VG Kassel

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Zitieren als:
VG Kassel, Urteil vom 31.10.2013 - 6 K 1167/12.KS.A - asyl.net: M21267
https://www.asyl.net/rsdb/M21267
Leitsatz:

Für besonders schutzbedürftige Rückkehrer wie alte oder behandlungsbedürftige kranke Personen können ausnahmsweise einzelfallbezogene Gründe gegen eine Rückkehr nach Ungarn sprechen. Bei einer schweren PTBS wird der Betroffene angesichts der schwierigen Lebensbedingungen nicht in der Lage sein, Zugang zum Arbeitsmarkt und zu medizinischer Versorgung zu erlangen.

Schlagwörter: Ungarn, besonders schutzbedürftig, Aufnahmebedingungen, subsidiärer Schutz, anerkannter Flüchtling, internationaler Schutz, Zugang zum Arbeitsmarkt, medizinische Versorgung, Obdachlosigkeit, Dublinverfahren, Wohnsitz, fester Wohnsitz, Meldeanschrift, Rücküberstellung, Zurückschiebung, Posttraumatische Belastungsstörung, Drittstaatenregelung,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1,
Auszüge:

[...]

An dieser grundsätzlichen Einschätzung hält das Gericht auch weiterhin mit der Einschränkung fest, dass für besonders schutzbedürftige Rückkehrer wie alte oder behandlungsbedürftige kranke Personen ausnahmsweise einzelfallbezogene Gründe gegen eine Rückkehr nach Ungarn sprechen können. Von einem solchen Fall ist hier auszugehen, da der Kläger aufgrund seiner schweren posttraumatischen Belastungsstörung nicht in der Lage wird sein können, sich angesichts der schwierigen Lebensbedingungen sowie der Unterbringungsmöglichkeiten für anerkannte Flüchtlinge in Ungarn den Zugang zum Arbeitsmarkt und zu einer medizinischen Versorgung zu erlangen. Angesichts der in das Verfahren eingeführten Auskünften sachinformierter Stellen wie beispielsweise die Auskunft des UNHCR "Ungarn als Asylland - Bericht zur Situation für Asylsuchende und Flüchtlinge in Ungarn" von April 2012, hat das Gericht davon auszugehen, dass der Kläger im Falle seiner Rücküberstellung nach Ungarn obdachlos sein wird. Einen Anspruch auf Unterkunft und Verpflegung wird der Kläger nach seiner Ausreise aus Ungarn im Falle seiner Rückkehr dorthin nicht mehr erlangen können, denn dieser Anspruch ist zeitlich auf sechs Monate beschränkt und gilt nur in unmittelbarem Anschluss an das erfolgreich abgeschlossene Asylverfahren. Dar UNHCR weist darauf hin, dass diese nach dem Asylgesetz bestehenden Integrationsregelungen sich in der Praxis als unwirksam erweisen. Die soziale und wirtschaftliche Misere anerkannter Flüchtlinge führe zu einem hohen Druck zur Weiterreise in andere Staaten. Werden diese anerkannten Flüchtlinge rücküberstellt, würden sie oft obdachlos. Obdachlose Flüchtlinge seien Bedrohungen und physischer Gewalt ausgesetzt, wobei alleinstehende Frauen und hilfsbedürftige Personen besonders gefährdet seien. Beim Zugang zu ihren nach ungarischem Recht verankerten Rechten und bei deren Ausübung stießen sie oft auf Hindernisse, insbesondere würden sie nach ihrer Rückkehr nach Ungarn vom Sozialsystem ausgeschlossen. Obdachlosen sei der Zugang zu Sozialleistungen verschlossen. Das Fehlen einer rechtmäßigen Anschrift bzw. eines Wohnsitzes schließe sie vom Fürsorgesystem aus. Ohne eine entsprechende Wohnsitzregistrierung wird der Kläger aber keinen Zugang zu medizinischen Leistungen erhalten. Da der Kläger aufgrund seiner Erkrankung als besonders schutzbedürftige Person einzustufen ist, wird er noch größere Probleme haben, überhaupt einen Arbeitsplatz zu erhalten, der es ihm ermöglicht, eine eigene Wohnung zu begründen, die wiederum Voraussetzung für eine Registrierung ist, um überhaupt eine Teilhabe am Fürsorgesystem zu erlangen. Die Beklagte selbst verweist in ihren Stellungnahmen, die sich auf die Auskünfte eines Liaisonmitarbeiters in Ungarn stützen, lediglich auf die nationalen gesetzlichen Bestimmungen, nach denen ein Anspruch besteht, berücksichtigt aber nicht die in der Realität auftretenden besonderen Probleme, die gerade mit der Registrierung als grundsätzliche Voraussetzung für eine Teilhabe am Fürsorgesystem einhergehen. Gelingt es selbst gesunden und belastbaren Rückkehrer selten, diesen in den Auskünften beschriebenen Teufelskreis zu durchbrechen, wird es dem Kläger als besonders schutzbedürftiger Person nach Überzeugung des Gerichts erst recht nicht gelingen können, so dass eine zeitnahe medizinische Behandlung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht erreicht werden kann. Unter diesen besonderen Bedingungen ist das Gericht davon überzeugt, dass die Gesamtschau der von den konkreten Lebensumständen des Klägers determinierten Gründe, die gegen eine Rückkehr sprechen, überwiegen. [...]