VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 10.06.2013 - 9 K 2121/12 - asyl.net: M21032
https://www.asyl.net/rsdb/M21032
Leitsatz:

Eine Wohnsitzauflage bei subsidiär Schutzberechtigten verstößt gegen Art. 32 QRL.

Schlagwörter: Wohnsitzauflage, subsidiärer Schutz,
Normen: AufenthG § 25 Abs. 3, AufenthG § 10, RL 2004/83/EG Art. 32, AufenthG § 60 Abs. 2, RL 2004/83/EG Art. 18,
Auszüge:

[...]

Die Wohnsitzauflage ist aber materiell rechtswidrig.

Dabei lässt die Kammer dahinstehen, ob die Wohnsitzauflage mangels jeglicher Begründung der Ermessensentscheidung zum Zeitpunkt ihres Erlasses an einem totalen Ermessensausfall leidet, der auch nach § 114 Satz 2 VwGO nicht heilbar wäre. Fehlt es nämlich einem Verwaltungsakt an jeglicher Begründung, ist grundsätzlich von einem Ermessensausfall auszugehen, es sei denn der Beklagte weist in anderer Weise zweifelsfrei die Ermessensgesichtspunkte nach, die er seiner Entscheidung zu Grunde gelegt hat (vgl. Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG-Kommentar, 7. Auflage, 2008, § 40 Rz. 80).

Ob die Angaben des Beklagten zu den seinerzeitigen mündlichen Erläuterungen seiner Sachbearbeiterin unter Berücksichtigung der Vorgaben der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz einen solchen zweifelsfreien Nachweis darstellen, bedarf aber keiner Entscheidung, weil die Wohnsitzauflage unabhängig hiervon mit vorrangigen rechtlichen Bestimmungen nicht vereinbar ist.

Die Wohnsitzauflage des Klägers, der Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 2 AufenthG genießt und damit zur Gruppe der subsidiär Schutzberechtigten im Sinne des Art. 18 Richtlinie 2004/83/EG (Qualifikationsrichtlinie - QualfRL) gehört, verstößt gegen Art. 32 QualfRL (vgl. VG Augsburg, Urteil vom 21. Februar 2013- Au 6 K 12.1391 -; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 31. Januar 2013 - 8 K 3538/12 - www.nrwe.de; VG Regensburg, Gerichtsbescheid vom 13. Dezember 2012 - RO 9 K 12.1670 -; VG Meiningen, Urteil vom 20. November 2012 - 2 K 349/12 ME -; VG Oldenburg, Urteil vom 28. Januar 2009 -11 A 1756/07 -; alle in juris).

Das Bundesverwaltungsgericht (vgl. BVerwG, Urteil vom 15. Januar 2008 - 1 C 17.07 - BVerwGE 130, 148-156) hat überzeugend festgestellt, dass Wohnsitzauflagen gegenüber anerkannten Flüchtlingen, die Sozialhilfeleistungen beziehen, gegen Art. 23 Genfer Flüchtlingskonvention verstoßen, wenn sie zum Zwecke der angemessenen Verteilung öffentlicher Sozialhilfeleistungen verfügt werden.

In Ergänzung hierzu hat der Bayrische Verwaltungsgerichtshof (vgl. BayVGH, Urteil vom 9. Mai 2011 - 19 B 10.2384 -, juris) ausgeführt, dass Art. 32 QualfRL subsidiär Schutzberechtigten Bewegungsfreiheit unter den gleichen Einschränkungen gewährleistet, die für andere Drittstaatsangehörige gelten, und damit die Freizügigkeit von subsidiär Schutzberechtigten im Wesentlichen der Freizügigkeit von Flüchtlingen entspricht.

