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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 15.01.2013 - 1 C 7.12 - asyl.net: M20525
https://www.asyl.net/rsdb/M20525
Leitsatz:

Aufenthaltsbeschränkende Auflagen in Niederlassungserlaubnissen für jüdische Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion gemäß § 23 Abs. 2 Satz 4 AufenthG sind grundsätzlich geeignet und erforderlich zur angemessenen Verteilung der öffentlichen Finanzierungslasten für Sozialleistungen. Sie können jedoch insbesondere dann im Einzelfall unverhältnismäßig sein, wenn die Adressaten das Rentenalter erreicht haben, familiäre Bindungen außerhalb des beschränkten Aufenthaltsbereichs aufweisen und sich schon längere Zeit im Bundesgebiet aufhalten.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Niederlassungserlaubnis, Wohnsitzauflage, Sozialhilfebezug, Sozialleistungen, Sozialleistungsbezug, Alter, Ermessen, ältere Person, jüdische Zuwanderer, Juden, Sowjetunion, ehemalige Sowjetunion, ehemalige UdSSR, Kontingentflüchtlinge, Ermessensausübung, Ermessen, Verhältnismäßigkeit, wohnsitzbeschränkende Auflage, Sicherung des Lebensunterhalts, Ermessenslenkung, Erlass, Gleichbehandlung, fiskalisches Interesse, Asylberechtigter, Lastenverteilung,
Normen: AufenthG § 23 Abs. 2, GG Art. 3 Abs. 1, AufenthG § 23 Abs. 2 S. 4, AufenthG § 101, HumHAG § 1, GG Art. 2, GG Art. 11, GFK Art.23, GFK Art. 26, VwGO § 113 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Die Revision des Beklagten hat keinen Erfolg. Zwar verletzt die angefochtene Entscheidung Bundesrecht. Das Berufungsgericht hat zu Unrecht einen Anspruch der Kläger auf Gleichbehandlung mit Asylberechtigten und anerkannten Flüchtlingen hinsichtlich der Anordnung wohnsitzbeschränkender Auflagen angenommen. Die vom Berufungsgericht bestätigte Aufhebung der Auflagen durch das Verwaltungsgericht erweist sich aber aus anderen Gründen im Ergebnis als richtig (§ 144 Abs. 4 VwGO). Denn die Wohnsitzbeschränkungen verstoßen im Fall der Kläger gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

1. Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass die Klagen als Anfechtungsklagen zulässig sind. Die Kläger wenden sich gegen die ihren Niederlassungserlaubnissen beigefügten Nebenbestimmungen, durch die ihnen eine Wohnsitznahme nur im Land Sachsen-Anhalt gestattet ist. Diese wohnsitzbeschränkenden Auflagen sind als selbstständige Verwaltungsakte anfechtbar (Urteil vom 15. Januar 2008 - BVerwG 1 C 17.07 - BVerwGE 130, 148 Rn. 11 zu Wohnsitzauflagen nach § 12 Abs. 2 Satz 2 AufenthG). Der Beklagte hat die Wohnsitzauflagen im August 2006 neu geregelt. Mangels Rechtsbehelfsbelehrung konnten die Kläger hiergegen innerhalb eines Jahres nach Bekanntgabe Widerspruch erheben (§ 58 Abs. 2 VwGO). Ihre Umverteilungsanträge vom Oktober 2006 sind daher sachdienlich als Widersprüche gegen die Neuregelung vom August 2006 auszulegen.

2. Da Wohnsitzauflagen Dauerverwaltungsakte darstellen, kommt es hinsichtlich des für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkts nicht - wie bei Anfechtungsklagen üblich - auf den Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung, sondern auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz an. Rechtsänderungen während des Revisionsverfahrens sind allerdings zu beachten, wenn das Berufungsgericht - entschiede es anstelle des Bundesverwaltungsgerichts - sie zu berücksichtigen hätte (stRspr, vgl. Urteil vom 1. November 2005 - BVerwG 1 C 21.04 - BVerwGE 124, 276 <279 f.>). Maßgeblich sind deshalb die Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl I S. 162), zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung der Hochqualifizierten-Richtlinie der Europäischen Union vom 1. Juni 2012 (BGBl I S. 1224), das am 1. August 2012 in Kraft getreten ist. Hierdurch hat sich die Rechtslage hinsichtlich der einschlägigen Bestimmungen aber nicht geändert. [...]

b) Zu Recht ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass die Wohnsitzauflagen nicht gegen die Genfer Flüchtlingskonvention - GFK - verstoßen. Nach der Rechtsprechung des Senats genügen Wohnsitzauflagen gegenüber anerkannten Flüchtlingen nicht den Anforderungen an eine zulässige Beschränkung der Freizügigkeit nach Art. 26 GFK, wenn sie zum Zwecke der angemessenen Verteilung der öffentlichen Sozialhilfelasten verfügt wurden und deshalb nicht mit Art. 23 GFK vereinbar sind (Urteil vom 15. Januar 2008 a.a.O. Rn. 17 ff.). Diese Bestimmungen der Konvention finden auf die Kläger, die als jüdische Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion im Bundesgebiet Aufnahme gefunden haben, weder unmittelbar noch mittelbar Anwendung.

