BVwG Österreich

Merkliste
Zitieren als:
BVwG Österreich, Entscheidung vom 13.03.2014 - W112 2003274-1/19E (= ASYLMAGAZIN 5/2014, S. 176) - asyl.net: M21797
https://www.asyl.net/rsdb/M21797
Leitsatz:

Schubhaft (Abschiebungshaft) im Rahmen einer Überstellung im Dublin III-Verfahren ist rechtswidrig, wenn sich die Haft nicht unmittelbar auf Art. 28 Dublin III-VO stützt und sich nicht mit den Bestimmungen des Dublin-Verfahrens auseinandersetzt. Entgegenstehende Bestimmungen des nationalen Rechts, sofern keine verordnungskonforme Interpretation möglich ist, sind demgegenüber unanwendbar.

Werden die über das Vorliegen der Fluchtgefahr, Verhältnismäßigkeit und Erforderlichkeit hinausgehenden Voraussetzungen für die Verhängung der Schubhaft (Abschiebungshaft) nach Art. 28 Abs. 3 Dublin III-VO nicht geprüft, ist die Haft rechtswidrig.

Schlagwörter: Dublin III-Verordnung, Dublinverfahren, Fluchtgefahr, Verhältnismäßigkeit, Erforderlichkeit, Abschiebungshaft, Zurückschiebungshaft, Sicherungshaft, Schubhaft,
Normen: VO 604/2013 Art. 28, VO 604/2013 Art. 28 Abs. 3,
Auszüge:

[...]

3.2.3. Der Beschwerdeführer behauptet weiters, die belangte Behörde hätte den Bescheid unmittelbar auf Art. 28 Dublin III-VO stützen müssen. In der Stellungnahme vom 12. März 2014 führte der Beschwerdeführer weiter aus, dass sich die belangte Behörde hierzu mit den Bestimmungen des Dublin-Verfahrens auseinandersetzen und Art. 28 Dublin III-VO auch im Spruch hätte angeben müssen.

Die Dublin III-VO trat mit am 19. Juli 2013 in Kraft und ist gemäß Art. 49 leg. cit. auf alle Anträge auf internationalen Schutz anwendbar, die ab dem 1. Jänner 2014 gestellt werden und gilt ab diesem Zeitpunkt für alle Gesuche um Aufnahme oder Wiederaufnahme von Antragstellern. Im - gegenüber der Dublin II-VO neuen - Art. 28 Dublin III-VO ist die Inhaftnahme zum Zwecke der Überstellung im Dublin-Verfahren geregelt. Allfällige entgegenstehende Bestimmungen des nationalen Fremdenrechts sind, sofern keine verordnungskonforme Interpretation möglich ist, demgegenüber unanwendbar. Solange die Dublin III-VO gegenüber einem Drittstaatsangehörigen angewendet wird, darf Administrativhaft zur Sicherung deren Vollzugs nur nach Art. 28 leg. cit. verhängt werden und nicht etwa nach anderen Bestimmungen des nationalen Rechts, da sonst der Schutzzweck der gegenständlichen Regelung vereitelt wäre (Filzwieser/Sprung, Die Dublin III-Verordnung, 223 [in Druck]).

Gemäß Art. 28 Dublin III-VO dürfen die Mitgliedstaaten zwecks Sicherstellung von Überstellungsverfahren nach einer Einzelfallprüfung die entsprechende Person in Haft nehmen, wenn eine erhebliche Fluchtgefahr besteht, die Haft verhältnismäßig ist und sich weniger einschneidende Maßnahmen nicht wirksam anwenden lassen. Die Haft hat so kurz wie möglich zu sein und nicht länger zu sein, als bei angemessener Handlungsweise notwendig ist, um die erforderlichen Verwaltungsverfahren mit der gebotenen Sorgfalt durchzuführen, bis die Überstellung gemäß dieser Verordnung durchgeführt wird. Die Frist für die Stellung eines Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs darf, wenn der Asylwerber in Haft ist, einen Monat ab der Stellung des Antrags nicht überschreiten. Der Mitgliedstaat, der das Dublin-Verfahren führt, ersucht in diesen Fällen um eine dringende Antwort, die spätestens zwei Wochen nach Eingang des Gesuchs erfolgen muss. Die Überstellung aus dem ersuchenden Mitgliedstaat in den zuständigen Mitgliedstaat erfolgt, sobald diese praktisch durchführbar ist, spätestens innerhalb von sechs Wochen nach der Annahme des Gesuchs auf Aufnahme oder Wiederaufnahme oder von dem Zeitpunkt an, ab dem der Rechtsbehelf keine aufschiebende Wirkung mehr hat. Hält der ersuchende Mitgliedstaat die Fristen nicht ein oder findet die Überstellung nicht innerhalb des Zeitraums von sechs Wochen statt, wird die Person nicht länger in Haft gehalten.

"Fluchtgefahr" definiert Art. 2 lit. n Dublin III-VO als das Vorliegen von Gründen im Einzelfall, die auf objektiven gesetzlich festgelegten Kriterien beruhen und zu der Annahme Anlass geben, dass sich ein Antragsteller, gegen den ein Überstellungsverfahren läuft, diesem Verfahren möglicherweise durch Flucht entziehen könnte.

Zwar dürfen die Mitgliedstaaten die zum Vollzug von EU-Verordnungen erforderlichen innerstaatlichen Organisations- und Verfahrensvorschriften bereitstellen. Um der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts willen ist jedoch der Rückgriff auf innerstaatliche Rechtsvorschriften nur in dem zum Vollzug der Verordnung notwendigen Umfang zulässig. Den Mitgliedstaaten ist es in Bezug auf Verordnungen des Unionsrechts verwehrt, Maßnahmen zu ergreifen, die eine Änderung ihrer Tragweite oder eine Ergänzung ihrer Vorschriften zum Inhalt haben. Es besteht ein prinzipielles unionsrechtliches Verbot der Präzisierung von EU-Verordnungen durch verbindliches innerstaatliches Recht. Eine Ausnahme von diesem Verbot besteht nur dort, wo von der Verordnung eine nähere Konkretisierung selbst verlangt wird (Öhlinger/Potacs, Gemeinschaftsrecht und staatliches Recht, 2006,138 f.).

Eine derartige Ausnahme liegt vor, wenn Art. 2 lit. n Dublin III-VO dem Gesetzgeber aufträgt, Kriterien für Vorliegen von Fluchtgefahr zu regeln (Filzwieser/Sprung, Die Dublin III-Verordnung, 94 [in Druck]). § 76 Abs. 2 a FPG sieht solche Kriterien vor. Vor dem Hintergrund der unmittelbaren Anwendbarkeit des Art. 28 Dublin III-VO hätte die belangte Behörde die Schubhaft jedoch jedenfalls auch nach dieser Bestimmung verhängen müssen. Die über das Vorliegen der Fluchtgefahr, Verhältnismäßigkeit und Erforderlichkeit (vgl. Erwägungsgrund 20 Dublin III-VO) hinausgehenden Voraussetzungen für die Verhängung der Schubhaft nach Art. 28 Abs. 3 Dublin III-VO hat die belangte Behörde aber nicht geprüft.

Auch aus diesem Grund ist der angefochtene Schubhaftbescheid vom 21. Februar 2014 sowie die auf Grund dessen erfolgte Anhaltung des Beschwerdeführers rechtswidrig. [...]