LG Dresden

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Zitieren als:
LG Dresden, Beschluss vom 12.11.2013 - 2 T 821/13 - asyl.net: M21276
https://www.asyl.net/rsdb/M21276
Leitsatz:

Die Unterbringung eines Betroffenen während der Sicherungshaft zur Abschiebung in einer Justizvollzugsanstalt steht im Widerspruch zur Rückführungsrichtlinie. Die Bearbeitungszeit von 10 Tagen für einen Bescheid des Bundesamtes ist in Abschiebungshaftsachen zu lang und entspricht nicht dem Beschleunigungsgebot.

Schlagwörter: spezielle Hafteinrichtung, spezielle Hafteinrichtungen, Abschiebungshaft, Sicherungshaft, Zurückschiebungshaft, Trennungsgebot, getrennte Unterbringung, Strafgefangene, Ungarn, Beschleunigungsgebot, systemische Mängel, Haftdauer, Dublinverfahren,
Normen: RL 2008/115/EG Art. 16 Abs. 1, AufenthG § 62a Abs. 1 S. 1, AufenthG § 62a Abs. 1 S. 2,
Auszüge:

[...]

d) Im Falle des Freistaates Sachsen steht die Unterbringung eines Betroffenen in einer JVA regelmäßig im Widerspruch zur Richtlinie 2008/115/EG, und zwar unabhängig davon, ob man sich an der deutschen Fassung (in der Auslegung des Bundesgerichtshofs, der sich die Kammer anschließt) oder an der englischen, französischen, italienischen und niederländischen Fassung orientiert.

aa) Dafür, "Mitgliedstaat" im Sinne der Richtlinie auch im Fall der föderal verfassten Staaten als Gesamtstaat und nicht als föderale Untereinheit zu verstehen, spricht, dass föderal verfasste Staaten in der Europäischen Union kein Sonderfall, sondern weit verbreitet sind; neben Deutschland sind u.a. Österreich. Belgien und die Niederlande föderal strukturiert. Mehrere Regionen Spaniens genießen weitgehende Autonomie; Schottland und Nordirland verfügen innerhalb des Vereinigten Königreichs über eigene regionale Regierungen und haben eigene Regionalparlamente.

Hinzu kommt, dass Verpflichtungen der Mitgliedstaaten grundsätzlich unabhängig von der innerstaatlichen Zuständigkeitsverteilung sind (vgl. EuGH, Urt. v. 12.6.1990, Gz. C-8/88, Deutschland./. Kommission, Slg. 1990, I-2321, RN 13).

Nach Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV respektiert die Europäische Union grundsätzlich die unterschiedliche strukturelle Ordnung der Mitgliedstaaten. Hailbronner (a.a.O.) argumentiert, dass die Länder - für die im Rahmen ihrer Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen die Verpflichtungen der Rückführungslinie uneingeschränkt gelten - auch von den in der Richtlinie geregelten Ausnahmen von Verpflichtungen in vollem Umfang profitieren müssten, da sonst in die innerstaatliche Kompetenzverteilung eingegriffen werde. Diese Auffassung teilt im Ergebnis auch die Bundesregierung (vgl. Antwort zu Frage 6 der Großen Anfrage einzelner Bundestagsabgeordneter und der Fraktion Die Linke, BT-Drucksache 17/7446).

Wenn indes die EU-Gesetzgebung die Mitgliedstaaten an sich ohne Rücksicht auf die innerstaatliche föderative Kompetenzverteilung verpflichtet, so erscheint es auch nicht naheliegend, entgegen dem Wortlaut von EU-Richtlinien Ausnahmeregelungen weit auszulegen, um zu vermeiden, dass jene föderative Untereinheiten in Zugzwang geraten; vielmehr spricht einiges dafür, eine näher am Wortlaut orientierte und der Zielsetzung der Richtlinie besser dienende Auslegung vorzuziehen.

Vom deutschen Text der Richtlinie ausgehend, hält sich die deutsche Umsetzung somit nicht in dem vorgegebenen Rahmen.

bb) Ausgehend vom englischen, französischen, italienischen und niederländischen Fassung liegt ein Verständnis der Richtlinie nahe, wonach auch bei Vorhandensein gesonderter Abschiebehafteinrichtungen in einem Mitgliedsland die Unterbringung dort dennoch nicht möglich ist und deshalb die Unterbringung in einer Justizvollzugsanstalt zulässig ist.

Die Unterbringungspraxis von Abschiebehaftgefangenen im Freistaat Sachsen ist derzeit so, dass entgegen der Soll-Bestimmung des § 62a I 1 AufenthG und der Zielsetzung in Art. 16 Abs. 1 S. 1 der Richtlinie 2008/115/EG eine Unterbringung in einer gesonderten Abschiebehafteinrichtung nur dann vorgenommen wird, wenn andere Möglichkeiten ausscheiden - etwa, weil alle Abschiebehaftplätze in Sachsen belegt sind. In Sachsen selbst gibt es keine gesonderte Abschiebehafteinrichtung; bei Überbelegung der entsprechenden Abteilungen der Justizvollzugsanstalten in Sachsen werden indes nach jeweils gesonderter Absprache gesonderte Abschiebehaftgewahrsamseinrichtungen in Berlin-Köpenick und Eisenhüttenstadt in Anspruch genommen.

