VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 19.12.2012 - 11 S 2303/12 - asyl.net: M20287
https://www.asyl.net/rsdb/M20287
Leitsatz:

1. Die Abschiebungsandrohung nach § 34 AsylVfG ist eine Rückkehrentscheidung im Sinne von Art. 3 Nr. 4 der Rückführungsrichtlinie.

2. Die Vorgaben der Rückführungsrichtlinie sind für eine vorgesehene Abschiebung eines abgelehnten Asylbewerbers auch dann zu beachten, wenn die Abschiebungsandrohung nach § 34 AsylVfG vor Ablauf der Umsetzungsfrist der Rückführungsrichtlinie am 24.12.2010 ergangenen oder sogar bestandskräftig geworden ist (im Anschluss an EuGH, Urteile vom 28.04.2011 - C-61/11 - El Dridi - Rn. 18 ff. und vom 30.11.2009 - C-357/09 - Kadzoev - Rn. 34 ff.).

3. § 11 Abs. 1 AufenthG ist unionsrechtskonform dahingehend anzuwenden, dass spätestens im Zuge der Abschiebung von Amts wegen eine individuelle behördliche Entscheidung unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls ergehen muss, wie lange die Wirkungen des § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG gelten. Diese Entscheidung muss dem Ausländer so rechtzeitig bekannt gegeben werden, dass er die von Art. 13 RFRL eingeräumten Rechtsbehelfe noch vom Bundesgebiet aus organisieren bzw. einlegen kann; ein Recht, noch weiterhin während des Rechtsschutzverfahrens im Bundesgebiet verbleiben zu können, besteht in der Regel nicht (Fortführung der Senatsrechtsprechung, vgl. Beschluss vom 09.11.2012 - 11 S 2200/12 - juris).

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Abschiebungsandrohung, Rückkehrentscheidung, Rückkehrrichtlinie, Abschiebung, Sperrwirkung, Einreiseverbot, Befristung,
Normen: RL 2008/115/EG Art. 3, RL 2008/115/EG Art. 11, RL 2008/115/EG Art. 13, AsylVfG § 34, AsylVfG § 67, AufenthG § 11 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

1. Der Senat hat bereits mehrfach entschieden, dass nach nationalem Recht die Abschiebungsandrohung gemäß § 59 AufenthG die Rückkehrentscheidung im Sinne des Art. 3 Nr. 4 Richtlinie 2008/115/EG vom 16.12.2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348 vom 24.12.2008, S. 98) - RFRL - ist und nicht etwa die Ausweisung oder ein sonstiger die Legalität des Aufenthalts beendender Verwaltungsakt (vgl. im Einzelnen Urteile vom 10.02.2012 - 11 S 1361/11 - NVwZ-RR 2012, 492 und vom 07.12.2011 - 11 S 897/11 - NVwZ-RR 2012, 412; das Bundesverwaltungsgericht hat in seinen Urteilen vom 04.10.2012 - 1 C 12.11 - juris Rn. 18 und vom 07.10.2012 - 1 C 19.11 - juris Rn 45 diese Frage offen gelassen). Davon ist im Übrigen auch der Gesetzgeber ausgegangen (vgl. BT-Drucks 17/5470, S. 24). Auch die im Asylverfahren des Antragstellers erlassene Abschiebungsandrohung nach § 34 AsylVfG erfüllt die Merkmale einer Rückkehrentscheidung. Dass die Abschiebungsandrohung mit der Entscheidung über den Asylantrag verbunden ist (vgl. § 34 Abs. 2 AsylVfG), die erst mit deren Bestandskraft nach § 67 Abs. 1 Nr. 6 AsylVfG die Illegalität des Aufenthalts herbeiführt, beruht auf Art. 6 Abs. 6 RFRL. Das Unionsrecht ermächtigt mit dieser Regelung die Mitgliedstaaten ausdrücklich, die Rückkehrentscheidung mit dem die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts beendenden Verwaltungsakt zu verbindenden, weshalb hierdurch aber die die Legalität beseitigende Verfügung selbst nicht zur Rückkehrentscheidung wird. Eine Sonderstellung nehmen die Fälle des § 67 Abs. 1 Nr. 4, 5 und 5a AsylVfG ein, in denen die Abschiebungsandrohung oder die diese ersetzende Abschiebungsanordnung die Legalität des Aufenthalts beendet. Dieses steht in Einklang mit Unionsrecht (vgl. Art. 6 Abs. 6 RFRL). Dass hier der die Legalität des Aufenthalts beendende Verwaltungsakt gleichzeitig die Rückkehrentscheidung darstellt, zwingt nicht zu der Annahme, dass die nach dem Aufenthaltsgesetz vorgesehenen, die Legalität des Aufenthalts beendende Verwaltungsakte ihrerseits als Rückkehrentscheidungen zu qualifizieren wären. Dies liegt darin begründet, dass hier - insoweit anders als in den Fällen des § 67 Abs. 1 Nr. 4, 5 und 5a AsylVfG - gesetzessystematisch noch der Erlass einer Abschiebungsandrohung vorgeschrieben ist, die Rückführungsrichtlinie aber nicht den gleichzeitigen oder sukzessiven Erlass zweier Rückkehrentscheidungen vorsieht und zulässt, was aber der Fall wäre, wenn man die nach dem Aufenthaltsgesetz ergehende, die Legalität beendenden Verwaltungsakte als Rückkehrentscheidungen ansähe.

