VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 12.11.2012 - 11 K 3014/12 - asyl.net: M20355
https://www.asyl.net/rsdb/M20355
Leitsatz:

1. Die Einbürgerung eines Ausländers, der sich die Identität einer anderen, real existierenden Person (hier: mit anderer Nationalität) angeeignet hat, leidet an einem offenkundigen und besonders schwerwiegenden Fehler und ist deshalb nichtig (§ 44 I LVwVfG).

2. § 44 I LVwVfG ist auf Einbürgerungen anwendbar und insbesondere nicht durch § 35 StAG ausgeschlossen.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Einbürgerung, deutsche Staatsangehörigkeit, Staatsangehörigkeit, Identitätsfeststellung, Täuschung über Identität, offene Identitätsfragen,
Normen: LVwVfG § 44 Abs. 1, StAG § 35,
Auszüge:

[...]

Die Frage, ob die Einbürgerung überhaupt wirksam bekanntgegeben worden ist, kann jedoch letztlich dahinstehen, weil die Einbürgerung des Klägers, wovon die Beklagte zutreffend ausgegangen ist, jedenfalls gemäß § 44 Abs. 1 LVwVfG nichtig war.

Die Anwendung von § 44 Abs. 1 LVwVfG ist vorliegend - entgegen des Kalküls des Klägers und seines Prozessbevollmächtigten - nicht durch § 35 StAG ausgeschlossen. § 35 StAG stellt eine spezielle Rücknahmeermächtigung gegenüber § 48 Abs. 1 und 3 LVwVfG dar (vgl. zur Entstehung die amtliche Begründung in BT-DrS 16/10528 S. 7 zu § 35; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 03.06.2003, - 1 C 19/02 -, <Juris>). Beiden Vorschriften ist gemeinsam, dass der zurückzunehmende Verwaltungsakt überhaupt wirksam geworden ist. Handelt es sich dagegen um eine Einbürgerung, die schon von vornherein nichtig ist, so steht deren Anwendung § 35 StAG nicht im Wege. Dabei kommt für die Frage der Nichtigkeit einer Einbürgerung - neben dem vorliegend nicht einschlägigen § 44 Abs. 2 Nr. 2 LVwVfG - mangels einer speziellen staatsangehörigkeitsrechtlichen Regelung nur § 44 Abs. 1 LVwVfG in Betracht.

Auch aus dem Umstand, dass § 35 Abs. 3 StAG eine absolute 5-jährige Ausschlussfrist für die Rücknahme vorsieht, ergibt sich nichts anderes. Diese Regelung, die systemverwandt eine Parallele in der (relativen) einjährigen Ausschlussfrist nach § 48 Abs. 4 LVwVfG findet, setzt ebenfalls die grundsätzliche Wirksamkeit der Einbürgerung voraus. Folgerichtig ist auch das BVerfG in der Entscheidung, die Anlass für die Neuregelung des § 35 StAG gegeben hatte, von der Abgrenzung von rechtswidrigen zu nichtigen Einbürgerungen ausgegangen, ohne letztere auszuschließen (BVerfG, Urteil vom 24.05.2006, - 2 BvR 339/04 -, <Juris>; vgl. auch Marx, aaO., Rz. 22).

Nach dem somit grundsätzlich anwendbaren § 44 Abs. 1 LVwVfG ist ein Verwaltungsakt nichtig, soweit er an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet und dies bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offensichtlich ist.

Fehlerhaft ist ein Verwaltungsakt dann, wenn er rechtswidrig ist, also gegen formelles oder materielles Recht verstößt. Das ist vorliegend der Fall. Denn die mit der Einbürgerung festgestellte Identität der einzubürgernden Person trifft nicht auf den Kläger zu, dessen Identität damit völlig ungesichert ist. Zudem hat die Einbürgerung des Klägers mit den von ihm angegebenen Personalien und der behaupteten bzw. der womöglich wahren Staatsangehörigkeit in verschiedener Hinsicht gegen die Vorschriften über die Einbürgerung verstoßen und insbesondere der Einbürgerungsbehörde die Möglichkeit genommen, weitergehende Prüfungen, die zwingender Bestandteil des Einbürgerungsverfahrens sind, anzustellen.

