OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 26.02.2013 - 18 B 572/12 - asyl.net: M20532
https://www.asyl.net/rsdb/M20532
Leitsatz:

1. Zum Beschwerdeausschluss nach § 80 AsylVfG.

2. Eine Zurückschiebung nach § 57 Abs. 2 Halbsatz 2 AufenthG bedarf weder einer vorangehenden Zurückschiebungsverfügung noch einer Zurückschiebungsandrohung. Erforderlich ist allerdings nach Art. 20 Abs. 1 e) Dublin-II VO eine Mitteilung über die Wiederaufnahme des Ausländers durch den zuständigen Mitgliedsstaat.

3. Die Mitteilung nach Art. 20 Abs. 1 e) Dublin-II VO ist kein Verwaltungsakt.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Beschwerdeausschluss, Zurückschiebung, Verwaltungsakt, Dublin II-VO, Dublinverfahren, Zurückschiebung, Informationspflicht, Rechtsweggarantie,
Normen: AsylVfG § 80, AufenthG § 57 Abs. 2, VO 343/2003 Art. 29 Abs. 1 Bst. e, VO 343/2003 Art. 3 Abs. 4, GG Art. 19 Abs. 4,
Auszüge:

[...]

Die Beschwerde ist entgegen der dem angegriffenen Beschluss beigefügten Rechtsmittelbelehrung zulässig. Sie ist nicht gemäß § 80 AsylVfG ausgeschlossen. Nach dieser Regelung können Entscheidungen in Rechtsstreitigkeiten nach dem Asylverfahrensgesetz nicht mit der Beschwerde angefochten werden. Rechtsstreitigkeiten nach dem Asylverfahrensgesetz sind alle gerichtlichen Streitigkeiten, die ihre rechtliche Grundlage im Asylverfahrensgesetz haben. Dies ist bei Entscheidungen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt), die es in Wahrnehmung der ihm vom Asylverfahrensgesetz übertragenen Aufgaben getroffen hat, immer der Fall. Ob Maßnahmen oder Entscheidungen anderer Behörden ihre rechtliche Grundlage im Asylverfahrensgesetz haben, ist nach dem Gefüge und dem Sinnzusammenhang der einzelnen Regelungen zu bestimmen (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. September 1997 - 1 C 6.97 -, juris Rn. 14, sowie Beschluss vom 6. März 1996 - 9 B 714.95 - , NVwZ-RR 1997, 255).

Für die Beurteilung grundsätzlich maßgeblich ist, auf welche Rechtsvorschrift die Behörde ihre Maßnahme tatsächlich gestützt hat (vgl. BVerwG, Urteile vom 31. März 1992 - 9 C 155.90 -, juris Rn. 13; Sächs. OVG, Beschlüsse vom 29. November 2011 - A 2 A 272/11 –, juris Rn. 19, vom 9. Juli 2009 - A 1 D 92/09 -, juris Rn. 2, und vom 4. Juni 2008 - A 5 B 168/08 -, juris Rn. 2; OVG Rhein.-Pfalz, Beschluss vom 24. Januar 2007 - 6 E 11489/06 -, juris Rn. 7; Marx, Kommentar zum Asylverfahrensgesetz, 6. Aufl. 2005, § 80 Rn. 6; einschränkend, soweit eine Behörde sich zu Unrecht auf eine Rechtsvorschrift aus dem AsylVfG beruft: OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 12. Mai 2011 - 2 M 23/11 -, juris Rn. 15, Thür. OVG, Beschluss vom 17. Februar 2005 - 3 EO 1525/04 -; vgl. auch Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG (Stand: April 2009), § 80 Rn. 27).

Die Antragsgegnerin stützt die beabsichtigte Zurückschiebung des Antragstellers nicht auf § 18 Abs. 3 AsylVfG sondern - zutreffend - auf § 57 Abs. 2 Halbsatz 2 AufenthG. Dies folgt aus der Zurückschiebungsverfügung vom 27. Februar 2012, mit der die Zurückschiebung des Antragstellers in die Niederlande angeordnet worden ist. [...]

Der Hilfsantrag ist auch begründet. Eine Zurückschiebung des Antragstellers nach N. ist derzeit unzulässig. Sie scheitert zwar nicht daran, dass es an einer Zurückschiebungsverfügung fehlt, die N. ausdrücklich als Zielstaat bezeichnet (I.). Der Zurückschiebung steht derzeit aber der fehlende Nachweis entgegen, dass die unionsrechtlich gemäß Art. 20 Abs. 1 e) Dublin-II VO gebotene Mitteilung an den Antragsteller erfolgt ist (II.).

