OVG Saarland

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Zitieren als:
OVG Saarland, Urteil vom 12.02.2014 - 1 A 293/13 - asyl.net: M21850
https://www.asyl.net/rsdb/M21850
Leitsatz:

Ob ein Einbürgerungsbewerber fortgeschrittenen Lebensalters die Anforderungen des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 6 und 7 StAG erfüllen kann oder altersbedingt nicht erfüllen kann, ist im Wege einer Einzelfallprüfung zu klären, die alle für oder gegen eine ausreichende Lernfähigkeit sprechenden persönlichen Umstände in den Blick zu nehmen hat.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Einbürgerung, ältere Person, fortgeschrittenes Lebensalter, fortgeschrittenes Alter, Alter, Lernfähigkeit, Sprachkenntnisse, Deutschkenntnisse, deutsche Sprachkenntnisse, Vertretenmüssen,
Normen: StAG § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 6, StAG § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 7, StAG § 10 Abs. 6,
Auszüge:

[...]

§ 10 StAG legt fest, unter welchen Voraussetzungen ein Einbürgerungsbewerber einen Anspruch auf Einbürgerung hat. Diese Voraussetzungen erfüllt der Kläger mit Ausnahme der in Absatz 1 Satz 1 Nr. 6 in Verbindung mit Absatz 4 Satz 1 der Vorschrift geforderten Kenntnisse der deutschen Sprache und der nach Absatz 1 Nr. 7 der Vorschrift erforderlichen Kenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse in Deutschland. Sowohl hinsichtlich der geforderten Sprachkenntnisse als auch hinsichtlich der staatsbürgerlichen Kenntnisse enthält § 10 Abs. 6 StAG eine Ausnahmevorschrift, nach welcher von diesen Anforderungen abzusehen ist, wenn der Ausländer sie wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung oder altersbedingt nicht erfüllen kann. Aufgrund des Ergebnisses der mündlichen Verhandlung und des gesamten Akteninhalts hat der Senat die Überzeugung gewonnen, dass der Kläger die Anforderungen des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 6 und 7 StAG altersbedingt nicht erfüllen kann.

Die bisherige Rechtsprechung zu dem am 28.8.2007 in Kraft getretenen Ausnahmetatbestand des § 10 Abs. 6 StAG (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 22.1.2013 - 19 A 364/10 -, juris Rdnrn. 22 ff.; VG Stuttgart, Urteil vom 2.12.2011 - 11 K 839/11 -, juris Rdnrn. 30 f.; VG Aachen, Urteil vom 8.5.2013 - 4 K 1072/11 -, juris Rdnr. 27; ebenso hinsichtlich krankheitsbedingter Einschränkungen: HessVGH, Beschluss vom 12.2.2013 - 5 A 1390/12.Z -, InfAuslR 2013, 202, 203,) und die einschlägige Kommentarliteratur (Berlit in GK-StAR, Stand: 28. Erg.lfg. Dezember 2013, § 10 Rdnr. 406 m.w.N.) stimmen darin überein, dass für das Vorliegen des Ausnahmetatbestands "altersbedingt nicht erfüllen kann" allein entscheidend ist, ob der Erwerb der erforderlichen Kenntnisse im Zeitpunkt der Einbürgerung aus Altersgründen nicht mehr abverlangt werden kann. Man ist sich einig, dass das Eingreifen des Ausnahmetatbestands nicht voraussetzt, dass der Einbürgerungsbewerber seine mangelnden Kenntnisse nicht zu vertreten hat. [...]

