OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 24.07.2013 - 19 A 1974/11 - asyl.net: M21026
https://www.asyl.net/rsdb/M21026
Leitsatz:

Ein Verstoß gegen die Mitwirkungspflicht an Eingliederungsmaßnahmen aus § 2 Abs. 1 Satz 2 SGB II kann eine einbürgerungsschädliche Verletzung der sozialrechtlichen Obliegenheitspflichten darstellen.

Schlagwörter: Einbürgerung, Sicherung des Lebensunterhalts, Eingliederungshilfe, Eingliederungsmaßnahme, Mitwirkungspflicht, sozialrechtliche Obliegenheitspflicht, sich bemühen, staatenlos, Wohlwollensgebot, besondere Härte, atypischer Ausnahmefall, Arbeitslosigkeit,
Normen: StAG § 10 Abs. 1, SGB II § 2 Abs. 1 S. 2, StAG § 9 Abs. 1, StAG § 8 Abs. 2, StlÜbk § 32,
Auszüge:

[...]

A. Der Kläger hat keinen Einbürgerungsanspruch aus § 10 Abs. 1 StAG. Er erfüllt nicht die Einbürgerungsvoraussetzung der Sicherung des Lebensunterhalts, die sich in seinem Fall nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StAG richtet. Nach dieser Vorschrift muss der Ausländer den Lebensunterhalt für sich und seine unterhaltsberechtigten Familienangehörigen ohne Inanspruchnahme von Leistungen nach dem Zweiten oder Zwölften Buch Sozialgesetzbuch bestreiten können oder deren Inanspruchnahme nicht zu vertreten haben. Insoweit enthielt § 86 Abs. 1 AuslG 1993 keine günstigere Regelung für den Kläger, denn auch nach dessen Halbsatz 1 Nr. 3 musste der Ausländer den Lebensunterhalt für sich und seine unterhaltsberechtigten Familienangehörigen ohne Inanspruchnahme von Sozial- oder Arbeitslosenhilfe bestreiten können und wurde von dieser Voraussetzung nach Halbsatz 2 abgesehen, wenn der Ausländer aus einem von ihm nicht zu vertretenden Grunde den Lebensunterhalt nicht ohne Inanspruchnahme von Sozial- oder Arbeitslosenhilfe bestreiten konnte.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des erkennenden Senats zu § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StAG hat der Einbürgerungsbewerber einen Sozialleistungsbezug zu vertreten, wenn er in den vergangenen 8 Jahren eine seiner sozialrechtlichen Obliegenheitspflichten dem Grunde nach verletzt hat und der Zurechnungszusammenhang dieser Pflichtverletzung mit dem aktuellen Leistungsbezug fortbesteht (BVerwG, Urteil vom 19. Februar 2009 - 5 C 22.08 -, BVerwGE 133, 153, juris, Rdn. 19 ff.; OVG NRW, Beschluss vom 27. Februar 2013 - 19 E 205/13 -, juris, Rdn. 2 m. w. N.).

Der Kläger hat seine Mitwirkungspflicht an Eingliederungsmaßnahmen aus § 2 Abs. 1 Satz 2 SGB II verletzt. Nach dieser Vorschrift muss der erwerbsfähige Hilfebedürftige aktiv an allen Maßnahmen zu seiner Eingliederung in Arbeit mitwirken, insbesondere eine Eingliederungsvereinbarung abschließen.

Gegen diese Mitwirkungspflicht hat der Kläger zuletzt am 7. Februar 2011 dadurch verstoßen, dass er die mit ihm am 2. Februar 2011 vereinbarte Arbeitsgelegenheit bei der Diakonie im Bereich Gastronomie/Hauswirtschaft "aus persönlichen Gründen" nicht angetreten hat. Seine Begründung, keinen Pass und deshalb "aktuell Probleme mit seiner Aufenthaltsbescheinigung" zu haben, war nicht stichhaltig. Denn aus der Vermittlungsakte ergibt sich nicht, dass die Diakonie die Bereitstellung der Arbeitsgelegenheit von der Klärung seiner Personendaten und dem Ausgang des Klageverfahrens 8 K 5064/10 VG 'Düsseldorf betreffend die Ausstellung eines Reiseausweises für Staatenlose abhängig gemacht hatte. Der Kläger war im Besitz der unter dem 30. September 2009 von der Beklagten ausgestellten Aufenthaltsbescheinigung, welche er auch im Erörterungstermin am 10. September 2012 vorgelegt hat. Auch die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung als Buchbindereihilfskraft bei der Druckerei X. in E. hat er wenige Monate später am 1. Oktober 2011 zu einem Zeitpunkt erhalten, als er noch im Besitz lediglich dieser Aufenthaltsbescheinigung war.

