VG München

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Zitieren als:
VG München, Urteil vom 20.02.2014 - M 24 K 13.4174 - asyl.net: M21815
https://www.asyl.net/rsdb/M21815
Leitsatz:

Art. 20 Abs. 2 und Art. 33 RL 2011/95/EG stehen einer Wohnsitzauflage für subsidiär Schutzberechtigte entgegen, die zum Zweck der angemessenen Verteilung öffentlicher Sozialhilfelasten verfügt worden ist.

Schlagwörter: Wohnsitzauflage, subsidiärer Schutz, Sozialhilfebezug, Sozialleistungen, Ermessensreduzierung auf Null, Krankheit, Schwerbehinderung, Achtung des Familienlebens, Familienangehörige,
Normen: AufenthG § 12 Abs. 2 S. 2, RL 2011/95/EU Art. 20 Abs. 2, RL 2011/95/EU Art. 33,
Auszüge:

[...]

5.1.1 Rechtsgrundlage für wohnsitzbeschränkende Auflagen ist § 12 Abs. 2 Satz 2 AufenthG. Danach kann u.a. eine Aufenthaltserlaubnis, auch nachträglich, mit Auflagen, insbesondere mit einer räumlichen Beschränkung versehen werden. Diese Befugnis, von der nach pflichtgemäßem Ermessen Gebrauch zu machen ist, umfasst grundsätzlich auch die Erteilung einer Wohnsitzauflage als einen gegenüber einer räumlichen Beschränkung des Aufenthaltstitels geringeren Eingriff in die Freizügigkeit (vgl. BVerwG, U.v. 15.1 .2008, - 1 C 17.07 -, juris Rn. 13).

Allerdings sind Wohnsitzauflagen gegenüber subsidiär Schutzberechtigten, bei denen die Voraussetzungen für den Anspruch auf subsidiären Schutz nach Art. 15 b) der Richtlinie 2004/83/EG vorliegen und denen deswegen das Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG (a.F.) zuerkannt worden ist, nach Art. 28 Abs. 1 i.V.m. Art. 32 der Richtlinie 2004/83/EG unzulässig, wenn sie - wie hier - zu dem Zweck der angemessenen Verteilung öffentlicher Sozialhilfelasten verfügt worden sind (OVG NRW, U.v. 21.11.2013 - 18 A 1291/13 -, juris, Rn. 10 ff. m.N. zum Meinungsstand). Das OVG Nordrhein-Westfalen geht hierbei davon aus, dass subsidiär Schutzberechtigte insoweit ebenso wie Flüchtlinge i.S.d. der Genfer Flüchtlingskonvention im Rahmen des Rechts auf Freizügigkeit auch das Recht zur freien Wohnsitznahme beanspruchen können, das Flüchtlingen i.S.d. Genfer Flüchtlingskonvention grundsätzlich uneingeschränkt zusteht und nicht zum Zweck der angemessenen Verteilung öffentlicher Sozialhilfelasten beschränkt werden darf (vgl. hierzu BVerwG, U.v. 15.1.2008, a.a.O. Rn. 20).

Hieran hat sich auch durch das Inkrafttreten der Richtlinie (RL) 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und Rates vom 13. Dezember 2011 nichts geändert. Die hier einschlägigen Regelungen u.a. der Art. 2, 20, 29 und 33 RL 2011/95/EU gelten gemäß Art. 41 Abs. 2 der Richtlinie, soweit sie nicht bereits vorher von den Mitgliedsstaaten umgesetzt worden waren, ab dem 22. Dezember 2013 - d.h. nach Ablauf der in Art. 39 Abs. 1 RL 2011/95/EU festgelegten Umsetzungsfrist. Mit Ablauf der Umsetzungsfrist ist zwar die vom OVG Nordrhein-Westfalen zitierte Richtlinie 2004/83/EG aufgehoben worden (Art. 40 Abs. 1 RL 2011/95/EU). An die Stelle der zitierten Bestimmungen sind jedoch die nachfolgend aufgeführten Regelungen getreten.

