VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Beschluss vom 14.08.2012 - A 7 K 2589/12 - asyl.net: M20164
https://www.asyl.net/rsdb/M20164
Leitsatz:

Im Hinblick auf die Entscheidung des EuGH vom 21.12.2011 (C-411/10 und 493/10) ist derzeit ernsthaft zu befürchten, dass Asylbewerber aufgrund systemischer Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in Ungarn bei einer Rückführung Gefahr laufen, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu werden.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: systemische Mängel des Asylverfahrens, systemische Mängel, Aufnahmebedingungen, unmenschliche Behandlung, erniedrigende Behandlung, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Rückführung, Ungarn, Dublin II-VO, Dublinverfahren, Selbsteintritt,
Normen: AsylVfG § 34a Abs. 2, GR-Charta Art. 4, VO 343/2003 Art. 3 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

Die Bundesrepublik Deutschland hat allerdings dann Schutz zu gewähren, wenn Abschiebungsverbote nach § 60 AufenthG durch Umstände begründet werden, die ihrer Eigenart nach nicht vorweg im Rahmen des "Konzepts normativer Vergewisserung" durch Gesetz berücksichtigt werden können. Ausnahmen sind nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts u.a. dann geboten, wenn der Drittstaat gegenüber dem Schutzsuchenden selbst zu Maßnahmen politischer Verfolgung oder unmenschlicher Behandlung greift und dadurch zum Verfolgerstaat wird, und wenn offen zu Tage tritt, dass der Drittstaat sich von seinen Schutzverpflichtungen lösen und einem bestimmten Ausländer den Schutz dadurch verweigern wird, dass er sich seiner ohne jede Prüfung des Schutzgesuchs entledigen wird.

Den vom Bundesverfassungsgericht angeführten Sonderfällen liegt die Zielsetzung zugrunde, dem Asylsuchenden den gebotenen Schutz nicht durch die Rückführung in den Drittstaat zu versagen. Ob dies auf einzelfallbezogenen Erwägungen beruht oder auf den allgemeinen Bedingungen in dem jeweiligen Staat, ist insoweit nicht von maßgeblicher Bedeutung. Mit Blick auf die Schutzbedürftigkeit des Betroffenen ist vorläufiger Rechtsschutz auf der Grundlage einer verfassungskonformen Auslegung des § 34a Abs. 2 AsylVfG dann möglich, wenn hinreichende Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der nach Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG in dem Drittstaat europarechtlich zu gewährleistende Schutz tatsächlich nicht zumindest im Kern sichergestellt ist. Ob dies tatsächlich der Fall ist und welche Folgen dies für das Asylbegehren des Betroffenen in Deutschland hat, gilt es im Hauptsacheverfahren zu klären.

Ungarn ist als Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft gemäß § 26 a Abs. 2 AsylVfG ein sicherer Drittstaat und Art 16 a Abs. 2 GG geht grundsätzlich davon aus, dass als Mitgliedstaaten der Europäischen Union die von ihnen eingegangenen Verpflichtungen nach der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention erfüllen. Angesichts der aktuellen Auskunftslage bestehen aber Anhaltspunkte dafür, dass dies beim Aufnahmestaat Ungarn nicht zutrifft (vgl. VG Sigmaringen, B.v. 29.6.2012 - A 2 K 1958/12 -, www.asyl.net; VG Magdeburg, B.v. 20.5.2012 - 5 B 1236/12 MD -, www.fluechtlingsrat-Isa.de/?= Ungarn; VG Trier, U.v.30.5.2012 - 5 K 967/11.TR -, juris). Es ist deshalb eine verfassungskonforme einschränkende Auslegung des § 34 a Abs. 2 AsylVfG geboten.

Dies entspricht auch der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (U.v. 21.12.2011 - C-411/10 und C-492/10 -, juris, Rn. 80, 86). Danach gilt zunächst die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention steht. Ist dagegen ernsthaft zu befürchten, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesem Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber i.S. von Art. 4 der Grundrechtscharta implizieren, so wäre die Rücküberstellung von Asylbewerbern mit dieser Bestimmung unvereinbar.