Entgegen der in der zweitinstanzlichen mündlichen Verhandlung geäußerten Auffassung des Klägers besteht auch keine Veranlassung, von Amts wegen der Frage nachzugehen, ob die Diakonie die Bereitstellung der Arbeitsgelegenheit an die genannten Umstände geknüpft haben könnte. Denn bei der dahin gehenden Äußerung des Klägers handelt es sich lediglich um eine ins Blaue hinein aufgestellte Vermutung, die der Kläger als Reaktion auf die Erörterung der Rechtslage im Rechtsgespräch aufgestellt hat, für die es aber in den Akten keinen Hinweis gibt.

In der genannten Weigerung des Klägers liegt eine einbürgerungsschädliche Verletzung seiner oben bezeichneten sozialrechtlichen Obliegenheitspflicht. Dem steht nicht entgegen, dass die Mitarbeiterin des Jobcenters E. seine "Argumente" als "glaubhaft" angesehen und "vorerst von weiteren Maßnahmen abgesehen" hat (Vermerk vom 7. Februar 2011). Dieser Inhalt des Vermerks schließt die Annahme nicht aus, dass die Mitarbeiterin ebenfalls eine Pflichtverletzung des Klägers angenommen, aber lediglich von deren Sanktionierung abgesehen hat. Abgesehen davon kommt es lediglich auf das objektive Vorliegen einer Obliegenheitspflichtverletzung an. Deren Würdigung durch die Arbeitsverwaltung kann je nach den Umständen des Einzelfalls allenfalls den Zurechnungszusammenhang mit dem heutigen Sozialleistungsbezug entfallen lassen.

Im vorliegenden Fall besteht dieser Zurechnungszusammenhang trotz der nachsichtigen Beurteilung durch die Mitarbeiterin des Jobcenters E. fort. Für den Kläger war es im genannten Zeitpunkt naheliegend, dass seine Arbeitsverweigerung sowohl seine Eingliederung in Arbeit verzögern würde, zu der er sich wenige Tage zuvor verpflichtet hatte, als auch sich negativ auf sein Einbürgerungsverfahren würde auswirken können, welches damals bereits erstinstanzlich beim Verwaltungsgericht anhängig war.

Der Zurechnungszusammenhang seiner pflichtwidrigen Arbeitsverweigerung vom 7. Februar 2011 mit seinem heutigen Sozialleistungsbezug entfällt weiter nicht infolge seiner zwischenzeitlichen elfmonatigen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung als Buchbindereihilfskraft vom 1. Oktober 2011 bis zum 31. August 2012 bei der Druckerei X. in E. Denn dieses Arbeitsverhältnis konnte ihn nicht zu der Annahme veranlassen, es werde seine Unterhaltsfähigkeit nachhaltig befördern. Es war nicht Bestandteil der vom Jobcenter E. vorgesehenen Eingliederungsmaßnahmen für den Kläger in den deutschen Arbeitsmarkt. Es ist vielmehr, wie der Kläger in der zweitinstanzlichen mündlichen Verhandlung erklärt hat, durch persönliche Beziehungen zu Herrn S. zustande gekommen, der seinen Betrieb im August 2012 aus Altersgründen aufgegeben hat. Der Kläger selbst hat es nach den Angaben seiner Prozessbevollmächtigten lediglich als bessere Ausgangsposition für Bewerbungen bei anderen Arbeitgebern verstanden.

Gegen seine Mitwirkungspflicht an Eingliederungsmaßnahmen aus § 2 Abs. 1 Satz 2 SGB II hat der Kläger unabhängig von der vorgenannten Obliegenheitsverletzung auch dadurch verstoßen, dass er am 20. April 2010 einem Termin beim Jobcenter E. mit der Behauptung ferngeblieben ist, ein Vorstellungsgespräch in Aachen zu haben, zu dem er jedoch keine Arbeitgeberdaten angeben konnte (Schreiben des Jobcenters E. vom 30. Oktober 2012).

