OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 06.02.2013 - 13 LA 77/12 - asyl.net: M20630
https://www.asyl.net/rsdb/M20630
Leitsatz:

Es ist zweifelhaft, ob einem flüchtigen Asylbewerber aus den die Verlängerung der Überstellungsfrist auf höchstens 18 Monate ermöglichenden Regelungen überhaupt eine subjektive Rechtsposition erwachsen kann. Kommt ein die Überstellung betreibender Mitgliedstaat der Verpflichtung nach, den für den Asylbewerber zuständigen Mitgliedstaat vor Ablauf der regulären Frist von 6 Monaten von der Flucht zu unterrichten, tritt auch ohne eine ausdrückliche Entscheidung über die Verlängerung der Überstellungsfrist nicht sogleich mit Ablauf der ursprünglichen Frist ein Zuständigkeitswechsel ein.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Überstellung, Zuständigkeitswechsel, Übergang der Zuständigkeit, Zuständigkeit, Dublin II-VO, Dublinverfahren, Überstellungsfrist, Zurückschiebung, Zurücküberstellung, asylrechtliche Streitigkeit, Grundsätzliche Bedeutung, flüchtig,
Normen: AsylVfG § 78 Abs. 3, AsylVfG § 78 Abs. 4 S. 4, VO 343/2003 Art. 20 Abs. 1 d S. 2,
Auszüge:

[...]

a) Hinsichtlich der vom Kläger als grundsätzlich bedeutsam bezeichneten Frage, ob "sich - wenn der Asylbewerber flüchtig ist - die Überstellungsfrist gemäß Art. 20 Abs. 2 S. 2 Dublin II-VO stets von sechs Monaten auf 18 Monate verlängert, oder ob die Frist von 18 Monaten nur eine Höchstfrist ist und die zuständigen Behörden - das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - eine Einzelfallentscheidung nach Ermessen über die Dauer der Verlängerung der Überstellungsfrist treffen muss", hat er nicht darzulegen vermocht, dass sich diese in einem Berufungsverfahren in entscheidungserheblicher Weise stellen würde.

Das Verwaltungsgericht hat hinsichtlich der Frage zum einen die Auffassung vertreten, dass die reguläre Frist von sechs Monaten nach Art. 20 Abs. 1 Buchst. d S. 2 Alt. 1 VO (EG) Nr. 343/2003 infolge der Mitteilung an die schwedische Migrationsbehörde vom 3. August 2010 und einer der Verwaltungspraxis entsprechenden fehlenden Rückäußerung als nach Art. 20 Abs. 2 S. 2 VO (EG) Nr. 343/2003 auf 18 Monate verlängert anzusehen sei. Aus der maßgeblichen Sicht der Beklagten und der schwedischen Behörden sei der Kläger zu diesem Zeitpunkt auch flüchtig gewesen. Der Verzicht auf weitere Überstellungsversuche in der Folgezeit ändere an einem mithin fehlenden Zuständigkeitsübergang auf Deutschland nichts. Zum anderen ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass dem Kläger als bereits abgelehnten Asylbewerber ohnehin keine subjektiven Rechte aus Art. 20 Abs. 2 VO (EG) Nr. 343/2003 erwachsen könnten. Die Begründung des Zulassungsantrags befasst sich nur mit der ersten Argumentationslinie, nicht hingegen mit dem - selbständig tragenden - Argument fehlender subjektiver Rechte im Falle einer bereits erfolgten Ablehnung eines Asylbewerbers. Damit fehlt es bereits an der Darlegung einer Entscheidungserheblichkeit der vom Kläger formulierten Grundsatzfrage. Die vom Verwaltungsgericht angestellte Überlegung einer fehlenden subjektiven Rechtsposition erscheint dabei auch durchaus nicht fernliegend. Zum einen kann die vom Kläger angesprochene Situation eines "refugee in orbit" gar nicht mehr eintreten, weil dieser bereits ein Asylverfahren durchlaufen hatte. Zum anderen erschiene die Annahme einer subjektiven Rechtsposition gerade bei einer Flucht des Asylbewerbers eher widersinnig, weil eine nach Ermessen zu treffende ausdrückliche Verlängerungsentscheidung von einem flüchtigen Asylbewerber ohnehin unbemerkt bliebe. Diesen Erwägungen muss aber in Anbetracht des vorliegenden Falles nicht näher nachgegangen werden, weil es bereits an einer hinreichenden Darlegung fehlt.