Im konkreten Fall war die Unterbringung des Betroffenen in einer gesonderten Abschiebehafteinrichtung durchaus möglich, wenn auch nicht in Sachsen. Sie war bereits vorbereitet und wurde sodann nicht umgesetzt, weil sich doch noch eine Möglichkeit zu einer Unterbringung eröffnete, die dem Grundsatz des Art. 16 I 1 Richtlinie 2008/115/EG nicht entspricht. Davon, dass vorliegend die Unterbringung in einer gewöhnlichen Haftanstalt gar i.S. des deutschen Textes des Art. 16 I 1 der Richtlinie erfolgen musste, kann nicht die Rede sein. Im Übrigen lässt auch § 62a I 2 AufenthG durchaus auch die Unterbringung in einer gesonderten Gewahrsamseinrichtung zu, wenn in einem Bundesland keine gesonderte Abschiebehaftgewahrsamseinrichtung vorhanden ist; die Möglichkeit zur Unterbringung in einer JVA wird für diesen Fall dort nur als Möglichkeit, nicht aber als alleinige Alternative genannt.

e) Nach dem deutschen Umsetzungsgesetz ist die Unterbringung in der JVA Dresden zwar zulässig. Allerdings ist § 62a I 2 AufenthG im konkreten Fall wegen Verstoßes gegen die Richtlinie 2008/115/EG nicht anzuwenden, denn bei nicht ordnungsgemäßer Umsetzung einer EU-Richtlinie und Ablauf der Frist zu deren Umsetzung kommt hinreichend konkret befassten Bestimmungen der Richtlinie unmittelbare Wirkung zu (vgl. Schulze/Zuleeg/Kadelbach-König, Europarecht, 2. Aufl., § 2: Gesetzgebung, S. 107, RN 58; Strenz-Schroeder, EW/AEUV, 2.Aufl., Art. 288 RN 103 und RN 106 ff.).

Das deutsche Umsetzungsgesetz lässt die Unterbringung in Justizvollzugsanstalten auch dort zu, wo als Alternative die Unterbringung in einer gesonderten Abschiebehaftgewahrsamseinrichtung möglich ist (und auch trotz Nichtvorhandenseins einer entsprechenden Einrichtung in einem Bundesland bei Festnahmen auf dem Gebiet jenes Bundeslandes und Überbelegung der entsprechenden Abteilungen der Justizvollzugsanstalten in dem Bundesland regelmäßig praktiziert wird). Damit überschreitet es den von der Richtlinie vorgegebenen Rahmen.

IV. Die Aufrechterhaltung der Sicherungshaft - auch unter etwaigen Maßgaben für den Vollzug, die die Erwartung begründen könnten, dass der weitere Vollzug in rechtmäßiger Weise erfolgt - wäre nicht mehr verhältnismäßig, da gegen das Beschleunigungsgebot in Abschiebehaftsachen verstoßen wurde.

1.) Nach § 34a I 1 AsylVfG ordnet das Bundesamt die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.

2.) Der Gesetzgeber geht hier angesichts der Verwendung des Begriffs "sobald" von einer unverzüglichen Anordnung der Abschiebung aus, sobald deren Durchführbarkeit feststeht.

3.) Vorliegend stand die Durchführbarkeit der Abschiebung schon zum Zeitpunkt der Festnahme des Betroffenen fest, da eine Zustimmung Ungarns zur Rückübernahme des Betroffenen schon seit dem 17.7.2013 vorlag.

4.) Das Beschleunigungsgebot verpflichtet die Behörden, alle notwendigen Anstrengungen zu unternehmen, damit der Vollzug der Haft auf eine möglichst kurze Zeit beschränkt werden kann (vgl. BGH, Beschluss vom 7.4.2011, Gz.: V ZB 111/10; BGH, Beschluss vom 7.10.2013, Gz.: V ZB 24/13). Das Beschleunigungsgebot gilt auch für Wiederaufnahmeverfahren nach der Dublin II-Verordnung.

5.) Für die Durchführbarkeit einer Abschiebung kommt es nicht allein auf die Bereitschaft des ersuchten Staates zur Rückübernahme eines Betroffenen an. Vielmehr wird das Bundesamt in jeder Phase des Überstellungsverfahrens zu berücksichtigen haben, ob es in dem Asylverfahren des ersuchten Staates systemische Mängel gibt, die gebieten, dass Deutschland von seinem Selbsteintrittsrecht Gebrauch macht. Es ist im Interesse des Betroffenen, dass derartige Fragen sorgfältig geprüft werden.

Bei der Beurteilung, binnen weichen Zeitraums die Entscheidung über den Erlass einer Abschiebungsanordnung geboten ist, ist auch eine angemessene Zeit zur schriftlichen Niederlegung des entsprechenden Bescheides zu berücksichtigen.

Freilich hat sich das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge schon einen Standpunkt in der Frage der Überstellungen nach Ungarn erarbeitet (vgl. Stellungnahme vom 3.9.2013, Gz.: 430-936-12/2013-31). Nach der Kenntnis der Kammer aus anderen Abschiebehaftsachen hat das Referat 430 des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge in den letzten Wochen durchgehend Rückführungen nach Ungarn betrieben. Ab dem Eingang eines Telefaxschreibens der Bundespolizei beim BAMF am 30.10.2013 ist der für den 11.11.2013 avisierte Erlass eines Bescheides der erste, für die Kammer feststellbare Bearbeitungsschritt. Auch bei der Berücksichtigung einer angemessenen Vorbereitung eines solchen Bescheides erscheint die Bearbeitungszeit als zu lang und nicht mehr dem Beschleunigungsgebot entsprechend. [...]