat sich unverzüglich nach der Einreise bei den deutschen Behörden gemeldet und die Gründe dargelegt, die seine unrechtmäßige Einreise oder seinen unrechtmäßigen Aufenthalt rechtfertigen. Er hat sich als Asylsuchender zu erkennen gegeben.

Die von manchen problematisierte (vgl. Fischer-Lescano/Horst, a.a.O. S. 86 linke Spalte unten bis S. 87 rechte Spalte oben) Frage, ob Art. 31 GFK auch anzuwenden ist, wenn der Flüchtling sich eines Schleusers bediente, ist zu bejahen, denn schon im Zuge der Erarbeitung der GFK war das Problem, dass Flüchtlinge regelmäßig auf Fluchthilfe Dritter angewiesen sind, bekannt. "Aus der Diskussion im Rahmen der Verhandlungen um die GFK wird deutlich, dass die Verfasser der GFK den Anwendungsbereich der Vorschrift nicht auf die illegale Einreise beschränken wollten, die ohne fremde Hilfe erfolgte; gerade auch, weil eine Einreise ohne die Mithilfe von Schleusern vielfach unmöglich ist" (vgl. Fischer-Lescano/Horst, a.a.O., S. 86. rechte Spalte m.w.N.).

In Rechtsprechung und Literatur ist nun umstritten, ob sich der Anwendungsbereich des Art. 31 GFK nur auf den Tatbestand der illegalen Einreise und des illegalen Aufenthalts erstreckt oder ob dieser auch andere Delikte, die im Zusammenhang mit der illegalen Einreise begangen werden, umfasst.

In der Literatur wollen einige Autoren die Anwendung von Artikel 31 GFK auf den Tatbestand der illegalen Einreise beschränken, andere votieren hingegen für eine weite Auslegung des Art. 31 Abs. 1 GFK und befürworten eine Anwendung auch auf die Verwendung falscher Ausweispapiere (vgl. Fischer-Lescano/Horst, a.a.O., Seite 87 m.w.N.). Auch deutsche Gerichte beantworten diese Frage uneinheitlich. Das Amtsgericht Frankfurt und das Amtsgericht München haben entschieden, dass Artikel 31 Abs. 1 GFK auch auf den Tatbestand des § 267 StGB Anwendung findet (Amtsgericht Frankfurt, Strafverteidiger 1988; Seite 306 bis 307). Das OLG München geht jedoch davon aus, dass Art. 31 GFK nicht auf Urkundenfälschungen im Zusammenhand mit dem Grenzübertritt anwendbar sei (OLG München, 5. Strafsenat, Beschluss vom 29. März 2010, Az.: 5 StRR (II) 79/10, 5 StRR (III) 079/10). Danach soll Art. 31 Abs. 1 GFK "lediglich die Pönalisierung des Grenzübertritts unterbinden, nicht aber staatliche Interessen gefährdet werden oder gar die staatliche Souveränität beeinträchtigen. Die wahre Identität des Flüchtlings ist für den Aufnahmestaat von hohem Interesse. Ohne sie ist ihm die Prüfung, ob überhaupt die In Art. 1 GFK beschriebene Verfolgungssituation bei dem Betroffenen vorliegt, unmöglich. Die wahre Identität kann in erster Linie nur durch Ausweispapiere nachgewiesen werden. Deshalb kann der Mitgliedsstaat die durch Urkundenfälschung begangene Identitätsverschleierung durchaus zum Anlass nehmen, um sie zu bestrafen" (OLG München; a.a.O.).

Das Gericht schließt sich dagegen der Auffassung von Fischer-Lescano/Horst (a,a.O, Seite 87-88) an, dass Art. 31 Abs. 1 GFK auch auf typische Begleitdelikte einer illegalen Einreise Anwendung findet. Sinn und Zweck der Norm sprechen für eine Auslegung, nach welcher sich die strafbefreiende Wirkung auf typische Begleitdelikte der illegalen Einreise erstreckt. Denn die Norm hat den Zweck, den menschen- und flüchtlingsrechtlich gebotenen Schutz von Flüchtlingen effektiv zu machen. Sie zieht eine rechtliche Lehre aus der Tatsache, dass die Offenbarung der wahren Identität des Flüchtlings eine Flucht und das Erreichen eines sicheren Ortes unmöglich machen kann. Der Gebrauch von unechten Urkunden ist bei einer Flucht häufig unvermeidlich. Die Benutzung einer unechten Urkunde und der illegale Grenzübertritt bilden in solchen Konstellationen einen einheitlichen Lebenssachverhalt der Flüchtlingseinreise, der nach dem deutschen Strafrecht rechtlich Teil einer Handlung ist. Ein rechtliches Auseinanderreißen dieses einheitlichen Lebenssachverhaltes würde durch die Bestrafung des Begleitdeliktes die pönalisierungsbefreiende Wirkung, des Art. 31 Abs. 1 GFK untergraben. Die Pönalisierungsbefreiung, so entspricht es dem Normzweck, ergibt nur Sinn, wenn der gesamte Lebenssachverhalt umfasst wird (vgl. Fischer-Lescano/Horst, a.a.O. S. 87 linke Spalte).

Der Angeklagte ist auch "unmittelbar" eingereist i.S. des Art. 31 GFK. Der Schutzgedanke des Art. 31 Abs. 1 GFK hat sich nämlich erst dann erschöpft, wenn der Flüchtling in einem anderen Land eine hinreichend sichere Position vor den ihm drohenden Verfolgungen erlangt hat (vgl. Fischer-Lescano/Horst, a.a.O., S. 88 linke Spalte m.w.N.). Mit der Aufnahme dieser Bedingung in den Text des Art. 31 Abs. 1 GFK wollten die vertragschließenden Parteien nicht ausschließen, dass ein Flüchtling auf seiner Flucht Staaten durchquert, sondern einem Flüchtling sollte, nachdem er sich temporär in einem Aufnahmestaat niedergelassen hat, nicht mehr das Recht zustehen, aus persönlichen, wirtschaftlichen oder sonstigen Gründen auch noch nach Jahr und Tag in einen anderen Staat weiterzureisen (vgl. Fischer-Lescano/Horst, a.a.O., S. 88 rechte Spalte m.w.N.). Eine Flucht auch in mehreren Etappen mit einigen Tagen Aufenthalt in mehreren Transitstaaten unterfällt danach dem Anwendungsbereich des Art. 31 GFK. Der Angeklagte ist hier über mehrere Staaten gereist und hat sich auch für längere Zeit, nämlich knapp zwei Monate, in Thailand aufgehalten. Dies aber nur, weil er so lange auf ein weiteres Tätigwerden seines Schleusers, nämlich auf die Fertigstellung des gefälschten Ausweises, gewartet hat. Er hatte in Thailand keineswegs eine hinreichend sichere Position vor den ihm drohenden Verfolgungen erlangt. Zudem soll es dem Flüchtling durch dieses Erfordernis des Art. 31 Abs. 1 GFK nicht verwehrt werden, in ein Zielland weiterzureisen, welches seinem Fluchtbegehren offener gegenüberstehe (vgl. Fischer-Lescano/Horst, a.a.O.).

Danach ist die Tat des Angeklagten gerechtfertigt, weil er sich in einer fluchtspezifischen Notstandssituation befand (vgl. Fischer-Lescano/Horst, a.a.O., Seite 90, linke Spalte oben) und deswegen war er folglich aus rechtlichen Gründen freizusprechen. […]