I. Eine Zurückschiebung nach § 57 Abs. 2 Halbsatz 2 AufenthG bedarf weder einer vorangehenden Zurückschiebungsverfügung noch einer Zurückschiebungsandrohung. Von daher ist es auch unerheblich, dass N. als Zielstaat der Zurückschiebung in der Zurückschiebungsverfügung vom 27. Februar 2012 nicht ausdrücklich aufgeführt wird.

Die Entbehrlichkeit einer Zurückschiebungsverfügung und einer Zurückschiebungsandrohung ergibt sich aus folgenden Erwägungen:

Nach § 57 Abs. 2 Halbsatz 2 AufenthG soll ein unerlaubt eingereister und von der Grenzbehörde im grenznahen Raum in unmittelbarem Zusammenhang mit dieser Einreise angetroffener Ausländer zurückgeschoben werden, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass ein anderer Staat aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist und ein Auf- oder Wiederaufnahmeverfahren eingeleitet wird. Die Anknüpfung an die Asylzuständigkeit eines anderen Staates bezieht sich auf die in der Dublin II-Verordnung geregelte "Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags" zuständig ist.

Diese Verordnung beschränkt sich – anders als ihre formelhafte Umschreibung nahelegt - nicht nur auf die Bestimmung der Zuständigkeit für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat aktuell gestellten Asylantrags und die (Wieder-)Aufnahme durch den zuständigen Mitgliedstaat infolge früherer dortiger Asylantragstellung. Sie erstreckt sich vielmehr auch auf die sog. Aufgriffsfälle. Diese sind - nach vorangehender Asylantragstellung (Art. 16 Abs. 1 c) Dublin II-VO bzw. bereits erfolgter Asylablehnung (Art. 16 Abs. 1 e) Dublin II-VO) in einem Mitgliedstaat - durch spätere unerlaubte Einreise in einen anderen Mitgliedstaat ohne dortige Asylantragstellung gekennzeichnet (vgl. Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG (Stand: Februar 2013), § 27a Rn. 235).

§ 57 Abs. 2 Halbsatz 2 AufenthG bestimmt, dass die ggf. erforderliche zwangsweise Aufenthaltsbeendigung in Aufgriffsfällen durch Zurückschiebung erfolgen soll. Die Zurückschiebung unterscheidet sich nicht nur terminologisch, sondern auch nach ihren Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen von der Zurückweisung nach § 15 AufenthG und der in § 58 AufenthG behandelten Abschiebung als den anderen im Aufenthaltsgesetz geregelten Formen zwangsweiser Aufenthaltsverhinderung bzw. -beendigung. Diese werden von der Zurückweisung über die Zurückschiebung bis zur Abschiebung von zunehmend strengeren Voraussetzungen abhängig gemacht, die ihren Grund in dem entsprechend zunehmenden Aufenthaltsbezug des Ausländers zum Bundesgebiet haben. Während die Zurückweisung noch an der Grenze erfolgt und eine unerlaubte Einreise ins Bundesgebiet von vornherein verhindert, setzt die Zurückschiebung das Antreffen des unerlaubt eingereisten Ausländers im grenznahen Raum des Bundesgebiets (§ 57 Abs. 2 AufenthG) bzw. des Schengengebiets (§ 57 Abs. 1 AufenthG) voraus. Die Abschiebung dagegen als Regelfall der zwangsweisen Aufenthaltsbeendigung ist an derartige spezielle örtliche Vorgaben nicht gebunden. [...]

II. Die Zurückschiebung des Antragstellers nach N. ist derzeit unzulässig. Es kann nicht festgestellt werden, dass die dem Zurückzuschiebenden gegenüber bestehende Informationspflicht nach Art. 20 Abs. 1 e) Dublin II-VO vor der Zurückschiebung rechtzeitig erfüllt werden wird.

Auch wenn es nach den vorstehenden Ausführungen weder einer Zurückschiebungsverfügung noch einer der Abschiebungsandrohung entsprechenden Zurückschiebungsandrohung bedarf, ist die Zurückschiebung nach § 57 Abs. 2 Halbsatz 2 AufenthG nicht ohne jede vorangehende Information des Ausländers zulässig.