Soweit in der neuesten Rechtsprechung (vgl. VG Hannover, Urteil vom-9. April 2013 - 2 A 4072/12 - juris; VG Münster, Urteil vom 18. April 2013 - 8 K 295/13 - www.nrwe.de) eine abweichende Rechtsauffassung vertreten wird, schließt sich die Kammer dieser Rechtsprechung aus folgenden Erwägungen nicht an:

Ausgangspunkt der vorgenannten Rechtsprechung ist die Annahme, Art. 32 QualfRL regele nur das Recht eines Flüchtlings und subsidiär Schutzberechtigten, im Staatsgebiet des Mitgliedsstaates, der seine Flüchtlingseigenschaft oder seinen Status als subsidiär Schutzberechtigter festgestellt habe, frei reisen zu können. Durch Art. 32 QualfRL werde aber nicht geregelt, dass der Flüchtling oder subsidiär Schutzberechtigte das Recht auf freie Wahl des Wohnsitzes im Staatsgebiet habe.

Eine solches Verständnis von Art. 32 QualfRL ist jedoch weder durch den Wortlaut der Norm geboten, noch steht sie mit dem Regelungszweck der Qualifikationsrichtlinie in Einklang.

Die Qualifikationsrichtlinie knüpft mit ihren Regelungen an die Genfer Flüchtlingskonvention an. Art. 32 QualfRL ist in der englischen Fassung mit der Bezeichnung "Freedom of movement within the Member State", in der französischen Fassung mit "Liberté de circulation à l'interieur de l'Etat membre" versehen. Damit entspricht die Bezeichnung des Regelungsgehalts von Art. 32 QualfRL der Wortwahl des Art. 26 der Genfer Flüchtlingskonvention in deren englischer (FREEDOM OF MOVEMENT) bzw. französischer (LIBERTÉ DE CIRCULATION) Originalfassung. Auch im Text des Art. 32 QualfRL wird in der englischen und französischen Fassung der Begriff verwendet, der nach Art. 26 der Genfer Flüchtlingskonvention das Recht der Wohnsitzwahl umfasst. Dem entspricht im Übrigen auch das deutsche Rechtsverständnis des Begriffs der Freizügigkeit. Freizügigkeit bedeutet das Recht, unbehindert durch die deutsche Staatsgewalt an jedem Ort innerhalb des Bundesgebietes Aufenthalt und Wohnsitz zu nehmen, auch zu diesem Zweck in das Bundesgebiet einzureisen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 7. Mai 1953 - 1 BvL 104/52; juris).

Hätte der Richtliniengeber den verwendeten Begriff "Freedom of movement" bzw. "Liberté de circulation" abweichend vom Bedeutungsgehalt der Genfer Flüchtlingskonvention regeln wollen, wäre anzunehmen, dass er dann in Art. 2 QuaIfRL eine abweichende Begriffsbestimmung vorgenommen hätte.

Auch der Zweck der Regelung spricht dafür, dass Art. 32 QualfRL das Recht der Wohnsitzwahl umfasst.

Nach Art 1 QuaIfRL verfolgt die Richtlinie unter anderem das Ziel, den Inhalt des zu gewährenden Schutzes zu bestimmen. Art. 20 Abs. 2 QualfRL legt in diesem Zusammenhang fest, dass der Inhalt des Schutzes für Flüchtlinge und für subsidiär Schutzberechtigte identisch ist, soweit in der Qualifikationsrichtlinie nichts anderes bestimmt werde. Für den Bereich der Freizügigkeit sieht die Qualifikationsrichtlinie keine Differenzierung zwischen Flüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten vor.

Die Annahme, die durch Art 32 QualfRL gewährte Freizügigkeit umfasse nicht die grundsätzlich freie Wohnsitzwahl, setzt demnach voraus, dass der Richtliniengeber ein Kernelement des in der Genfer Flüchtlingskonvention für Flüchtlinge garantierten Rechtsstatus nicht in seine Bestimmung des Schutzstatus von Flüchtlingen habe übernehmen wollen. Hierfür gibt es jedoch keinen Anhaltspunkt. Vielmehr zeigen auch die Erwägungsgründe Nr. 2 und 3 der Qualifikationsrichtlinie den Willen des Richtliniengebers, mit der Richtlinie den nach der Genfer Flüchtlingskonvention zu gewährenden Schutzumfang umfassend in europäisches Recht zu überführen und Abweichungen für subsidiär Schutzberechtigte nur dort vorzunehmen, wo dies ausdrücklich bestimmt wird. [...]