Nach den Begriffsbestimmungen in Art. 2 Buchst. a) RL 2011/95/EU werden unter dem Oberbegriff "internationaler Schutz" die "Flüchtlingseigenschaft" und der "subsidiäre Schutzstatus" zusammengefasst. Nach Art. 20 Abs. 2 RL 2011/95/EU gilt Kapitel VII der Richtlinie, das den Inhalt des internationalen Schutzes bestimmt, sowohl für Flüchtlinge als auch für Personen mit Anspruch auf subsidiären Schutz, wenn nichts anderes bestimmt ist - was hier nicht der Fall ist. Damit sind sowohl die Vorschriften über die Freizügigkeit innerhalb eines Mitgliedstaates (Art. 33 RL 2011/95/EU) als auch über Sozialhilfeleistungen (Art. 29 RL 2011/95/EU) gleichermaßen auf Flüchtlinge wie auch auf subsidiär Schutzberechtigte anzuwenden. Nachdem - wie oben ausgeführt - die Wohnsitzbeschränkung einen Unterfall (bzw. ein Minus) der "räumlichen Beschränkung" i.S.v. § 12 Abs. 2 AufenthG darstellt und auch damit gerechtfertigt wird, sieht das erkennende Gericht das Recht auf freie Wohnsitznahme als Teil des Rechts auf Freizügigkeit an.

Die vom OVG Nordrhein-Westfalen vertretenen Auffassung, dass subsidiär Schutzberechtigte Flüchtlingen i.S. der Genfer Konvention gleichgestellt seien, ist im Hinblick auf die Zulässigkeit von Wohnsitzauflagen in der Rechtsprechung der bundesdeutschen Verwaltungsgerichtsbarkeit umstritten (die Zulässigkeit einer Wohnsitzauflage für subsidiär Schutzberechtigte verneinen neben dem OVG NRW u.a.: BayVGH, U.v. 9.5.2011 - 19 B 10.2384 -, juris Rn. 25; VG Aachen, U.v. 10.6.2013 - 9 K 2121/12 -, juris Rn. 20 ff.; VG Augsburg, U.v. 21.2.2013 - Au 6 K 12.1391 -, juris Rn. 29 ff.; VG Gelsenkirchen, U.v. 31.1.2013 - 8 K 3538/12 -, juris Rn. 12 ff.; VG Regensburg, GB.v. 13.12.2012 - RO 9 K 12.1670 -, juris Rn. 27 ff.; VG Meiningen, U.v.20.11.2012 - 2 K 349/12 -, juris Rn. 17 ff.; VG Oldenburg, U.v. 28.1.2009 - 11 A 1756/07 -, juris Rn. 28 ff.; Marx, Handbuch zur QualfRL, S. 940 Rn. 29 ff.; UNHCR-Stellungnahme zu Maßnahmen zur Beschränkung der Wohnsitzfreiheit von Flüchtlingen und subsidiär geschützten Personen, S. 15. Die Zulässigkeit einer Wohnsitzauflage bejahen u.a.: NdsOVG, U.v. 11.12.2013 - 2 LC 222/13 -, juris Rn. 34 ff. unter Verweis auf VG d. Saarlandes, U.v. 9.1.2014 - 6 K 945/13 -, juris Rn. 22 ff.; VG Stade, Urt. v. 8.1.2014 - 6 A 2847/13 -; VG Hamburg, U.v. 17.6.2013 - 8 K 2952/12 -, juris Rn. 22 ff.; VG Hannover, U.v. 9.4.2013 - 2 A 4072/12 -, juris Rn. 15 ff.).

Das erkennende Gericht schließt sich der Auffassung des OVG Nordrhein-Westfalen (a.a.O.) an und verweist zur Vermeidung von Wiederholungen auf dessen ausführliche Begründung. Damit weicht das Gericht auch nicht von der Rechtsprechung des Bayer. Verwaltungsgerichtshofs ab, der in der oben zitierten Entscheidung vom 9. Mai 2011 die Zulässigkeit von Wohnsitzauflagen für subsidiär Schutzberechtigte im Ergebnis verneint hat (a.a.O. Rn. 25).

Damit stehen die Wohnsitzauflagen jedenfalls nach der Gleichstellung der subsidiär Schutzberechtigten mit Flüchtlingen i.S.d. der Genfer Konvention in Widerspruch zu Art. 20 Abs. 2, Art. 33 RL 2011/95/EU. Sie verletzen damit höherrangiges Recht.

5.1.2 Das Ermessen der Beklagten, die jedenfalls im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts rechtswidrigen Auflagen nach Art. 48 Abs. 1 Satz 1 bzw. Art. 49 Abs. 1 BayVwVfG aufzuheben, ist im vorliegenden Fall durch die objektiv gegebene Sachlage dahingehend auf "Null" reduziert, dass die Wohnsitzbeschränkungen keinen Bestand haben können, also aufzuheben sind.