B. Der Kläger hat weiter keinen Einbürgerungsanspruch aus § 9 Abs. 1 StAG. Nach dieser Vorschrift sollen Ehegatten oder Lebenspartner Deutscher "unter den Voraussetzungen des § 8" eingebürgert werden, wenn die in den Nrn. 1 und 2 bezeichneten weiteren Voraussetzungen vorliegen. Zu den Mindestvoraussetzungen des § 8 StAG gehört auch die Einbürgerungsvoraussetzung der Unterhaltsfähigkeit nach § 8 Abs. 1 Nr. 4 StAG ("sich und seine Angehörigen zu ernähren imstande ist"). Anders als im Rahmen der Anspruchs - einbürgerung nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StAG (früher § 85 Abs. 1 Satz 2 AuslG, ganz früher § 86 Abs. 1 Halbsatz 2 AuslG 1990) ist es im Rahmen des § 8 Abs. 1 Nr. 4 StAG ohne Belang, ob der Ausländer seine mangelnde Unterhaltsfähigkeit zu vertreten hat (BVerwG, Beschluss vom 6. Februar 2013 – 5 PKH 13/12 -, juris, Rdn. 6 m. w. N.).

Auch § 8 Abs. 2 StAG ermöglicht der Beklagten im vorliegenden Fall keine Ermessensentscheidung. Nach dieser Vorschrift kann aus Gründen des öffentlichen Interesses oder zur Vermeidung einer besonderen Härte unter anderem von der Unterhaltsfähigkeit nach § 8 Abs. 1 Nr. 4 StAG abgesehen werden. Im Fall des Klägers liegen weder Gründe des öffentlichen Interesses noch eine besondere Härte im Sinne des § 8 Abs. 2 StAG vor.

Gründe des öffentlichen Interesses ergeben sich für den staatenlosen Kläger insbesondere nicht aus dem Wohlwollensgebot für Staatenlose nach Art. 32 Satz 1 Übereinkommens über die Rechtsstellung der Staatenlosen (StlÜbk) vom 28. September 1954, transformiert in innerstaatliches Recht durch Zustimmungsgesetz vom 12. April 1976 (BGBl 1976 II S. 473/1977 II S. 235). Nach dieser Vorschrift erleichtern die Vertragsstaaten soweit wie möglich die Eingliederung und Einbürgerung Staatenloser. Art. 32 Satz 1 StlÜbk ist innerstaatlich nur im Sinne eines auf das Einbürgerungsermessen einwirkenden Wohlwollensgebots unmittelbar anwendbar. Wegen des gruppentypischen Schicksals des begünstigten Personenkreises wird ein staatliches Interesse an der Einbürgerung in dem Sinne anerkannt, dass diese - vorausgesetzt eine Eingliederung in die hiesigen Lebensverhältnisse ist gewährleistet - im Rahmen sachgemäßer Ermessensausübung nur abgelehnt werden darf, wenn überwiegende staatliche Belange entgegenstehen. Im Zweifel ist das Einbürgerungsermessen also zugunsten des Antragstellers auszuüben (BVerwG, Beschluss vom 23. Dezember 1993 - 1 B 61.93 -, DVBl. 1994, 526, juris, Rdn. 6; Urteil vom 10. Juli 1984 – 1 C 30.81 -, StAZ 1985, 74, juris, Rdn. 23 (zu Art. 34 Satz 1 GK)).

Hiernach greift das Wohlwollensgebot in Art. 32 Satz 1 StlÜbk nur dem Grunde nach zu Gunsten des Klägers ein, verschafft ihm aber unter den Umständen des vorliegenden Falles keinen Einbürgerungsanspruch, weil seine Eingliederung in die hiesigen Lebensverhältnisse angesichts seiner über viele Jahre hinweg immer wieder eingetretenen Sozialleistungsbedürftigkeit nicht gewährleistet ist.

Auch eine besondere Härte im Sinne des § 8 Abs. 2 StAG liegt nicht vor. Ein besonderer Härtefall im Sinne des § 8 Abs. 2 StAG muss durch atypische Umstände des Einzelfalls bedingt, gerade durch die Verweigerung der Einbürgerung hervorgerufen sein und deshalb durch eine Einbürgerung vermieden oder zumindest entscheidend abgemildert werden können (BVerwG, Beschluss vom 6. Februar 2013, a. a. O., Rdn. 6).

In der bislang misslungenen Eingliederung des Klägers in den deutschen Arbeitsmarkt liegt nach diesem Maßstab keine besondere Härte, weil sie nach dem oben Ausgeführten maßgeblich auf seiner unzureichenden Mitwirkung, nicht aber vorrangig darauf beruht, dass die Beklagte seine Einbürgerung abgelehnt hat. [...]