VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 25.10.2013 - A 6 K 1527/13 - asyl.net: M21844
https://www.asyl.net/rsdb/M21844
Leitsatz:

Eine Person, die denunziert und von den Taliban bedroht wird, weil sie Aufträge für Regierungsstellen ausgeführt hat, hat Anspruch auf die Anerkennung als politischer Flüchtling, da die Verfolgung an die vermutete politische Überzeugung anknüpft.

Schlagwörter: Afghanistan, nichtstaatliche Verfolgung, Taliban, Werkstatt, politische Überzeugung, vermutete politische Überzeugung,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG liegen vor. Der Kläger musste in Afghanistan befürchten, von nichtstaatlichen Akteuren - den Taliban - wegen seiner politischen Überzeugung getötet zu werden. Er hat vorgetragen, für Angehörige der afghanischen Regierung und auch für Angehörige der ausländischen Streitkräfte Autos in seiner Werkstatt repariert zu haben. Sein Vater habe ihm dabei geholfen. Sein Vater und er seien in einem Drohbrief aufgefordert worden, die Zusammenarbeit mit den Gottlosen zu unterlassen. Er sei jedoch mangels anderer Aufträge gezwungen gewesen, diese Zusammenarbeit wieder aufzunehmen. Sein Vater sei daraufhin entführt und gefoltert worden. Als er erneut einen Auftrag angenommen habe, sei in seinem Elternhaus eine Handgranate explodiert.

Das Gericht ist davon überzeugt, dass der Kläger die Wahrheit gesagt hat. [...] Die Überzeugung des Gerichts von der Glaubhaftigkeit des Verfolgungsschicksals des Klägers beruht im Wesentlichen auf dem persönlichen Eindruck, den es von dem Kläger in der mündlichen Verhandlung bekommen hat. Der Kläger hat insbesondere die ihn berührenden Tatsachen eindrucksvoll geschildert. So hat er voll Anteilnahme dargestellt, in welchem Zustand sein Vater nach seiner Entführung nachhause zurückgekehrt ist. Weiter hat er sehr emotionale Ausführungen dazu gemacht, wie sich seine Familie unter Zurücklassen ihres ganzen Besitzes zur Flucht entschlossen hat und wie die Flucht durchgeführt worden ist, insbesondere wie er sich von seiner Familie in der Türkei hat trennen müssen.

Im Übrigen deckt sich der Vortrag des Klägers in der mündlichen Verhandlung weitgehend mit dem bei seiner Anhörung. Er ist auch widerspruchsfrei und in sich schlüssig.

Nach Würdigung aller Umstände ist das Gericht davon überzeugt, dass die Taliban den Kläger als Feind betrachten, da er in ihren Augen für Angehörige der afghanischen Regierung und der ausländischen Streitkräfte gearbeitet hat. Nachdem sich die gegen den Kläger und seinen Vater gerichteten Maßnahmen von Mal zu Mal gesteigert hatten, liegt es auf der Hand, dass sie ihn getötet hätten, wenn er nicht geflohen wäre. Somit war sein Leben wegen seiner politischen Überzeugung bedroht, wobei es ausreicht, dass die Verfolgung der von den Taliban vermuteten politischen Überzeugung des Klägers galt (vgl. BVerwG, Beschl. v. 14.02.1997 - 9 B 660.96 -, juris).

Eine innerstaatliche Fluchtalternative stand dem Kläger nicht zur Verfügung. Die Taliban haben in Afghanistan ein parallelstaatliches Rechtssystem aufgebaut. Sie setzen in den meisten afghanischen Provinzen neben Schattengouverneuren auch Schattenrichter und Polizeichefs ein (vgl. Update der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 23.08.2008). Der Kläger wäre in keiner Region Afghanistans sicher gewesen und hätte durch die afghanischen Sicherheitskräfte nicht hinreichend geschützt werden können.

Da der Kläger nach allem in Afghanistan "vorverfolgt" worden ist, priviligiert ihn § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG i.V. m. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG durch die (widerlegbare) Vermutung, dass sich die frühere Verfolgung bei seiner Rückkehr nach Afghanistan wiederholen wird (vgl. BVerwG U.v. 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, BVerwGE 136, 377 und juris). Die Beklagte hat aber keine stichhaltigen Gründe dafür benannt, dass die ihm drohende Gefahr nicht mehr bestehe. Wenn der Kläger nach Afghanistan zurückkehrte, wäre vielmehr die Gefahr vorhanden, dass er wiederum nichtstaatliche Verfolgung zu erwarten hätte. Mithin ist ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. [...]