Eine allgemeine – und nicht etwa auf einen bestimmten Verfahrensschritt bezogene – Informationspflicht wird bereits durch Art. 3 Abs. 4 Dublin II-VO begründet. Diese gilt aber nur gegenüber Asylbewerbern, also solchen Drittstaatsangehörigen, die einen Asylantrag eingereicht haben, über den – anders als hier – noch nicht endgültig entschieden worden ist (Art. 2 d) Dublin II-VO).

Eine weitere – an einen bestimmten Verfahrensschritt anknüpfende - Informationspflicht resultiert aus Art. 20 Abs. 1 e) Dublin II-VO. Sie besteht im Zusammenhang mit dem Wiederaufnahmeverfahren, das im Tatbestand des § 57 Abs. 2 Halbsatz 2 AufenthG in Bezug genommen wird. Das Wiederaufnahmeverfahren in sog. Aufgriffsfällen wird in Art. 20 Dublin II-VO geregelt. In der Bundesrepublik Deutschland liegt die Zuständigkeit für das danach vorausgesetzte Wiederaufnahmeersuchen beim Bundesamt (vgl. § 2 Abs. 1 Nr. 1 AsylZBV). Insoweit ist das Verfahren der Zurückschiebung nach § 57 Abs. 2 Halbsatz 2 AufenthG durch das Zusammenwirken von Ausländerbehörde und Bundesamt gekennzeichnet. Wird das Wiederaufnahmeersuchen vom ersuchten Mitgliedstaat akzeptiert, so trifft den ersuchenden Mitgliedstaat die Mitteilungspflicht nach Art. 20 Abs. 1 e) der Dublin II-VO. Danach hat der ersuchende Staat (hier: die Bundesrepublik Deutschland) dem Asylbewerber (als solcher ist mit Blick auf Art. 16 Abs. 1 e) Dublin II-VO auch derjenige anzusehen, dessen Asylantrag in einem anderen Mitgliedsland abgelehnt worden ist) die Entscheidung des zuständigen Mitgliedstaats (hier: N.) über die Wiederaufnahme mitzuteilen. Diese Entscheidung ist zu begründen. Weiterhin ist die Frist für die Durchführung der Überstellung anzugeben und ggf. der Ort und der Zeitpunkt zu nennen, an dem bzw. zu dem sich der Asylbewerber zu melden hat, wenn er sich auf eigene Initiative in den zuständigen Mitgliedstaat begibt. Gegen die Entscheidung kann ein Rechtsbehelf eingelegt werden (Vgl. Art. 20 Abs. 1 e) Dublin II-VO). Diese unionsrechtliche Mitteilungspflicht wird in der bundesdeutschen Verwaltungspraxis durch die Ausländerbehörden in der Weise erfüllt, dass diese das vom Bundesamt gefertigte und an sie übersandte Mitteilungsschreiben an den Ausländer aushändigen. Die Aushändigung der Mitteilung muss so rechtzeitig erfolgen, dass der durch Art. 20 Abs. 1 e) Dublin II-VO garantierte Rechtsschutz gegen die Überstellung noch möglich ist. Dies schließt eine Aushändigung aus, die zeitlich erst unmittelbar vor der Überstellung erfolgt.

Art. 20 Abs. 1 e) Dublin II-VO meint entgegen seinem missverständlichen Wortlaut nach Sinn und Zweck Rechtsschutz vor den Gerichten des überstellenden Staats. Ebenso Hruschka, Die Dublin II-Verordnung, in: Informationsverbund Asyl e.V., Das Dublin Verfahren, S.12. A.A. VG Hamburg, Beschluss vom 22. September 2005 – 13 AE 555/05 -, juris, S. 9.