In der einschlägigen Kommentarliteratur (Berlit in GK-StAR, a.a.O., § 10 Rdnrn. 404 ff.) heißt es zur Problematik, Abs. 6 enthalte eine strikte Pflicht, von den Voraussetzungen des Abs. 1 Satz 1 Nrn. 6 und 7 abzusehen, wenn diese wegen Alters oder Behinderung nicht erfüllt werden könnten. Der Gesetzgeber habe ein im Ansatz unflexibles "Alles-oder-Nichts-Prinzip" normiert. Die Anforderungen könnten nicht nach Maßgabe des Grades alters- oder behinderungsbedingter Beeinträchtigungen abgesenkt werden. Sie seien entweder vollständig zu erfüllen oder es sei von ihnen vollständig abzusehen. Zwischen dem Alter oder der Behinderung und dem subjektiven Unvermögen des Einbürgerungsbewerbers, die Voraussetzungen des Abs. 1 Satz 1 Nrn. 6 und 7 zu erfüllen, müsse eine kausale Verknüpfung bestehen. Abs. 6 stelle Personen nicht allein wegen ihres Alters oder ihrer Behinderung von der Erfüllung der Anforderungen frei. Diese - abschließend benannten Umstände - müssten (nachweislich) Ursache für das Unvermögen sein, diesen Anforderungen zu entsprechen. Die altersbedingten Gründe knüpften daran an, dass - bei einer typisierenden Betrach - tungsweise - die Fähigkeit schwinde, sich neue Kenntnisse und Fertigkeiten anzueignen, und es Personen gehobenen Alters auch nicht abverlangt werden solle, entsprechende Bemühungen zu entfalten. Eine strikte Alters(unter)grenze könne nicht gezogen werden, weil Fähigkeit und - vor allem - abzuverlangende Bereitschaft zum Erwerb zusätzlicher (sprachlicher oder staatsbürgerlicher) Kenntnisse auch abhingen von soziokulturellen Merkmalen wie insbesondere dem anderweitig erreichten Bildungsstand, der Erwerbsteilhabe (und den dort zu bewältigenden Herausforderungen) sowie den Anregungen, die sich aus dem individuellen Lebensumfeld ergäben. Dieser Ausnahmegrund sei damit offen für eine umfassende Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls. Vor dem Erreichen des 50. Lebensjahres werde regelmäßig indes ein altersbedingtes Unvermögen ausscheiden; ab der Vollendung des 60. Lebensjahres liege es jedenfalls nahe. Eine Übertragung der für § 12 Abs. 1 Nr. 4 StAG für die Hinnahme von Mehrstaatigkeit bei der Einbürgerung "älterer Personen" zu ziehenden Altersgrenze scheide wegen der funktionalen Verknüpfung von Alter und Unvermögen zur Erfüllung der Voraussetzungen des Absatzes 1 Satz 1 Nrn. 6 und 7 aus. Entscheidend sei allein, ob im Zeitpunkt der Einbürgerung aus Altersgründen der Erwerb der erforderlichen Kenntnisse (noch) abverlangt werden könne; Versäumnisse in der Vergangenheit seien unbeachtlich.

Nach alldem gehen Rechtsprechung und Kommentarliteratur einvernehmlich davon aus, dass der Ausnahmetatbestand des § 10 Abs. 6 StAG darauf abstellt, ob der Einbürgerungsbewerber die in Absatz 1 Satz 1 Nrn. 6 und 7 geforderten Kenntnisse im Zeitpunkt der Einbürgerung erfüllen kann oder hieran infolge einer Krankheit oder Behinderung oder altersbedingt gehindert ist, wobei es auf ein etwaiges Vertretenmüssen in Bezug auf Versäumnisse in der Vergangenheit nicht ankommt. In diese Richtung weist insbesondere auch die Formulierung in der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung, wonach Personen begünstigt werden sollen, die die Anforderungen aufgrund ihres Alters "nicht mehr erfüllen können" (BT-Drs. 16/5065, S. 229) Dieser Sichtweise stimmt der Senat vollumfänglich zu.

