AG Gießen

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Zitieren als:
AG Gießen, Beschluss vom 21.08.2013 - 249 F 1635/13 VM; 249 F 1717/13 PF - asyl.net: M21502
https://www.asyl.net/rsdb/M21502
Leitsatz:

Unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen ist ein Ergänzungspfleger mit dem Aufgabenkreis "Vertretung in asyl- und ausländerrechtlichen Angelegenheiten" zu bestellen.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: unbegleitete Minderjährige, Ergänzungspfleger, asyl- und ausländerrechtliche Angelegenheiten, Bundesgerichtshof, Dublin III-Verordnung, Dublinverfahren, Aufnahmerichtlinie,
Normen: BGB § 1791b, BGB § 1909 Abs. 1, VO 604/2013 Art. 6, RL 2013/33/EU Art. 24,
Auszüge:

[...]

Das Amtsgericht Gießen hat deshalb mit Beschluss vom 17.07.2013 das Ruhen der elterlichen Sorge der Eltern angeordnet (Az.:249 F 1419/13 SO).

Es war daher ein Vormund für den Minderjährigen zu bestellen.

Zum Vormund war gem. § 1791 b BGB das Jugendamt der Stadt "…" zu bestellen (§ 87 c ABS. 3 SGB VIII), nachdem eine als Einzelvormund geeignete Person nicht vorhanden ist.

Daneben war für den Minderjährigen nach § 1909 Abs. 1 BGB Ergänzungspflegschaft mit dem Aufgabenkreis „Vertretung in asyl- und ausländerrechtlichen Angelegenheiten“ anzuordnen.

Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 29.5.2013 (XII ZB 124/ 12) steht dem nicht entgegen, denn zeitlich nach der Entscheidung des BGH sind auf europäischer Ebene neue Rechtsakte, das sogenannte "Asylpaket", verabschiedet worden, wobei vom Grundsatz her ein Anwendungsvorrang des EU-Rechts vor dem Recht der Mitgliedstaaten besteht.

Gemäß Art. 6 der Dublin III-Verordnung (Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.6.2013) ist von den Mitgliedstaaten dafür zu sorgen, dass ein unbegleiteter Minderjähriger in allen Verfahren, die in dieser Verordnung vorgesehen sind, von einem Vertreter vertreten und/oder unterstützt wird, der über die entsprechenden Qualifikationen und Fachkenntnisse verfügt, um zu gewährleisten, dass dem Wohl des Minderjährigen während der nach dieser Verordnung durchgeführten Verfahren Rechnung getragen wird.

Nach Art. 24 EU-Aufnahme- Richtlinie (Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.6.2013) sorgen die Mitgliedstaaten sobald wie möglich dafür, das ein Vertreter bestellt wird, der den unbegleiteten Minderjährigen vertritt und unterstützt, damit dieser die Rechte aus dieser Richtlinie in Anspruch nehmen und den sich aus dieser Richtlinie ergebenden Pflichten nachkommen kann …. Der Vertreter muss … entsprechend versiert sein. Nach Art. 25 EU-Verfahrensrichtlinie (Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.6.2013) ergreifen die Mitgliedstaaten sobald wie möglich Maßnahmen, um zu gewährleisten, dass ein Vertreter den unbegleiteten Minderjährigen vertritt und unterstützt, damit dieser die Rechte aus dieser Richtlinie in Anspruch nehmen und den sich aus dieser Richtlinie ergebenden Pflichten nachkommen kann. Der Vertreter ... verfügt hierfür über die erforderlichen Fachkenntnisse... Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass der Vertreter Gelegenheit erhält, den unbegleiteten Minderjährigen über die Bedeutung und die möglichen Konsequenzen seiner persönlichen Anhörung sowie gegebenenfalls darüber aufzuklären, wie er sich auf seine persönliche Anhörung vorbereiten kann. Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass ein Vertreter und/oder ein Rechtsanwalt oder ein sonstiger nach nationalem Recht zugelassener oder zulässiger Rechtsberater bei dieser Anhörung anwesend ist ...

Der hier bestellte Vormund verfügten nicht über das erforderliche Spezialwissen, das ebenso Kenntnis der politischen Verhältnisse im Herkunftsland des Minderjährigen sowie über das sich ständig ändernde Asyl- und Flüchtlingsrecht mit seinen Bezügen zum Völker-, Europa- und Verfassungsrecht bis zu den verschiedenen Erlassen auf Länderebene erfordert.

Alle genannten Rechtsakte gehen aber davon aus, dass der dem unbegleiteten Minderjährigen Flüchtling zur Seite gestellte Vertreter selbst die erforderliche Fachkenntnis hat, um die notwendige Unterstützung zu leisten.

Es kommt danach nicht in Betracht, den Vormund darauf zu verweisen, einen Rechtsanwalt zu finden, der insbesondere in der vorgerichtlichen Phase - die die meist schwierige Sachverhaltsaufklärung mit dem minderjährigen, oft traumatisierten, Mandanten, die Asylantragstellung, die Vorbereitung und Begleitung der Anhörung beim Bundesamt sowie die Beratung in zahlreichen Nebenfragen betreffend die Bedeutung des Aufenthaltsstatus, z.B. im Zusammenhang mit Schule, Ausbildung oder Erwerbstätigkeit, umfasst und nicht auf die Klärung einer singulären Rechtsfrage beschränkt ist - seriös auf der Grundlage von Beratungshilfe (derzeit 84 € zuzüglich Umsatzsteuer) tätig wird. Es ist im Übrigen nicht die Rechtsanwaltschaft, der die Pflicht zur Fürsorge für unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge übertragen wurde, sondern der jeweilige Mitgliedsstaat.

Nicht entscheidend ist, wann die Umsetzungsfrist für die neuen EU-Richtlinien ablaufen bzw. wann die Dublin III-Verordnung in Kraft tritt, da die neuen Regelungen lediglich das bereits zuvor normierte Gebot des Vorrangs des Kindeswohls bei der Durchführung des Asylverfahrens konkretisieren (vgl. Art. 17 Abs. 6 Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1.12.2005 und Art. 18 Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27.1.2003).

Da bisher andere taugliche Institutionen für die qualifizierte Vertretung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen fehlen, muss die Vertretung weiterhin durch die Bestellung eines Ergänzungspflegers mit den erforderlichen Qualifikationen sichergestellt werden (so auch Amtsgericht Frankfurt a. M., Beschluss vom 8.8.2013, Az. 465 F 11291 aus 13 EASO). [...]