OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 30.11.2012 - 19 E 1259/11 - asyl.net: M20306
https://www.asyl.net/rsdb/M20306
Leitsatz:

Das "Übersteigen" der regulären Sprachanforderungen im Sinne des § 10 Abs. 3 Satz 2 StAG ist bei einem Einbürgerungsbewerber, der das 16. Lebensjahr vollendet hat, an dem für Erwachsene geltenden Maßstab des § 10 Abs. 4 Satz 1 StAG zu messen.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Einbürgerung, Sprachkenntnisse, Deutschkenntnisse, Integrationsleistung,
Normen: StAG § 10 Abs. 3 S. 2, StAG § 10 Abs. 4 S. 1,
Auszüge:

[...]

Die Einbürgerungsklage bietet auch hinreichende Erfolgsaussicht. Weder die Beklagte noch das Verwaltungsgericht haben bislang geprüft, ob die nach § 10 Abs. 1 Satz 1 StAG erforderliche Mindestaufenthaltsdauer von acht Jahren nach § 10 Abs. 3 Satz 2 StAG auf sechs Jahre verkürzt werden kann. In diesem Fall erfüllten die Kläger diese Einbürgerungsvoraussetzung nicht erst am 21. August 2014, sondern schon heute. Ihre bislang nachgewiesenen schulischen Leistungen legen die Annahme nahe, dass sie im Sinne dieser Vorschrift Sprachkenntnisse besitzen, die die Voraussetzungen des Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 übersteigen.

Dieses "Übersteigen" ist im Fall der Kläger an dem für Erwachsene geltenden Maßstab des § 10 Abs. 4 Satz 1 StAG zu messen. Der für minderjährige Kinder bis zum Erreichen des 16. Lebensjahres geltende herabgesetzte Maßstab einer altersgemäßen Sprachentwicklung nach Satz 2 gilt für sie nicht mehr. Die Klägerin zu 2. hat am 29. Juli 2010 ihr 16. Lebensjahr vollendet, der Kläger zu 1. am 23. März 2012. Nach § 10 Abs. 4 Satz 1 StAG liegen die Voraussetzungen des Absatzes 1 Satz 1 Nr. 6 vor, wenn der Ausländer die Anforderungen der Sprachprüfung zum Zertifikat Deutsch (B1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen, GERR) in mündlicher und schriftlicher Form erfüllt.

Das "Übersteigen" im Sinne des § 10 Abs. 3 Satz 2 StAG setzt danach im Fall der Kläger voraus, dass sie die Stufe B2 des GERR in mündlicher und schriftlicher Form erfüllen. Für deren Nachweis reichen neben entsprechenden Sprachzertifikaten auch Schulabschlüsse aus, die ohne vergleichbar qualifizierte Kenntnisse auch der deutschen Schriftsprache nicht erworben werden können. Dazu gehört unter anderem die Versetzung in die 10. Klasse einer weiterführenden deutschsprachigen Schule (Berlit, in: GK-StAR, Stand: Juli 2012, IV-2 § 10 StAG, Rdn. 400).

Nach den bislang zu den Akten gereichten Zeugnissen besuchte die Klägerin zu 2. im Schuljahr 2008/2009 die Klasse 8 des Städtischen ...-Gymnasiums S. und erzielte bei auch sonst überdurchschnittlichen Leistungen in den anderen Schulfächern in Deutsch die Note "gut". Bei regulärem weiteren Verlauf ihrer Schullaufbahn müsste sie inzwischen die Klasse 12 erreicht haben. Für den Kläger zu 1. gilt im Ergebnis Entsprechendes, er war im genannten Schuljahr in der Klasse 7 desselben Gymnasiums.