Das Verwaltungsgericht Stuttgart (VG Stuttgart, Beschluss vom 2.7.2013 - 11 K 1279/13 -, juris Rdnrn. 3 f.) hat sich kürzlich anlässlich eines Prozesskostenhilfeantrags, den es abgelehnt hat, erneut mit der Problematik befasst und seine oben zitierte Rechtsprechung zum altersbedingten Unvermögen dahingehend präzisiert, dass das Erreichen eines Alters von 67 Jahren für die Annahme, altersbedingt keine ausreichenden Kenntnisse der deutschen Sprache erwerben zu können, allein nicht ausreiche. Denn nicht nur die Krankheit oder Behinderung, sondern auch das Alter müsse kausal für die unzureichenden bzw. fehlenden Kenntnisse der deutschen Sprache sein. Ein hohes Alter führe nicht regelmäßig dazu, dass der Einbürgerungsbewerber an der Erlangung der von § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 StAG geforderten Kenntnisse gehindert ist. Der Einbürgerungsbewerber habe deshalb substantiiert darzutun (§ 37 Abs. 1 StAG i.V.m. § 82 Abs. 1 AufenthG), dass er gerade aufgrund seines Alters nicht (mehr) in der Lage sei, die geforderten Kenntnisse zu erwerben. Dieser Mitwirkungspflicht sei nicht genügt worden.

Dieser Argumentation ist hinsichtlich der Annahme, dass das Erreichen eines bestimmten Alters zur Tatbestandserfüllung nicht ausreiche, weil ein hohes Alter nicht regelmäßig dazu führe, dass der Einbürgerungsbewerber an der Erlangung der geforderten Kenntnisse gehindert ist – zuzustimmen. Die weitere Formulierung, das Alter müsse kausal für die unzureichenden bzw. fehlenden Kenntnisse der deutschen Sprache sein, erscheint indes gemessen am Regelungsgehalt des § 10 Abs. 6 StAG problematisch.

§ 10 Abs. 6 StAG stellt – wie ausgeführt und auch vom Verwaltungsgericht Stuttgart in seinem Urteil vom 2.12.2011 ausdrücklich anerkannt – darauf ab, ob der Einbürgerungsbewerber die Voraussetzungen des Absatzes 1 Nrn. 6 und 7 im Zeitpunkt der Einbürgerung erfüllen kann. Der Ausnahmetatbestand knüpft nicht an den Umstand an, dass der Einbürgerungsbewerber die Anforderungen zur Zeit der Antragstellung nicht erfüllt, und befasst sich daher nicht mit der Frage, aus welchen Gründen er diesen Anforderungen derzeit nicht genügt. Tatbestandrelevant ist vielmehr, ob der Einbürgerungsbewerber die Anforderungen "erfüllen kann". Entscheidend ist daher, ob er sie erfüllen könnte, wenn er dies wollte und entsprechende Bemühungen zum Erwerb der geforderten Kenntnisse unternähme, oder ob er die Anforderungen infolge krankheits- oder altersbedingter Einschränkungen auch bei Entfalten diesbezüglicher Anstrengungen nicht mehr erfüllen kann. Damit ist einzelfallbezogen zu klären, ob trotz Krankheit oder Behinderung oder fortgeschrittenen Lebensalters unter Berücksichtigung der konkreten Lebensentwicklung und -umstände des Einbürgerungsbewerbers davon auszugehen ist, dass dessen etwaige Bemühungen, Sprachkenntnisse auf dem durch § 10 Abs. 4 Satz 1 StAG vorgegebenen Niveau sowie die geforderten staatsbürgerlichen Kenntnisse zu erwerben, erfolgversprechend wären. Bejahendenfalls ist ihm zuzumuten, diese Bemühungen zu unternehmen, wobei sich im Falle eines Nichtbestehens der anschließenden Prüfungen die Frage stellen würde, ob das – behördlicher- bzw. gerichtlicherseits nicht erwartete – Scheitern seine Ursache in unzureichenden Anstrengungen, sonstigen Gründen (z.B. Analphabetismus eines noch lebensjungen Einbürgerungsbewerbers (BVerwG, Urteil vom 27.5.2010 - 5 C 8/09 -, juris)) oder einem der in § 10 Abs. 6 StAG aufgeführten Gründe hat. Denn es soll – so auch Berlit (Berlit in GK-StAR, a.a.O., § 10 Rdnr. 406) – Einbürgerungsbewerbern im fortgeschrittenen Lebensalter angesichts der typischerweise im Alter schwindenden Fähigkeit, sich neue Kenntnisse und Fertigkeiten anzueignen, nicht ausnahmslos zugemutet werden, entsprechende Bemühungen, Kenntnisse auf dem geforderten Niveau zu erwerben, zu entfalten. Nach alldem geht es in § 10 Abs. 6 StAG um die Ursache für ein etwaiges Unvermögen, sich fehlende Kenntnisse anzueignen, nicht hingegen – wie das Verwaltungsgericht Stuttgart in seinem Beschluss vom 2.7.2013 möglicherweise andeuten will und der Beklagte im Einzelnen argumentiert – um die Ursache für den Umstand, dass der Einbürgerungsbewerber die geforderten Kenntnisse aktuell nicht erfüllt. Die vom Beklagten vertretene Kausalitätsbetrachtung geht am Tatbestand des § 10 Abs. 6 StAG vorbei, denn sie setzt an einem falschen Punkt an. Der Beklagte sucht die Ursache der fehlenden Kenntnisse, die er in dem Unterlassen in der Vergangenheit sieht. Nach dem Gesetz ist indes zu klären, ob der Einbürgerungsbewerber aktuell über die für den Erwerb der geforderten Kenntnisse notwendige Lernfähigkeit verfügt oder eben etwa aufgrund seines Alters nicht mehr verfügt. Entscheidungserheblich ist daher nicht, ob in der Vergangenheit die Möglichkeit des Erwerbs der Kenntnisse bestanden hätte, aber nicht genutzt wurde, sondern allein, ob die geforderten Kenntnisse derzeit aufgrund eines der in § 10 Abs. 6 StAG aufgeführten Tatbestände nicht mehr erworben werden können. Es trifft nach alldem nicht zu, dass in den Genuss der Ausnahmevorschrift grundsätzlich nur kommen soll, wer erst im hohen Alter eingereist ist.