Nach den vorliegenden Erkenntnissen (UNHCR vom April 2012, Ungarn als Asylland, Bericht zur Situation für Asylsuchende und Flüchtlinge in Ungarn; UNHCR-Büro Wien vom 3.2.2012, Stellungnahme an den Asylgerichtshof zur Situation von Asylsuchenden in Ungarn; Pro Asyl vom März 2012, Ungarn: Flüchtlinge zwischen Haft und Obdachlosigkeit, Bericht einer einjährigen Recherche bis Februar 2012; Ungarisches Helsinki-Komitee vom Dezember 2011, Zugang zu Schutz in Gefahr, Bericht über die Behandlung von Dublin-Rückkehrern in Ungarn; Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan van Aken, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE - vom 2.3.2012, BT-Drs. 17/8836) liegt in Bezug auf Ungarn mindestens ein schwerwiegender systemischer Mangel bezüglich der Durchführung des Asylverfahrens vor. Aus den genannten Auskünften ergibt sich, dass Asylsuchende, die aufgrund der Dublin-II-Verordnung rücküberstellt werden, für die ungarischen Behörden nicht automatisch als Asylsuchende gelten. Sie müssen nach ihrer Überstellung nach Ungarn erneut Asyl beantragen, auch wenn sie zuvor in einem anderen europäischen Staat um Schutz nachgesucht haben (UNHCR vom April 2012, a.a.O.). Auch Asylbewerber, die zuvor in Ungarn einen Asylantrag gestellt haben, können ihr unterbrochenes Asylverfahren nicht fortsetzen (Pro Asyl vom Februar 2012, a.a.O.). Diese Anträge werden als Folgeanträge angesehen. Folgeanträge, bei denen kein neuer Sachvortrag vorliegt, werden bereits in der ersten Stufe der Prüfung im Asylverfahren abgelehnt mit der Folge, dass der Asylantrag inhaltlich nicht geprüft wird. Das Asylverfahren in Ungarn gliedert sich in zwei Verfahrensschritte. Im sog. Vorverfahren, das auch eine erste Anhörung beinhaltet, wird nach einer ersten Anhörung geprüft, ob der Asylantrag unzulässig, offensichtlich unbegründet oder aber aufgrund der Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats nach der Dublin-II-Verordnung eingestellt wird. In der zweiten Stufe des Verfahrens erfolgt eine zweite detaillierte ausführlichere Anhörung durch die Asylbehörde, der dann eine Entscheidung folgt. Das bedeutet jedoch für diejenigen Asylbewerber, die bislang kein Verfahren in Ungarn durchgeführt haben oder deren Verfahren mangels Mitwirkung, da sie z.B. weitergereist sind, eingestellt wurde, dass ihr Asylbegehren nicht inhaltlich geprüft wird. Dies widerspricht jedoch Art. 16 Abs. 1 a) und b) der Dublin II-Verordnung. Danach ist der für das Asylverfahren zuständige Mitgliedstaat nicht nur verpflichtet, Asylsuchende zurückzunehmen, sondern auch gehalten, die Prüfung des Asylantrags abzuschließen. Dies ist jedoch nach dem vorstehenden nicht gewährleistet. Zudem ist der antragstellenden Person der Verbleib im Land bis zu einer Entscheidung der zuständigen Behörde über ihren Antrag zu gestatten (Art. 7 der Asylverfahrensrichtlinie - RL 2005/85/EG) und sicherzustellen, dass sie ein Dokument erhält, das ihren Statur als asylsuchend bestätigt oder aus dem hervorgeht, dass sie zum Verbleib im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats berechtigt ist, solange ihr Asylverfahren anhängig ist bzw. ihr Antrag geprüft wird (Art. 6 Abs. 1 der Aufnahmerichtlinie - RL 2003/9/EG). Auch hier liegen Mängel vor.