Gleichwohl weist der Senat auf Folgendes hin: Selbst wenn eine Ermessensentscheidung zur Fristverlängerung seitens der Beklagten noch ausgestanden hätte, würde sich aus den maßgeblichen Verordnungsvorschriften nicht erschließen, dass eine solche zwingend noch vor Ablauf der regulären Frist von sechs Monaten (Art. 20 Abs. 1 Buchst. d S. 2 Alt. 1 und Abs. 2 S. 1 VO (EG) Nr. 343/2003) hätte getroffen werden müssen, um einen Übergang der Zuständigkeit auf Deutschland abzuwenden. Ein striktes "Zeitlimit" für eine solche Entscheidung und ggf. erforderliche Abstimmungen mit dem Staat, der die Wiederaufnahme zugesagt hat, ergibt sich aus den maßgeblichen Bestimmungen gerade nicht. Im Gegenteil regelt die Durchführungsbestimmung des Art. 9 Abs. 2 S. 1 VO (EG) Nr. 1560/2003 (lediglich) eine Verpflichtung des die Überstellung betreibenden Mitgliedstaats, den für den Asylbewerber zuständigen Mitgliedstaat vor Ablauf der regulären Frist von sechs Monaten von den in Art. 20 Abs. 2 VO (EG) Nr. 343/2003 genannten Überstellungshindernissen zu unterrichten. (Nur) wenn er dies nicht tut, fällt ihm die asylrechtliche Zuständigkeit gemäß Art. 9 Abs. 2 S. 2 VO (EG) Nr. 1560/2003 - gleichsam automatisch - zu. Ist der an sich für den Asylbewerber zuständige Staat mithin vor Ablauf der regulären Frist von sechs Monaten durch die Mitteilung "gewarnt" worden, ist gerade kein automatischer Übergang an den die Überstellung betreibenden Staat vorgesehen. Warum vor diesem Regelungshintergrund zu fordern sein sollte, dass der die Überstellung betreibende Staat zusätzlich gezwungen sein sollte, noch vor Ablauf der regulären Frist von sechs Monaten eine "Verlängerungsentscheidung" nach Ermessen zu treffen, wenn er einen Zuständigkeitsübergang abwenden will, erschließt sich nicht. Die Rechtsbeziehungen der beteiligten Staaten sind vielmehr mit der rechtzeitigen Mitteilung nach Art. 9 Abs. 2 S. 1 VO (EG) Nr. 1560/2003 zunächst einmal geregelt; ein Zuständigkeitsübergang findet nach Ablauf der regulären Frist dann gerade nicht statt. Anschließende etwaige Entscheidungen über die volle oder teilweise Ausschöpfung der Höchstfrist von 18 Monaten und diesbezügliche weitere Absprachen zwischen den beteiligten Staaten hängen dann naturgemäß von Variablen ab, die gerade im Falle der Flucht des Asylantragstellers maßgeblich von diesem selbst bestimmt werden. Auch dies steht der Auffassung entgegen, die Beklagte müsse (rechtzeitig) eine bestimmte Fristverlängerung nach Ermessen quasi durch einen gesonderten Verwaltungsakt festsetzen. Vielmehr liegt nahe, dass sie die Höchstfrist - abhängig vom Verhalten des flüchtigen Asylbewerbers - auch ausschöpfen kann. [...]