2. Es trifft nicht zu, dass bereits die Rückkehrentscheidung zu befristen ist. Dem Antragsteller ist mit Bescheid des Bundesamts vom 30.09.2003 die Abschiebung in die Türkei angedroht und eine Ausreisefrist von einem Monat ab Bestandskraft der Verfügung eingeräumt worden. Die Abschiebungsandrohung löst nach den Regelungen des Aufenthaltsgesetzes keine Sperrwirkungen nach § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG bzw. kein Einreiseverbot im Sinne des Art. 11 Abs. 1 UA 1 RFRL aus. Im Zeitpunkt ihres Erlasses besteht kein Bedürfnis für eine Festsetzung der zeitlichen Dauer eines solchen Verbots (vgl. auch BVerwG, Urteil vom 04.10.2012 - 1 C 12.11 - juris Rn. 18), denn reist der Ausländer nach einer Abschiebungsandrohung freiwillig aus, entsteht keine Sperrwirkung. Zwar lässt das Unionsrechts ein Einreiseverbot nach Art. 11 Abs. 1 UA 2 RFRL sogar auch dann zu, wenn eine freiwillige Ausreise erfolgt. Das deutsche Recht hat jedoch von der Ermächtigung keinen Gebrauch gemacht.

Die Rückführungsrichtlinie unterscheidet ihrerseits ausdrücklich zwischen der Rückkehrentscheidung (vgl. Art. 6 Abs. 1 RFRL) und dem mit ihr nur "einhergehenden" Einreiseverbot (vgl. Art. 11 Abs. 1 UA 1 RFRL). Nur dieses ist einer Befristung zugänglich, wie sich unmissverständlich aus Art. 11 Abs. 2 RFRL ergibt und auch sachlich darin begründet ist, dass in der vorliegenden Konstellation zum Zeitpunkt des Erlasses der Rückkehrentscheidung nicht notwendigerweise auch feststeht, dass überhaupt ein Einreiseverbot entstehen wird (vgl. Art. 11 Abs. 1 UA 1 lit. b RFRL).

3. Das Einreiseverbot entsteht nach nationalem Recht erst - dann aber unmittelbar kraft Gesetzes und aus sich heraus unbefristet - durch die Abschiebung. Der Rückführungsrichtlinie liegt demgegenüber ein anderes Konzept zugrunde. Das Einreiseverbot nach der Richtlinie knüpft an eine Rückkehrentscheidung an und setzt ausdrücklich eine behördliche oder richterliche Einzelfallentscheidung voraus, mit der die Einreise und der Aufenthalt im Mitgliedstaat für einen bestimmten Zeitraum untersagt werden; das Einreiseverbot muss durch diese Entscheidung von vornherein und darf nicht erstmals erst nachträglich befristet werden (Art. 3 Nr. 6, Art. 11 Abs. 2 und Art. 12 Abs. 1 RFRL). Nach der Rechtsprechung des Senats (vgl. Urteil vom 10.02.2012 - 11 S 1361/11 - NVwZ-RR 2012, 492; Beschluss vom 09.11.2012 - 11 S 2200/12 - juris) ist § 11 Abs. 1 AufenthG unionsrechtskonform dahingehend anzuwenden, dass spätestens im Zuge der zwangsweisen Aufenthaltsbeendigung von Amts wegen eine individuelle Entscheidung unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls ergeht, wie lange die Wirkungen des § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG gelten sollen. Diese Befristungsentscheidung muss spätestens in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang mit der Anordnung der Abschiebung ergehen und dem Betroffenen so rechtzeitig bekannt gegeben werden, dass er noch im Bundesgebiet von den ihm durch Art. 13 RFRL eingeräumten Rechtsbehelfen effektiv Gebrauch machen kann. Nur bei einer derartigen Betrachtungsweise kann noch annähernd dem unionsrechtlichen Erfordernis einer einzelfallbezogenen behördlichen oder gerichtlichen Entscheidung über das Einreiseverbot und dessen Befristung Rechnung getragen werden.