In rechtlicher Hinsicht ist des Weiteren zu bekräftigen, dass § 10 Abs. 6 StAG kein Ermessen eröffnet. Liegt einer der Ausnahmetatbestände vor, so "ist abzusehen", d.h. der Einbürgerungsbewerber hat - soweit er die übrigen Einbürgerungsvoraussetzungen erfüllt - einen Anspruch darauf, dass er trotz des Fehlens der Kenntnisse eingebürgert wird. § 10 Abs. 6 StAG ist Teil der am 28.8.2007 in Kraft getretenen Neuregelung des Einbürgerungsrechts. Im Gesetzgebungsverfahren war auf Betreiben der Länder erwogen worden, den Ausnahmetatbestand als Ermessensvorschrift auszugestalten, dieser Ansatz konnte sich aber nicht durchsetzen. Diesbezüglich heißt es in der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 16/5107, S. 13) : "Die Ermessensregelung in Abs. 6 lehnt die Bundesregierung ab, da bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen kein Raum mehr für ein Ermessen der Staatsangehörigkeitsbehörde bleibt. Wenn der Einbürgerungsbewerber aufgrund seiner Behinderung oder seiner altersbedingten Beeinträchtigung den Nachweis ausreichender Sprachkenntnisse oder staatsbürgerlicher Kenntnisse nicht erbringen kann, muss zwingend von diesen Voraussetzungen abgesehen werden."

Im Rahmen der damit vorzunehmenden Einzelfallprüfung können die Behörden oder das Gericht sich zwar bei Bedarf sachverständiger Hilfe bedienen, müssen dies aber nicht, wenn die konkreten Umstände keinen vernünftigen Zweifel daran lassen, dass einer der in § 10 Abs. 6 StAG aufgeführten Ausnahmetatbestände erfüllt ist (so auch Nr. 10.6 der Vorläufigen Anwendungshinweise des BMI vom 17.4.2009). So liegt der Fall hier.

Nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung vor dem Senat und den sich aus dem Akteninhalt ergebenden Erkenntnissen ist nicht anzunehmen, dass der Kläger in der Lage wäre, sich Kenntnisse der deutschen Sprache in mündlicher und schriftlicher Form auf dem durch § 10 Abs. 4 StAG vorgegebenen Niveau sowie die von § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 StAG geforderten Kenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse in Deutschland, die nach § 10 Abs. 5 Satz 1 StAG in der Regel durch das Bestehen eines Einbürgerungstests nachzuweisen sind, anzueignen.