Die Kläger sind weder als Asylberechtigte noch als Flüchtlinge anerkannt. Zutreffend ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass sie mit ihrer Aufnahme auch nicht kraft Gesetzes die Rechtsstellung eines Kontingentflüchtlings nach § 1 HumHAG erworben haben, der im Bundesgebiet über § 1 Abs. 1 HumHAG die Rechtsstellung nach den Art. 2 bis 34 GFK genießt. Jüdische Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion wurden aufgrund des Beschlusses der Ministerpräsidentenkonferenz (Besprechung des Bundeskanzlers mit den Regierungschefs der Länder) vom 9. Januar 1991 und der darauf aufbauenden Aufnahmepraxis nicht als verfolgte oder durch ein Flüchtlingsschicksal gekennzeichnete Gruppe, sondern im Bewusstsein der historischen Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland für die Verbrechen des Nationalsozialismus zur Erhaltung der Lebensfähigkeit jüdischer Gemeinden in Deutschland und zur Revitalisierung des jüdischen Elements im deutschen Kultur- und Geistesleben aufgenommen (Urteile vom 22. März 2012 - BVerwG 1 C 3.11 - BVerwGE 142, 179 Rn. 18 ff. und vom 4. Oktober 2012 - BVerwG 1 C 12.11 - juris Rn. 12). Dahinstehen kann, ob die Kläger mit der Aufnahme in entsprechender Anwendung des § 1 Abs. 1 HumHAG die Rechtsstellung eines Kontingentflüchtlings oder einen sonstigen - den Schutz der Art. 23 und 26 GFK mit umfassenden - "status sui generis" erworben haben. Denn diese Rechtsstellung ist jedenfalls mit dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am 1. Januar 2005 erloschen. Aus den Übergangsregelungen des Aufenthaltsgesetzes ergibt sich, dass der Gesetzgeber mit der Neuregelung des § 23 Abs. 2 AufenthG die zukünftige Rechtsstellung auch der vor dem 1. Januar 2005 aufgenommenen jüdischen Zuwanderer abschließend neu geregelt, von den sich aus der Genfer Flüchtlingskonvention ergebenden Rechtsfolgen abgekoppelt und rein aufenthaltsrechtlich ausgestaltet hat (Urteile vom 22. März 2012 a.a.O. Rn. 27 ff. und vom 4. Oktober 2012 a.a.O Rn. 13). Demzufolge können sich die Kläger jedenfalls seit dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes nicht auf den Schutz der Genfer Flüchtlingskonvention berufen. [...]

4. Die Entscheidung des Berufungsgerichts erweist sich aber aus anderen Gründen im Ergebnis als richtig (§ 144 Abs. 4 VwGO). Denn bundeseinheitliche Ländererlasse und Verwaltungsvorschriften entheben die für die Auflagenerteilung zuständige Ausländerbehörde nicht von der Prüfung, ob eine Wohnsitzbeschränkung auch unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls verhältnismäßig ist. Dies ist hier nicht der Fall.

Im Gegensatz zu Deutschen können sich die Kläger als Ausländer zwar nicht auf das Grundrecht auf Freizügigkeit nach Art. 11 GG berufen, das nur unter bestimmten in Art. 11 Abs. 2 GG einzeln aufgeführten Voraussetzungen gesetzlich eingeschränkt werden darf. Bei Ausländern berühren Wohnsitzauflagen aber den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 GG. Dieses Grundrecht gewährleistet die allgemeine Handlungsfreiheit in einem umfassenden Sinne. Sie ist allerdings nur in den Schranken des 2. Halbsatzes des Art. 2 Abs. 1 GG garantiert und steht damit insbesondere unter dem Vorbehalt der verfassungsmäßigen Ordnung, zu der auch die in § 23 Abs. 2 Satz 4 AufenthG gesetzlich vorgesehene Ermächtigung zum Erlass wohnsitzbeschränkender Auflagen gehört. Die Anwendung dieser Vorschrift muss aber ihrerseits unter Beachtung der Grundrechte erfolgen und darf insbesondere nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen. Eine auf § 23 Abs. 2 Satz 4 AufenthG gestützte Wohnsitzauflage muss daher einen legitimen Zweck verfolgen und zur Erreichung dieses Zwecks nicht nur geeignet und erforderlich, sondern auch verhältnismäßig im engeren Sinne sein.