Liegt danach nahe, dass die Kläger die Voraussetzungen des § 10 Abs. 3 Satz 2 StAG erfüllen, hat die Beklagte das ihr durch diese Vorschrift eingeräumte Verkürzungsermessen bislang nicht ausgeübt. Für dessen Ausübung gibt der Senat folgende Hinweise:

Die Ausübung des Verkürzungsermessens nach § 10 Abs. 3 Satz 2 StAG durch die Einbürgerungsbehörde hat sich an dem Zweck dieser Vorschrift zu orientieren, einen positiven einbürgerungsrechtlichen Anreiz für Integrationsbemühungen zu setzen (Berlit, a.a.O., Rdn. 389; vgl. auch OVG NRW, Beschluss vom 12. April 2011 19 E 322/10 , S. 6 f. des Beschlussabdrucks zur Verkürzungsmöglichkeit nach Satz 3 der ergänzenden Anmerkung zu Nr. 8.1.2.3 Sätze 1 bis 3 VAH).

Solche Integrationsbemühungen können in einem überobligatorischen Spracherwerb ebenso liegen wie in guten sonstigen schulischen Leistungen und einem verantwortungsbewussten Sozialverhalten. Unter diesen Gesichtspunkten wird die Beklagte sämtliche Aussagen in den bereits vorliegenden Zeugnissen der Kläger erneut zu würdigen haben (auch die Noten zum Arbeits- und Sozialverhalten, "erfolgreich als Streitschlichter gearbeitet"). Ihre Wertung im Anhörungsschreiben vom 26. April 2010, der Inlandsaufenthalt der Kläger bis 2004 sei "nicht integrationsfördernd" gewesen, erscheint damit kaum vereinbar und findet in den Akten auch sonst keine Grundlage.

Sie beruht zudem auf der unzutreffenden vorprozessualen Auffassung der Beklagten, der Sommerurlaub in Marokko, den die beiden damals 8- und 10-jährigen Kläger mit ihrer Mutter am 6. August 2004 angetreten haben, habe zu einer Unterbrechung ihres gewöhnlichen Inlandsaufenthalts im Sinne des § 10 Abs. 1 Satz 1 StAG geführt. Die Kläger haben seit ihrer Geburt 1994 und 1996 in S. ununterbrochen dort ihren Lebensmittelpunkt. Nach § 12b Abs. 1 Satz 1 StAG wird der gewöhnliche Aufenthalt im Inland durch Aufenthalte bis zu sechs Monaten im Ausland nicht unterbrochen. Die Beklagte behauptet nicht, dass der Urlaubsaufenthalt der Kläger in Marokko diese Frist überschritt.

Hierfür besteht auch kein Anhaltspunkt, zumal die Kläger auch damals schon in Nordrhein-Westfalen schulpflichtig waren und der Unterricht nach den Sommerferien 2004 am 6. September 2004 wieder begann. Erst recht fehlen jegliche Anhaltspunkte für die Annahme, die Kläger hätten mit der Ausreise ihren Lebensmittelpunkt nach Marokko verlegen wollen. Im Gegenteil bestätigt sogar die Beklagte in tatsächlicher Hinsicht, dass sich die Kläger "lediglich zu Besuchszwecken ohne vorherige Abmeldung und ohne den erkennbaren Willen, in Marokko einen neuen Lebensmittelpunkt zu begründen, dort aufgehalten" haben (S. 3 der Klageerwiderung). Lediglich in rechtlicher Hinsicht vertrat die Beklagte vorprozessual die Auffassung, die Ausreise habe zu einer Unterbrechung des gewöhnlichen Inlandsaufenthalts der Kläger geführt, weil sie ohne entsprechenden Aufenthaltstitel ausgereist seien (anders in der Klageerwiderung: "da der gewöhnliche Aufenthalt nicht unterbrochen wurde").

Auch diese frühere Rechtsauffassung der Beklagten war unzutreffend. Der Titelbesitz betrifft die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts, nicht dessen Gewöhnlichkeit. Folgerichtig ist hierfür auch unerheblich, ob die Kläger für ihre Wiedereinreise ein Visum zum Familiennachzug benötigten. Ebenso wenig stellt sich entgegen der Auffassung der Beklagten im Fall der Kläger die Frage einer Ermessensanrechnung von Voraufenthaltszeiten nach § 12b Abs. 2 StAG. [...]