Der Kläger ist inzwischen 71 Jahre alt und befindet sich damit in einem Lebensalter, in dem die Fähigkeit, sich neue Kenntnisse anzueignen zwar durchaus bestehen, aber nicht als im Regelfall gegeben unterstellt werden kann (vgl. hierzu auch Berlit in GK-StAG, a.a.O., § 10 Rdnr. 406). Seine persönlichen Lebensumstände spielen daher eine maßgebliche Rolle für die Entscheidung der Frage, ob davon ausgegangen werden kann, dass er bei Entfalten entsprechender Bemühungen in der Lage wäre, die Anforderungen des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 6 und 7 StAG zu erfüllen.

Nach den Bekundungen seines Sohnes in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat hat der Kläger nie eine Schule besucht und nie das Lesen und Schreiben gelernt, sondern seit jungen Jahren Arbeit auf dem Feld verrichten müssen. Dass diese Angaben nicht zutreffen könnten, ist nicht anzunehmen. Der Kläger ist 1942 geboren. Dass Ende der vierziger Jahre in den kurdischen Gebieten der Türkei flächendeckend die Möglichkeit oder gar Pflicht bestanden haben könnte, eine Schule zu besuchen, erscheint äußerst fernliegend. Der Senat hegt daher keinen Zweifel daran, dass der Kläger in seinem Herkunftsland, das er im Alter von 48 Jahren verlassen hat, nie eine Schule besucht und auch sonst keine Ausbildung absolviert hat, sondern vielmehr Tätigkeiten nachgegangen ist, die ihn sicherlich weitaus mehr in körperlicher als in geistiger Hinsicht gefordert haben.

Der Sohn des Klägers hat weiter angegeben, bei den ärztlichen Untersuchungen anlässlich der Einreise des Klägers sei die Notwendigkeit mehrerer Operationen festgestellt worden. Entsprechende Behandlungsmöglichkeiten hätten dem Kläger in der Türkei nicht offen gestanden. Trotz allem habe seine Arbeitsfähigkeit nicht wiederhergestellt werden können. Eine Arbeitsaufnahme sei ihm behördlicherseits und seitens seiner Ärzte strikt untersagt worden. Mit diesen Angaben korrespondiert, dass ausweislich Blatt 184 der Verwaltungsakte anlässlich einer auf Betreiben des Sozialamtes der Gemeinde A-Stadt durchgeführten amtsärztlichen Untersuchung vom 10.12.2001 festgestellt wurde, dass der Kläger auf nicht absehbare Zeit arbeitsunfähig und – vorbehaltlich eines Entscheids des gesetzlichen Rentenversicherungsträgers – erwerbsunfähig ist. Ausweislich Blatt 32 und 33 der Verwaltungsakte hat der sozialmedizinische Dienst der Landesversicherungsanstalt für das Saarland als Rentenversicherungsträger auf ein Ersuchen nach dem Grundsicherungsgesetz mit Schreiben vom 20.5.2003 bestätigt, dass der Kläger unabhängig von der Arbeitsmarktlage voll erwerbsgemindert und es unwahrscheinlich sei, dass die volle Erwerbsminderung behoben werden könne. Damit steht für den Senat außer Zweifel, dass der Kläger sich auch nach seiner Einreise nie in einer Situation befunden hat, in der er gehalten gewesen wäre, sich zwecks Ausübung einer Erwerbstätigkeit gewisse Kenntnisse und Fähigkeiten anzueignen, ohne die selbst eine ungelernte Kraft auf dem hiesigen Arbeitsmarkt nicht auskommen kann. Er war mithin – abgesehen von der früheren (sicherlich primär durch körperlichen Einsatz geprägten) Arbeit auf dem Feld – nie in der Situation, Anweisungen und Arbeitsabläufe verstehen, mit anderen arbeitsteilig zusammenarbeiten und sich in einen Kollegenkreis einbringen zu müssen. Er konnte demgemäß nicht von Kontakten zu Arbeitskollegen und der Notwendigkeit, sich im Erwerbsleben zurechtfinden zu müssen und sich verständlich zu machen, profitieren. Eine "Erwerbsteilnahme" im Sinne der oben wiedergegebenen Ausführungen in der Kommentierung von Berlit gab es daher nie. Infolge seiner Erwerbsunfähigkeit bestand für ihn keine Möglichkeit, sich über die normalen Anforderungen einer Erwerbstätigkeit sprachlich und sozial in die hiesigen Lebensverhältnisse zu integrieren. Insofern verwundert auch nicht, dass er nach den glaubhaften Bekundungen seines Sohnes in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat seit seiner Einreise sehr zurückgezogen und ohne nennenswerte soziale Kontakte zu Deutschen lebt.