Bei der Frage nach den rechtlichen Voraussetzungen für die vom Kläger seinerzeit betriebene Anspruchs-Einbürgerung ist dabei von den einbürgerungsrechtlichen Vorschriften der §§ 85 ff. des Ausländergesetzes in der bis zur Eingliederung dieser Vorschriften in das StAG (im Rahmen des sog. Zuwanderungsgesetzes vom 30.07.2004) gültigen Fassung (zuletzt geändert durch Gesetz vom 09.01.2002, BGBl. I S. 361) auszugehen, welches zwar im einzelnen abweichende, jedoch grundsätzlich strukturell vergleichbare Voraussetzungen für die Anspruchseinbürgerung (vgl. § 85 Abs. 1 AuslG), die Berücksichtigung von Ausschlussgründen (vgl. § 86 AuslG), die Vermeidung von Mehrstaatigkeit (vgl. § 87 AuslG) und die Berücksichtigung von Straftaten (§ 88) vorsah, wie dies auch im seither geltenden Recht nach §§ 10 bis 12b StAG grundsätzlich der Fall ist. Das Gericht hält deshalb die Anforderungen, wie sie das BVerwG nunmehr mit Urteil vom 01.09.2011 (- 5 C 27/10 -, <Juris>) schon im Hinblick auf die Notwendigkeit der Identitätsklärung auf der Grundlage des StAG 2005 erkannt hat, insoweit auf die seinerzeitige Rechtslage ohne weiteres übertragbar.

Danach ist zwingendes, wenn auch ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal einer sog. Anspruchseinbürgerung, dass die Identität des Einbürgerungsbewerbers geklärt ist und feststeht (vgl. auch Urteil der erkennenden Kammer vom 22.03.2012, - 11 K 3604/11 -, <Juris>; OVG NRW, Urteil vom 23.05.2012, - 19 E 1113/11 -, <Juris>). Das BVerwG hat ausgeführt, die Klärung offener Identitätsfragen sei notwendige Voraussetzung und unverzichtbarer Bestandteil der Prüfung der in §§ 10 und 11 StAG 2005 genannten Einbürgerungsvoraussetzungen und Ausschlussgründe. Die Angaben zur Person bildeten gleichsam die Basis für alle weiteren Ermittlungen. Auf der Grundlage der angegebenen Personalien (wie Titel, Vorname, Nachname, Geburtsname, Geburtsdatum, Geburtsort, Familienstand) würden alle weiteren Anfragen bei in- und ausländischen Behörden durchgeführt. Nur wenn Gewissheit bestehe, dass ein Einbürgerungsbewerber die Person ist, für die er sich ausgibt, könne nach Durchführung der erforderlichen Ermittlungen mit hinreichender Sicherheit beurteilt werden, ob und welche ausländische Staatsangehörigkeit der Einbürgerungsbewerber besitzt, ob er im In- oder Ausland wegen einer Straftat verurteilt worden ist, ob tatsächliche Anhaltspunkte für eine Verfolgung oder Unterstützung verfassungsfeindlicher Bestrebungen bestehen oder ob ein Ausweisungsgrund vorliegt. Die Identitätsprüfung stelle daher nicht nur einen unverzichtbaren Teil der in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StAG vorgesehenen Statusprüfung dar (unter Hinweis auf OVG Münster, Beschluss vom 5. März 2009 - 19 A 1657/06 - NVwZ-RR 2009, 661). Sie bilde auch eine notwendige Voraussetzung der in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 und § 11 StAG vorgesehenen Sicherheitsüberprüfung. In diesem Sinne werde die Identitätsprüfung im Gesetz unausgesprochen vorausgesetzt (unter Hinweis auf VGH Mannheim, Urteil vom 17. März 2009 - 13 S 3209/08 - UA S. 20). Die Erforderlichkeit einer Identitätsprüfung erschließe sich auch aus dem Sinn und Zweck einer Verleihung der Staatsangehörigkeit durch rechtsgestaltenden Verwaltungsakt. Mit der am Ende des individuellen Einbürgerungsverfahrens stehenden Aushändigung der Einbürgerungsurkunde nach § 16 Satz 1 StAG werde einer bestimmten Person mit einer in der Urkunde festgehaltenen Identität eine neue Staatsangehörigkeit verliehen. Damit würden einerseits Identitätsmerkmale wie Name, Vorname und Geburtsdatum deklaratorisch beurkundet und andererseits werde die Staatsangehörigkeit konstitutiv geändert. Schon das öffentliche Interesse daran, dass die Einbürgerungsurkunde auch im Hinblick auf die beurkundeten Personalien richtig sei, mache eine Überprüfung der diesbezüglichen Identitätsangaben erforderlich. Eine Überprüfung der Frage, unter welchen Personalien ein Einbürgerungsbewerber im Ausland registriert ist, sei aber auch deswegen zwingend geboten, weil die Einbürgerung nicht dazu diene, einer Person eine vollkommen neue Identität oder eine zusätzliche Alias-Identität zu verschaffen. Es bestehe ein erhebliches staatliches Interesse daran zu verhindern, dass ein und dieselbe Person im Rechtsverkehr mit mehreren unterschiedlichen Identitäten und amtlichen Ausweispapieren auftreten könne. Dieser Rechtsprechung des BVerwG hat sich die erkennende Kammer angeschlossen (vgl. z.B. Urteil vom 22.03.2012, aaO.).