Die Anordnung einer wohnsitzbeschränkenden Auflage nach § 12 Abs. 2 AufenthG steht im pflichtgemäßen Ermessen der jeweils zuständigen Ausländerbehörde. Jedenfalls in dem für die Entscheidung des Gerichts maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung stellen sich die entsprechenden Nebenbestimmungen zur Aufenthaltserlaubnis der Kläger als ermessensfehlerhaft dar, da angesichts der dargestellten Verhältnisse es nicht vertretbar ist, allein aus Gründen der gleichmäßigen Verteilung der Sozialhilfelasten auf die Kommunen die Wohnsitznahme der Kläger auf München zu beschränken und ihnen damit den Zuzug in die Nähe ihrer Angehörigen zu verweigern.

Die Ermessenreduzierung auf "Null" tritt im Übrigen auch dann ein, wenn man hinsichtlich der Unzulässigkeit von Wohnsitzauflagen gegenüber subsidiär Schutzberechtigten nicht der Auffassung des OVG Nordrhein-Westfalen, sondern der oben dargestellten Gegenmeinung folgen sollte.

Die Erkrankung des Klägers zu 2) ist derart massiv und hat so gravierende Folgen für dessen psychische Gesundheit, dass alles, was die Bewältigung der damit zusammenhängenden Probleme erleichtern und eine Linderung seiner Leiden bewirken kann, im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten zu veranlassen ist. Das Gericht hat von den gesundheitlichen Beschwerden des in der mündlichen Verhandlung anwesenden Klägers zu 2) einen eigenen Eindruck gewinnen können. Mit schlüssigen Argumenten haben sowohl der Klägerbevollmächtigte in der Klagebegründung und seinen Ausführungen vor Gericht als auch der den Kläger behandelnde Facharzt für Neurologie J. O. in seiner Stellungnahme vom 12. Juni 2013 dargelegt, dass der Kläger, der derzeit allein mit seiner Mutter lebt und von ihr betreut wird, unter seiner Bewegungseinschränkung dermaßen leidet, dass sich bei ihm eine depressive Symptomatik bis hin zu Suizidgedanken verfestigt. Denn als einziger Ansprechpartner steht ihm seine Mutter zur Verfügung, die noch dazu körperlich und gesundheitlich nicht in der Lage ist, ihn alleine ins Bett bzw. aus dem Bett in den Rollstuhl zu bringen. Außer seiner Mutter hat er niemanden, mit denen er Kontakte pflegen kann, wobei dies schon durch die Sprachbarrieren erschwert ist. Demgegenüber stehen in Wiesbaden seine Schwester und andere Familienangehörige zur Verfügung, die nicht nur die Mutter bei der Pflege des Klägers zu 2) unterstützen können, sondern ihm Abwechslung nicht nur im persönlichen Kontakt bieten, sondern ihn auch auf Ausflüge oder zum Besuch bei Freunden mitnehmen können. Allein diese Erweiterung des Bewegungsradius des Klägers zu 2) und die Möglichkeit mit Verwandten und deren bzw. eigenen Freunden in einer ihm vertrauten Umgebung gesellschaftliche Kontakte zu pflegen, rechtfertigen es schon, ihm und seiner Mutter den Umzug in die Nähe der Verwandten zu ermöglichen. Die Argumentation der Beigeladenen, dass seitens der Kläger nicht dargelegt sei, wie die Verwandten in die Pflege eingebunden werden könnten und ob sie dazu auf Grund ihrer eigenen beruflichen bzw. familiären Verpflichtungen in der Lage wären, verkennt die eigentliche Problematik des Falles. Der Umzug der Kläger soll nicht in erster Linie seine Betreuung quasi rund um die Uhr sicherstellen, sondern ihm die Möglichkeit geben, seinen Bewegungsradius zu erweitern und ihm ein Mindestmaß an sozialen Kontakten auch mit anderen Personen zu ermöglichen, um damit seine psychische Gesundheit und möglicherweise auch sein körperliches Wohlbefinden zu verbessern.

Nach alledem hält das Gericht im Zusammenhang mit der Anwendung der Vorschriften der Art. 48 Abs. 1 Satz 1 bzw. Art. 49 Abs. 1 BayVwVfG jede andere Entscheidung für nicht vertretbar. Die Aufhebung der somit rechtswidrigen Wohnsitzauflagen ist daher auch aus diesem Grund geboten. [...]