Nach alldem sind die Lebensbedingungen und die aktuelle Lebenssituation des Klägers maßgeblich dadurch geprägt, dass er noch nie in seinem Leben in beachtlicher Weise geistig gefordert war.

Dem Senat erschließt sich nicht, woran in einem solchen Fall die Erwartung anknüpfen sollte, der Kläger sei ungeachtet seines fortgeschrittenen Alters und unter Berücksichtigung seiner ganz persönlichen Lebensumstände gegenwärtig in der Lage, erstmals in seinem Leben eine Fremdsprache so zu erlernen, dass er dem seit 2007 verschärften Anforderungsniveau gerecht wird und zudem die geforderten staatsbürgerlichen Kenntnisse zu erwerben, die ihrerseits ein gewisses Sprachverständnis und die Fähigkeit, politische und gesellschaftliche Zusammenhänge erfassen zu können, voraussetzen. Die Schlussfolgerung, dass es dem 71-jährigen Kläger nicht mehr gelingen wird, sich die geforderten Kenntnisse anzueignen, liegt so nahe, dass es ihrer Bestätigung durch Einholung eines (amts-)ärztlichen Gutachtens nicht bedarf.

Soweit die Vertreterin des Beklagten in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat auf die Nichtnutzung der Möglichkeit hingewiesen hat, sich in jüngeren Jahren in Volkshochschulkursen Sprachkenntnisse anzueignen, ist weder geklärt, ob es ein solches Angebot für kurdisch sprechende Interessenten gegeben hat, noch ist dies entscheidungserheblich. Denn es kommt – wie ausgeführt – nicht darauf an, ob der Kläger in der Vergangenheit versäumt hat, ihm offenstehende Möglichkeiten, Sprachkenntnisse zu erwerben, zu nutzen, sondern entscheidend ist, dass angesichts seines fortgeschrittenen – typischerweise mit schwindender Lernfähigkeit verbundenen – Lebensalters und seiner gesamten Lebensumstände nicht angenommen werden kann, dass er heute noch über die für den Erwerb der geforderten Kenntnisse notwendige Lernfähigkeit verfügt.

Die weitere rechtliche Argumentation der Vertreterin des Beklagten in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat, die im Rahmen von Ermessenseinbürgerungen bestehenden Möglichkeiten, Einbürgerungsbewerbern unter bestimmten Voraussetzungen Privilegierungen zukommen zu lassen, wären sinnlos und gesetzestechnisch unverständlich, wenn § 10 Abs. 6 StAG das "Ersitzen" einer Anspruchseinbürgerung ermöglichen würde, geht ebenfalls fehl. Wie ausgeführt bedarf es im Rahmen des Ausnahmetatbestandes des Absatzes 6 einer konkreten Einzelfallbetrachtung, die nicht nur das jeweilige Alter in den Blick nimmt, sondern unter Würdigung aller für und gegen ein (Fort-)Bestehen hinreichender Lernfähigkeit sprechenden persönlichen Lebensumstände entweder den Schluss rechtfertigt, dass ungeachtet des fortgeschrittenen Alters noch eine ausreichende Lernfähigkeit besteht oder eben nicht erwartet werden kann. Mit "Ersitzen" hat diese Regelung nichts zu tun.

Da der Kläger als Asylberechtigter anerkannt ist, ist gemäß § 12 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 6 StAG von der Einbürgerungsvoraussetzung des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StAG (Aufgabe oder Verlust der bisherigen Staatsangehörigkeit) abzusehen. [...]