Beschränkungen des Wohnsitzes auf ein Bundesland beim Bezug von Leistungen nach dem SGB II oder XII dienen insbesondere bei der Personengruppe der von der Bundesrepublik dauerhaft aufgenommenen jüdischen Zuwanderer einer angemessenen Verteilung der durch ihre Aufnahme verursachten Lasten. Schon der Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz vom 9. Januar 1991 sah vor, dass die Aufnahme dieser Personengruppe in einem für Bund und Länder insgesamt zumutbaren Maß ermöglicht werden sollte. Entsprechend werden die Zuwanderer seitdem nach dem so genannten Königsteiner Schlüssel auf die Bundesländer verteilt und erhalten dort unabhängig von der Sicherung des Lebensunterhalts unbefristete Aufenthaltstitel. Diesen werden allerdings beim Bezug von Leistungen nach dem SGB II oder XII wohnsitzbeschränkende Auflagen beigefügt.

Derartige Auflagen stellen zusammen mit dem vorgelagerten Aufnahme- und Verteilungsverfahren bei jüdischen Zuwanderern grundsätzlich ein geeignetes Mittel dar, um mittels einer regionalen Bindung eine überproportionale fiskalische Belastung einzelner Länder beim Bezug sozialer Leistungen zu verhindern. Dabei kann grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass die Auflagen von den Betroffenen eingehalten werden. Dies schließt eine illegale Binnenwanderung nicht aus, stellt die grundsätzliche Eignung der Auflage aber auch nicht in Frage, zumal Verstößen auf andere Weise begegnet werden kann.

Die streitgegenständlichen Auflagen sind zur Erreichung einer angemessenen Lastenverteilung zwischen den Bundesländern auch erforderlich. Ein milderes, die Kläger weniger belastendes, hinsichtlich des verfolgten Ziels aber gleich effektives Mittel ist nicht ersichtlich. Soweit das Berufungsgericht auf die Möglichkeit entsprechender Ausgleichszahlungen verweist, handelt es sich nicht um ein gleichermaßen geeignetes Mittel. Denn das den Wohnsitzauflagen zugrunde liegende Prinzip der angemessenen Lastenverteilung bezieht sich auch auf infrastrukturelle und integrative Maßnahmen, die einer vorausschauenden Planung bedürfen und einem Erstattungsverfahren kaum zugänglich sind. Außerdem wäre ein Erstattungsverfahren nicht nur mit einem erheblichen Verwaltungsaufwand, sondern auch mit der Gefahr anschließender Verwaltungsstreitverfahren verbunden (vgl. BVerfG, Urteil vom 17. März 2004 a.a.O. S. 195 zur früheren Regelung für Spätaussiedler in § 3a WoZuG).

Die Wohnsitzauflagen sind unter den hier gegebenen Umständen aber nicht verhältnismäßig im engeren Sinne. Den persönlichen Interessen des Ausländers an einem unbeschränkten Aufenthaltsrecht kommt grundsätzlich umso höheres Gewicht zu, je länger die Beschränkung andauert. Dies gilt insbesondere bei der Gruppe der jüdischen Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, die mit der Aufnahme im Bundesgebiet ein unbefristetes, von der eigenständigen Sicherung des Lebensunterhalts unabhängiges Aufenthaltsrecht erlangen. Ob sich hieraus in zeitlicher Hinsicht eine absolute Grenze ergibt, jenseits derer Wohnsitzbeschränkungen schon allein aufgrund ihrer Dauer unverhältnismäßig sind, bedarf vorliegend keiner Entscheidung. Der Aufenthalt der Kläger ist - im maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht - bereits seit über 12 Jahren auf den Landkreis W. bzw. auf das Land Sachsen-Anhalt beschränkt. Inzwischen sind die Kläger altersbedingt nicht mehr in der Lage, ihren Lebensunterhalt dauerhaft aus eigenen Kräften zu sichern. Zudem bestehen, was im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 GG bei der Ermessensausübung zu Buche schlägt, familiäre Anknüpfungspunkte zu ihren Töchtern, die außerhalb des Landes Sachsen-Anhalt leben. Unter diesen Umständen überwiegt das persönliche Interesse der Kläger, ihren Lebensabend in der Nähe ihrer Kinder zu verbringen, das mit den Wohnsitzauflagen verfolgte öffentliche Interesse an einer angemessenen Lastenverteilung zwischen den Bundesländern. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Kläger zugleich die Voraussetzungen erfüllen, unter denen der Beklagte in ständiger Verwaltungspraxis in Anwendung der einschlägigen Erlasse und Verwaltungsvorschriften von wohnsitzbeschränkenden Auflagen trotz des Bezugs von Leistungen nach dem SGB II oder XII absieht. [...]