Hinzu kommt, dass in den meisten Fällen Rückkehrer nach der Dublin-II-Verordnung inhaftiert werden. Denn es handelt sich häufig um Personen, die bereits in Ungarn erfolglos einen Asylantrag gestellt oder die sich illegal in Ungarn aufgehalten haben. Für beide Personenkreise gilt in der Regel, dass vollziehbare Ausreiseaufforderungen vorliegen. Dies bedeutet für den Fall von Überstellungen, dass die für den Vollzug der Ausweisung zuständigen Institutionen verpflichtet sind, zur Sicherstellung der Ausweisung Haft anzuordnen (Antwort der Bundesregierung vom 2.3.2012, a.a.O.). Hieran ändert sich auch nichts, wenn der rücküberstellte Asylbewerber aus der Haft einen Folgeantrag stellt. Dieser wird, wie oben gezeigt, als Folgeantrag gewertet. Die Stellung eines Folgeantrags hat jedoch keine aufschiebende Wirkung, selbst wenn dieser beachtlich sein sollte. Daher spricht viel dafür, dass Ungarn jedenfalls teilweise auch Art. 18 der Richtlinie 2005/85/EG nicht beachtet, wonach Mitgliedstaaten eine Person nicht allein deshalb in Gewahrsam nehmen dürfen, weil sie ein Asylbewerber ist.

Darüber hinaus dürfte die Behandlung der Asylbewerber in Haft weder im Einklang mit den vom EGMR in der Rechtssache S. gegen Vereinigtes Königreich (U.v. 29.1.2008 - 13229/03 -, juris) formulierten Standards noch mit dem Erwägungsgrund 9 der EU-Rückführungsrichtlinie (Richtlinie 2008/115/EG) stehen, da sie der von mutmaßlichen Straftätern gleichkommt. Ausweislich des Berichts des UNHCR vom April 2012 wird in dauerhaft bestehenden Hafteinrichtungen ein strenges Gefängnisregime angewendet, selbst wenn die Insassen nur die kleineren Vergehen der irregulären Einreise oder des irregulären Aufenthalts begangen haben. Asylbewerber werden bei der Vorführung vor Gericht oder bei Erledigungen außerhalb der Einrichtungen - etwa zur Bank oder zum Postamt - mit Handschellen gefesselt. Zudem werden sie an Leinen geführt, die normalerweise für Angeklagte in Strafverfahren verwendet werden. Der EGMR hat indessen in seiner Entscheidung unter anderem ausgeführt, dass Haftort und Haftbedingungen angemessen und von der Überlegung geleitet sein sollten, dass die Maßnahme nicht auf Straftäter sondern auf Ausländer angewendet wird, die oft aus Angst um ihr Leben aus ihrem eigenen Land geflüchtet sind. Nach dem Erwägungsgrund 9 der Rückführungsrichtlinie sollten Drittstaatsangehörige, die in einem Mitgliedstaat Asyl beantragt haben, so lange nicht als illegal im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats aufhältige Person gelten, bis eine abschlägige Entscheidung über den Antrag oder eine Entscheidung, mit der sein Aufenthaltsrecht als Asylbewerber beendet wird, bestandskräftig geworden ist.

Des Weiteren haben UNHCR (Bericht vom April 2012) und Pro Asyl (Bericht vom März 2012) die Aufnahmebedingungen für Asylsuchende in Ungarn als nicht dem internationalen und EU-Standard entsprechend kritisiert.

Nach dieser Sachlage würde dem Antragsteller bei einer Rücküberstellung nach Ungarn mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Inhaftierung drohen und es besteht die konkrete Gefahr, dass sein Asylbegehren aufgrund der aufgezeigten Verfahrensweise inhaltlich nicht geprüft wird und er in seinen Heimatstaat bzw. in ein anderes zur Aufnahme bereites Land abgeschoben wird. Daher bestehen hier hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass der nach Art. 16 a Abs. 2 Satz 1 GG in einem Drittstaat europarechtlich zu gewährleistende Schutz tatsächlich nicht zumindest im Kern sichergestellt ist, so dass vorliegend die Ausschlusswirkung des § 34 a Abs. 2 AsylVfG nach verfassungskonformer Auslegung nicht greift. [...]