Die Mitteilung nach Art. 20 Abs. 1 e) Dublin II-VO ist kein Verwaltungsakt i.S.v. § 35 VwVfG NW und § 42 VwGO sondern eine schlichte Information ohne den bei einem Verwaltungsakt definitionsgemäß vorausgesetzten Regelungscharakter. Mit ihr wird dem Betroffenen weder rechtsverbindlich eine Duldungspflicht hinsichtlich der beabsichtigten Zurückschiebung auferlegt noch deren Rechtmäßigkeit verbindlich festgestellt. Die Annahme des Vorliegens eines Verwaltungsaktes ist auch nicht etwa deshalb geboten, weil dem Entschluss der zuständigen Behörde, einen Ausländer in den zuständigen Mitgliedstaat zu überstellen, eine Prüfung der Überstellungsvoraussetzungen voranzugehen hat. Das Ergebnis dieser Prüfung ist nach Art. 20 Abs. 1 e) Dublin II-VO nicht in Form eines Verwaltungsaktes festzuhalten und die Durchführung der Prüfung verleiht der Mitteilung auch im Übrigen keinen Regelungscharakter (vgl. einerseits BVerwG, Beschlüsse vom 4. Februar 2011 – 9 B 55.10 – juris Rn 10 (zur Rechtsnatur der sog. Abgabenachricht nach § 72 VwGO) und vom 26. Mai 1992 – 3 B 87/91 – juris Rn. 4 (zur Rechtsnatur einer Auskunft über die Zulässigkeit der Ausübung bestimmter Tätigkeiten); BVerwG, Urteile vom 31. Mai 1990 – 2 C 55.88 -, juris Rn.22 (Mitteilung an Beamten über beabsichtigte Versetzung in den Ruhestand), und vom 25. Mai 1984 – 8 C 87.82 -, juris Rn. 15 ff. (Ladung zur Musterung); Hess.VGH, Beschluss vom 26. Juni 1990 – 12 TG 1455/90 -, juris Rn. 3 (Abschiebungsankündigung); andererseits BVerwG, Urteil vom 24. März 2010 – 6 A 2.09 -, juris Rn. 25 (Klageart bei Klage auf Erteilung einer Auskunft, der kraft Gesetzes ein Verwaltungsakt vorauszugehen hat). Vgl. zum Ganzen auch U. Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 7. Auflage 2008, § 35 Rn. 82 ff.).

Es ist nicht ersichtlich, dass die Antragsgegnerin der vorgenannten Mitteilungspflicht genügt hat. Zwar ist ihr das Mitteilungsschreiben vom Bundesamt nach dessen Verwaltungsvorgang mit Anschreiben vom 25. April 2012 per Kurier zugeleitet worden. Weder aus dem von der Antragsgegnerin vorgelegten Verwaltungsvorgang noch aus deren Vorbringen im gerichtlichen Verfahren lässt sich aber ableiten, dass das Mitteilungsschreiben dem Antragsteller vor der für den 9. Mai 2012 geplanten und durch Beschluss vom selben Tage vorläufig untersagten Überstellung oder danach ausgehändigt worden ist.

Da die entsprechende Mitteilung für die Überstellung aus Rechtsschutzgründen geboten und deren Rechtmäßigkeitsvoraussetzung ist, ist deshalb nach Aktenlage derzeit von der Rechtswidrigkeit der beabsichtigten Überstellung in der Form der Zurückschiebung auszugehen.

Der Senat kann - weil nicht entscheidungserheblich - offenlassen, ob aus Art. 19 Abs. 4 GG weitergehende Informationspflichten folgen, die es etwa gebieten, dem Antragsteller auch die konkrete Art der Überstellung in Form der hier gewählten Zurückschiebung nach § 57 Abs. 2 Halbsatz 2 AufenthG mitzuteilen.

Art. 19 Abs. 4 GG gewährt einem Betroffenen Anspruch auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle in Fällen, in denen eine Verletzung seiner Rechte durch die öffentliche Gewalt möglich erscheint. Dieser Anspruch beschränkt sich indes nicht auf die gerichtliche Kontrolle und das gerichtliche Verfahren. Soll die Rechtsschutzgarantie die Möglichkeit zur Wahrnehmung anderweitig bestehender Rechte sicherstellen, kann sie eine Benachrichtigung gebieten, wenn diese Form der Kenntnisgewähr Voraussetzung der Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes ist (BVerfG, Urteil vom 14. Juli 1999 - 1 BvR 2226/94 u.a. -, juris Rn. 180 f.).

Dies gilt insbesondere auch in Fällen der sofortigen Vollziehung. Der Rechtsweggarantie kommt die Aufgabe zu, irreparable Vollzugsfolgen soweit wie möglich auszuschließen. Lediglich überwiegende öffentliche Belange können es rechtfertigen, den Rechtsschutzanspruch des Einzelnen einstweilen zurückzustellen, um unaufschiebbare Maßnahmen im Interesse des allgemeinen Wohls rechtzeitig in die Wege zu leiten (BVerfG, Urteil vom 15. Dezember 1983 – 1 BvR 209/83 -, juris Rn. 213). [...]