VG Meiningen

Merkliste
Zitieren als:
VG Meiningen, Beschluss vom 02.11.2012 - 5 E 20194/12 Me - asyl.net: M20117
https://www.asyl.net/rsdb/M20117
Leitsatz:

Asylsuchende, die aufgrund der Dublin II-Verordnung nach Ungarn rücküberstellt werden, müssen nach ihrer Überstellung erneut Asyl beantragen. Dieser Antrag wird als Folgeantrag gewertet. Das hat zur Folge, dass keine materielle Prüfung stattfindet, wenn kein neuer Sachvortrag vorliegt. Dies stellt einen systemischen Mangel des Asylverfahrens dar (vgl. ebenso VG Magdeburg, U.v. 06.08.2012 - 5 A 180/12 MD - M 19985; VG Meiningen, B.v. 26.04.2012 - 8 E 20053/12 Me - M19662).

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, unmenschliche Behandlung, erniedrigende Behandlung, Mindeststandards, Asylverfahren, Ungarn, Asylfolgeantrag, Asylbewerber, Inhaftierung, Folgeantrag,
Normen: VO 343/2003 Art. 17 Abs. 1, AsylVfG § 34a Abs. 2, GR-Charta Art. 4,
Auszüge:

[...]

Vorliegend bestehen nach der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung - auch bei Anwendung strenger Maßstäbe an die Darlegung eines Ausnahmefalls - ernstliche Zweifel daran, dass der Antragsteller im Falle einer Überstellung nach Ungarn Schutz entsprechend der europaweit vereinbarten Mindeststandards wird erlangen können.

Das Gericht schließt sich insoweit der Einschätzung in der Entscheidung der 8. Kammer des Verwaltungsgerichts Meiningen (Beschluss vom 26.04.2012 - 8 E 20053/12 Me -) sowie den Einschätzungen in den Entscheidungen des Verwaltungsgerichts Magdeburg (Urteil vom 6.08.2012 - 5 A 180/12 MD -) und des Verwaltungsgerichts Stuttgart (Beschluss vom 14.08.2012 - A 7 K 2589 -) an. In letzterer ist unter Berücksichtigung der aktuellen Auskunftslage ausgeführt:

"(...) Nach den vorliegenden Erkenntnissen (UNHCR vom April 2012, Ungarn als Asylland, Bericht zur Situation für Asylsuchende und Flüchtlinge in Ungarn; UNHCR-Büro Wien vom 3.2.2012, Stellungnahme an den Asylgerichtshof zur Situation von Asylsuchenden in Ungarn; Pro Asyl vom März 2012, Ungarn: Flüchtlinge zwischen Haft und Obdachlosigkeit, Bericht einer einjährigen Recherche bis Februar 2012; Ungarisches Helsinki-Komitee vom Dezember 2011, Zugang zu Schutz in Gefahr, Bericht über die Behandlung von Dublin-Rückkehrern in Ungarn; Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan von Aken, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE - vom 2.3.2011, BT-Drs. 17/8836) liegt in Bezug auf Ungarn mindestens ein schwerwiegender systemischer Mangel bezüglich der Durchführung des Asylverfahrens vor. Aus den genannten Auskünften ergibt sich, dass Asylsuchende, die aufgrund der Dublin II-Verordnung rücküberstellt werden, für die ungarischen Behörden nicht automatisch als Asylsuchende gelten. Sie müssen nach ihrer Überstellung nach Ungarn erneut Asyl beantragen, auch wenn sie zuvor in einem anderen europäischen Staat um Schutz nachgesucht haben (UNHCR vom April 2012, a.a.O.). Auch Asylbewerber, die zuvor in Ungarn einen Asylantrag gestellt haben, können ihr unterbrochenes Asylverfahren nicht fortsetzen (Pro Asyl vom Februar 2012, a.a.O.). Diese Anträge werden als Folgeanträge angesehen. Folgeanträge, bei denen kein neuer Sachvortrag vorliegt, werden bereits in der ersten Stufe der Prüfung im Asylverfahren abgelehnt mit der Folge, dass der Asylantrag inhaltlich nicht geprüft wird. Das Asylverfahren in Ungarn gliedert sich in zwei Verfahrensschritte. Im sog. Vorverfahren, das auch eine erste Anhörung beinhaltet, wird nach einer ersten Anhörung geprüft, ob der Asylantrag unzulässig, offensichtlich unbegründet oder aber aufgrund der Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats nach der Dublin II-Verordnung eingestellt wird. In der zweiten Stufe des Verfahrens erfolgt eine zweite detaillierte ausführlichere Anhörung durch die Asylbehörde, der dann eine Entscheidung folgt. Das bedeutet jedoch für diejenigen Asylbewerber, die bislang kein Verfahren in Ungarn durchgeführt haben oder deren Verfahren mangels Mitwirkung, da sie z.B. weitergereist sind, eingestellt wurde, dass ihr Asylbegehren nicht inhaltlich geprüft wird. Dies widerspricht jedoch Art. 16 Abs. 1 a) und b) der Dublin II-Verordnung. Danach ist der für das Asylverfahren zuständige Mitgliedstaat nicht nur verpflichtet, Asylsuchende zurückzunehmen, sondern auch gehalten, die Prüfung des Asylantrags abzuschließen. Dies ist jedoch nach dem Vorstehenden nicht gewährleistet. Zudem ist der antragstellenden Person der Verbleib im Land bis zu einer Entscheidung der zuständigen Behörde über ihren Antrag zu gestatten (Art. 7 der Asylverfahrensrichtlinie - RL 2005/85/EG) und sicherzustellen, dass sie ein Dokument erhält, das ihren Status als asylsuchend bestätigt oder aus dem hervorgeht, dass sie zum Verbleib im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats berechtigt Ist, solange ihr Asylverfahren anhängig ist bzw. ihr Antrag geprüft wird (Art. 6 Abs. 1 der Aufnahmerichtlinie - RL 2003/9/EG). Auch hier liegen Mängel vor.