Dass der Kläger mit der Vorgabe einer in Bezug auf die eigene Person falschen, aber dennoch realen Identität und mit der Behauptung einer Staatsangehörigkeit, die er nicht besaß, gegen diese Voraussetzungen nach dem seinerzeit geltenden Einbürgerungsrecht verstoßen hat, bedarf im Hinblick auf die Feststellung einer falschen Identität und die damit unterbliebenen oder zumindest objektiv nicht durchführbaren Prüfungen und zu treffenden Feststellungen keiner weiteren Erläuterungen mehr. Es kann damit auch nicht mehr darauf ankommen, dass der Kläger einzelne Einbürgerungsvoraussetzungen, wie die Sicherung des Lebensunterhalts und die Sprachkenntnisse, in eigener Person vorweisen konnte.

Der damit entstandene und im Einbürgerungsverfahren nicht ausgeräumte rechtliche Mangel erfüllt auch die Nichtigkeitsmerkmale nach § 44 Abs. 1 LVwVfG, denn er ist besonders schwerwiegend und auch offensichtlich.

Besonders schwerwiegend ist ein Fehler dann, wenn er in einem so schwerwiegenden Widerspruch zur geltenden Rechtsordnung und den ihr zugrundeliegenden Wertvorstellungen der Gemeinschaft steht, dass es unerträglich wäre, wenn der Verwaltungsakt die mit ihm intendierten Rechtswirkungen hätte (vgl. Kopp/Ramsauer, aaO., Anm. 8 zu § 44 mit weiteren Nachweisen). - Diese Voraussetzungen sieht das Gericht vorliegend für gegeben an. Die Vorstellung, dass sich ein Ausländer unter Vorgabe einer wahren Identität, die zwar eine andere, existente Person besitzt, jedoch nicht er selbst, eine im Ergebnis wirksame Einbürgerung erschleichen könnte, erscheint dem erkennenden Gericht als unerträglich. Dem Ausländer wäre es auf diesem Wege möglich, die oben näher dargelegten, überwiegend im öffentlichen Interesse gebotenen Überprüfungen zu umgehen bzw. zu unterlaufen und er könnte so eine Einbürgerung erlangen, deren Voraussetzungen er in eigener Person überhaupt nicht erfüllt. Dies stünde im krassen Widerspruch nicht zur zum verfassungsrechtlichen Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, sondern auch zum Gleichbehandlungsgrundsatz, weil der Ausländer gegenüber anderen Ausländern, die ein Einbürgerungsverfahren unter eigener Identität betreiben, einen ungerechtfertigten Einbürgerungsvorteil erlangen könnte. So hätte der Kläger als pakistanischer Staatsangehörigkeit schon kein Abschiebungsverbot und damit wohl dann auch kein Aufenthaltsrecht erlangen können, auf welchem letztlich auch die Einbürgerung beruhte.