Soweit der Antragsgegner der Auffassung ist, aus dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 10.07.2012 (1 C 19.11 - juris) ergebe sich, dass eine fehlende Befristung der Wirkungen der Abschiebung nicht zu deren Rechtswidrigkeit führen könne, verkennt er, dass die Ausführungen in diesem Urteil sich ausschließlich mit dem Verhältnis von Ausweisung und Befristung ihrer Wirkungen nach nationalem Recht befassen. Entsprechendes gilt auch für die in der Beschwerdeerwiderung zitierten Beschlüsse des VG Freiburg vom 04.10.2012 (1 K 1121/12) und des VGH Baden-Württemberg vom 14.11.2012 (12 S 2092/12).

Dem Anspruch des Antragstellers auf vorherige Befristung der Sperrwirkungen einer Abschiebung gemäß den Vorgaben der Rückführungsrichtlinie steht nicht der Umstand entgegen, dass die Abschiebungsandrohung schon vor Inkrafttreten der Rückführungsrichtlinie erlassen und sogar bestandskräftig geworden ist. Das Bundesverwaltungsgericht hat - anders als der Senat (vgl. Urteile vom 16.05.2012 - 11 S 2328/11 - juris Rn. 147 und vom 16.04.2012 - 1 C 4/12 - juris Rn. 49 ff.) - die Frage der Geltung der Rückführungsrichtlinie für Abschiebungsandrohungen, die vor Ablauf der Umsetzungsfrist für die Richtlinie am 24.12.2010 erlassen worden sind, zunächst verneint (Urteile vom 14.02.2012 - 1 C.11 - InfAuslR 2012, 255 Rn. 35 und vom 22.03.2012 - 1 C 3.11 - juris Rn. 15), zuletzt jedoch offen gelassenen (Urteile vom 10.07.2012 - 1 C 19.11 - juris Rn. 45 - m.w.N. und vom 04.10.2012 - 1 C 12.11 - juris Rn. 18). Im vorliegenden Fall geht es jedoch nicht um die Rechtmäßigkeit einer Behördenentscheidung, die vor Erlass der Rückführungsrichtlinie oder jedenfalls vor Ablauf ihrer Umsetzungsfrist getroffen worden ist, sondern um die Wirkungen eines erst künftig eintretenden Einreiseverbots, mithin um einen aktuellen Sachverhalt. Der Antragsteller ist zum heutigen Zeitpunkt ein illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger im Sinne der Richtlinie (Art. 3 Nr. 2 RFRL). Die Abschiebungsandrohung wird erst jetzt durch die Abschiebung, die nach nationalem Recht allein zum Einreiseverbot führt, vollzogen. Diesen Akt und die damit verbundenen Maßnahmen aus der Geltung der Rückführungsrichtlinie herauszunehmen, widerspräche ihrer Intention (vgl. zu den Zwecken die Erwägungsgründe sowie Senatsurteil vom 16.04.2012 - 11 S 4/12 - juris; Schieffer, in: Hailbronner, EU Immigration and Asylum Law, 2010 - Directive 2008/115/EG - Art. 1 Rn. 6 ff.). Auch der Europäische Gerichtshof geht davon aus, dass bei einer "Rückkehrentscheidung", die noch vor Erlass der Rückführungsrichtlinie ergangen ist, alle weiteren nach der Umsetzung bzw. nach Ablauf der Umsetzungsfrist vorzunehmenden Verfahrensschritte der Richtlinie unterliegen (EuGH, Urteile vom 28.04.2011 - C-61/11 - El Dridi - Rn. 18 ff. und vom 30.11.2009 - C-357/09 - Kadzoev - Rn. 34 ff.).

Eine Befristung der Sperrwirkungen der vorgesehenen Abschiebung ist jedoch mittlerweile durch die Stadt Stuttgart unter Inanspruchnahme der Zuständigkeit nach § 9 Abs. 2 Satz 1 AAZuVO mit Verfügung vom 11.12.2012 erfolgt. Einwendungen gegen diesen Bescheid sind im Beschwerdeverfahren nicht erhoben worden. Im Übrigen ergibt sich weder aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG noch aus Art. 13 Abs. 1 und 2 RFRL ein vorbehaltloses Recht auf vorläufigen Aufenthalt zur Durchführung eines Rechtsbehelfsverfahrens in Bezug auf die Entscheidung über die Befristung des Einreiseverbots (vgl. Senatsbeschluss vom 09.11.2012 - 11 S 2200/12 - juris). Es bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass mit Blick auf die persönlichen Belange des Antragstellers ausnahmsweise etwas anderes gelten müsste, zumal er anwaltlich vertreten ist und im Bundesgebiet jedenfalls eine erwachsene Tochter lebt, die über eine Niederlassungserlaubnis verfügt, und mit der er Kontakt hält (vgl. hierzu auch Bl. 5 der Verfügung der Stadt Stuttgart vom 20.09.2012, mit dem sein Antrag auf Erteilung einer humanitären Aufenthaltserlaubnis abgelehnt worden ist). [...]