Hinzu kommt, dass in den meisten Fällen Rückkehrer nach der Dublin II-Verordnung inhaftiert werden. Denn es handelt sich häufig um Personen, die bereits in Ungarn erfolglos einen Asylantrag gestellt oder die sich illegal in Ungarn aufgehalten haben. Für beide Personenkreise gilt in der Regel, dass vollziehbare Ausreiseaufforderungen vorliegen. Dies bedeutet für den Fall von Überstellungen, dass die für den Vollzug der Ausweisung zuständigen Institutionen verpflichtet sind, zur Sicherstellung der Ausweisung Haft anzuordnen (Antwort der Bundesregierung vom 2.3.2012, a.a.O.). Hieran ändert sich auch nichts, wenn der rücküberstellte Asylbewerber aus der Haft einen Folgeantrag stellt. Dieser wird, wie oben gezeigt, als Folgeantrag gewertet. Die Stellung eines Folgeantrags hat jedoch keine aufschiebende Wirkung, selbst wenn dieser beachtlich sein sollte. Daher spricht viel dafür, dass Ungarn jedenfalls teilweise auch Art. 18 der RL 2005/85/EG nicht beachtet, wonach Mitgliedstaaten eine Person nicht allein deshalb in Gewahrsam nehmen dürfen, weil sie ein Asylbewerber ist.

Darüber hinaus dürfte die Behandlung der Asylbewerber in Haft weder im Einklang mit den vom EGMR in der Rechtssache S. gegen Vereinigtes Königreich (U.v. 29.1.2008 - 13229/03 -, juris) formulierten Standards noch mit dem Erwägungsgrund 9 der EU-Rückführungsrichtlinie (RL 2008/115/EG) stehen, da sie der von mutmaßlichen Straftätern gleichkommt. Ausweislich des Berichts des UNHCR vom April 2012 wird in dauerhaft bestehenden Hafteinrichtungen ein strenges Gefängnisregime angewendet, selbst wenn die Insassen nur die kleineren Vergehen der irregulären Einreise oder des irregulären Aufenthalts begangen haben. Asylbewerber werden bei der Vorführung vor Gericht oder bei Erledigungen außerhalb der Einrichtungen - etwa zur Bank oder zum Postamt - mit Handschellen gefesselt. Zudem werden sie an Leinen geführt, die normalerweise für Angeklagte in Strafverfahren verwendet werden. Der EGMR hat indessen in seiner Entscheidung unter anderem ausgeführt, dass Haftort und Haftbedingungen angemessen und von der Überlegung geleitet sein sollten, dass die Maßnahme nicht auf Straftäter, sondern auf Ausländer angewendet wird, die oft aus Angst um ihr Leben aus ihrem eigenen Land geflüchtet sind. Nach dem Erwägungsgrund 9 der Rückführungsrichtlinie sollten Drittstaatsangehörige, die in einem Mitgliedstaat Asyl beantragt haben, so lange nicht als illegal im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats aufhältige Person gelten, bis eine abschlägige Entscheidung über den Antrag oder eine Entscheidung, mit der sein Aufenthaltsrecht als Asylbewerber beendet wird, bestandskräftig geworden ist.

Anhaltspunkte dafür, dass sich die Situation in Ungarn bezüglich der Durchführung von Asylverfahren und der Aufnahmebedingungen nachhaltig verbessert hat, sind nicht ersichtlich.

Das Vorbringen der Antragsgegnerin begründet keine andere Sicht der Dinge. So beschränkt sie sich im Wesentlichen darauf zu verweisen, dass nach Erkenntnissen ihres Liaisonmitarbeiters beim Ungarischen Amt für Staatsbürgerschaft und Einwanderungen in Budapest Ungarn in Folge des UNHCR Berichts vom April 2012 beabsichtige, seine gesetzlichen Regelungen zu ändern und im Vorgriff hierauf bereits seine Praxis bei Dublin-Rückkehrern seit Mitte Juni 2012 umgestellt habe. Nachprüfbare und belastbare Quellen, die dies bestätigen, benennt die Antragsgegnerin hingegen nicht. Dieser hätte es aber umso mehr bedurft, als der UNHCR ausweislich seiner aktuellen Note vom Oktober 2012 seine Kritik an den Mängeln im ungarischen Asylsystem nochmals ausdrücklich bekräftigt hat. [...]