Es handelt sich bei der Vortäuschung einer anderen, echten Identität auch nicht um einen Fall, in welchem der Adressat nur falsch angesprochen wird (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 08.03.1977, - 1 C 15/73 -, NJW 1977, 1603: der Kläger war unter einer frei erfundenen Identität eingebürgert worden) oder in dem die Zuordnung eines rechtliches Status etwa aufgrund eines Fotos ohne Weiteres möglich ist (vgl. dazu Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Urteil vom 12.05.2004, - 13 S 422/04 -, NVwZ-RR 2005, 137: Aufenthaltserlaubnis auf einen falschen Namen; vgl. weiter: Verwaltungsgericht Würzburg, Urteil vom 07.10.2002, - W 7 01.1310 -, <Juris>). Hierunter fallen auch nicht die Fälle, in welchen eine Fahrerlaubnis unter falschem Namen, jedoch aufgrund eigener Prüfungsleistung erworben wurde (vgl. dazu ausführlich Verwaltungsgericht Karlsruhe, Urteil vom 09.08.2011, - 8 K 1402/11 -, <Juris>). Anders als im vorliegenden Fall war in diesen stets eine materiell-rechtliche Zuordnung des Hoheitsaktes an den Betreffenden, jedoch ganz und gar nicht an eine reale dritte Person, möglich, so dass die Gerichte einen die Nichtigkeit auslösenden schwerwiegenden Fehler dennoch zurecht verneinten. Vorliegend jedoch zielte die Einbürgerung nicht auf den Kläger, in Wirklichkeit wurde eine andere Person eingebürgert, in Bezug auf welche jedoch die Einbürgerungsvoraussetzungen schon mangels Antrages, aber auch materiell-rechtlich betrachtet ebenfalls nicht geprüft werden und auch objektiv nicht vorliegen konnten. Jedoch wäre der wahre H.S. im Falle einer Einreise in die Bundesrepublik Deutschland aufgrund des Rechtsscheins der Einbürgerung wohl als Deutscher zu behandeln gewesen.

Der Fehler war auch offensichtlich. Offenkundigkeit bedeutet, dass die schwere Fehlerhaftigkeit des Verwaltungsaktes für einen unvoreingenommenen, mit den in Betracht kommenden Umständen vertrauten, verständigen Beobachter ohne weiteres ersichtlich sein, sich geradezu aufdrängen muss, d.h. es darf die ernsthafte Möglichkeit, dass der Verwaltungsakt dennoch rechtmäßig sein könnte, nach Lage der Dinge, für einen unvoreingenommenen, urteilsfähigen, weder besonders sach- noch rechtskundigen, aber aufgeschlossenen Durchschnittsbetrachter nicht bestehen (Knopp/Ramsauer, aaO., Anm. 12 mit weiteren Nachweisen). Dies trifft auf eine Einbürgerung, die ein Ausländer unter einer fremden, aber existierenden Identität betreibt, ohne weiteres zu und verstärkt sich erst recht unter dem Gesichtspunkt, dass dieses Verhalten auch bei laienhafter Betrachtung die Möglichkeit der gesetzlich gebotenen, die völkerrechtlichen Belange der Bundesrepublik Deutschland und ihre öffentlichen Sicherheitsinteressen berücksichtigenden Prüfung der Einbürgerungsvoraussetzungen und damit auch eine rechtmäßige Einbürgerung von vornherein ausschließen. Der Einbürgerung unter einer fremden, existierenden Identität ist damit die Nichtigkeit quasi "auf die Stirn geschrieben". Das muss erst recht gelten, wenn die Einbürgerung unter Verwendung einer fremden Identität offenbar planmäßig und ohne erkennbares Unrechtsbewusstsein - z.B. auch unter der Verwendung des echten Passes von H.S., um 2008 ein sachlich gerechtfertigtes, gegen den Kläger wegen des Verdachts der Täuschung über seine Identität eingeleitetes, staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren "abzubiegen" - betrieben wird, um, kurz nach Ablauf der Ausschlussfrist nach § 35 Abs. 3 StAG, dann die wahre Identität offenzulegen. Zur Offenkundigkeit des Mangels führt auch der bereits erwähnte Gesichtspunkt, dass der wahre H.S. in Deutschland als Deutscher hätte gelten müssen. [...]