SG Hannover

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Zitieren als:
SG Hannover, Beschluss vom 04.03.2015 - S 27 SO 36/15 ER - asyl.net: M22989
https://www.asyl.net/rsdb/M22989
Leitsatz:

Die räumlichen und sachlichen Einschränkungen der §§ 10a, 11 Abs. 2 AsylbLG und § 71 AsylVfG müssen bei einem Leistungsberechtigten, der einer bestimmten räumlichen Beschränkung zuwider bei seiner Familie (Ehefrau und fünfjähriger Sohn) in einer anderen als der ihm zugewiesenen Gemeinde wohnt, im Hinblick auf die grundrechtliche Bedeutung des Schutzes von Ehe und Familie durch Art. 6 GG zurücktreten (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 16.06.2000, 4 M 2124/00).

Schlagwörter: Sozialleistungen, Eilbedürftigkeit, einstweilige Anordnung, Eilantrag, Eilverfahren, örtliche Zuständigkeit, Schutz von Ehe und Familie, räumliche Beschränkung, Wohnsitzauflage, tatsächlicher Aufenthaltsort, Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz,
Normen: SGG § 86b Abs. 2 S. 1, AsylbLG § 1 Abs. 1 Nr. 7, AsylbLG § 10a Abs. 1 S. 2, AsylbLG § 3, AsylbLG § 11 Abs. 2, AsylbLG § 10a, AsylbLG § 11 Abs. 2, AsylVfG § 71, GG Art. 6,
Auszüge:

[...]

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang zulässig und begründet.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache, soweit nicht ein Fall des Abs. 1 dieser Vorschrift vorliegt, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Satz 2 der Vorschrift). Die §§ 920, 921, 923, 926, 928 bis 932, 938, 939 und 945 der Zivilprozessordnung (ZPO) gelten entsprechend (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG). Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist, dass sowohl die überwiegende Wahrscheinlichkeit eines in der Sache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs (Anordnungsanspruch), als auch die besonderen Gründe für die Notwendigkeit der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes (Anordnungsgrund), also die Eilbedürftigkeit, glaubhaft gemacht werden. Können ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, sind die Erfolgsaussichten der Hauptsache nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen. Scheidet eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren aus, ist auf der Grundlage einer an der Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes orientierten Folgenabwägung zu entscheiden (Bundesverfassungsgericht - BVerfG -, Beschluss vom 12.05.2005 -1 BvR 569/05 -, NVwZ 2005, S. 927).

Die vorläufige Gewährung von Leistungen für den Zeitraum vor Eilantragstellung ist abzulehnen, da insoweit ein Anordnungsgrund nicht glaubhaft gemacht wurde. Die einstweilige Anordnung dient der vorläufigen Regelung eines gegenwärtigen Rechtsverhältnisses (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 28. März 2011, L 13 AS 82/11 B ER, LS - zitiert nach juris). Das Vorliegen eines Anordnungsgrundes setzt deshalb regelmäßig einen gegenwärtigen Bedarf voraus. Leistungen für die Zeit vor Eilantragstellung können daher grundsätzlich nicht im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes geltend gemacht werden. Lediglich dann, wenn der nicht erfolgte Ausgleich für die Vergangenheit noch in der Weise in die Zukunft hineinwirkt, dass durch die nicht erfolgte Leistungsverpflichtung für die Vergangenheit erhebliche und schwerwiegende Rechtsverletzungen für die Zukunft drohen (sog. Nachholbedarf, vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 28. März 2011, L 13 AS 82/11 B ER, Rdz. 5 mit weiteren Nachweisen - zitiert nach juris), käme ausnahmsweise eine Verpflichtung des Grundsicherungsträgers in Betracht. Für einen solchen Nachholbedarf gibt es vorliegend indes keine hinreichenden Anhaltspunkte.

Für die Zeit ab 01.03.2015 folgt der Anordnungsgrund hingegen aus dem existenzsichernden Charakter der geltend gemachten Leistungen und auch ein Anordnungsanspruch wurde glaubhaft gemacht.

Der Antragsteller ist gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 7 AsylbLG leistungsberechtigt nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, da er bei dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge einen Asylfolgeantrag i.S.d. § 71 des Asylverfahrensgesetzes(AsylVfG) gestellt hat.

Der Antragsgegner ist nach der gebotenen summarischen Prüfung auch der örtlich zuständige Leistungsträger. Gemäß § 10a Abs. 1 S. 2 AsylbLG ist für die Leistungen nach diesem Gesetz die nach § 10 bestimmte Behörde örtlich zuständig, in deren Bereich der Leistungsberechtigte auf Grund der Entscheidung der vom Bundesministerium des Innern bestimmten zentralen Verteilungsstelle verteilt oder von der im Land zuständigen Behörde zugewiesen worden ist. Im übrigen ist die Behörde zuständig, in deren Bereich sich der Leistungsberechtigte tatsächlich aufhält. Der Antragsteller hält sich unstreitig bei seiner Familie in der Gemeinde Weyhe und somit im Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners auf.

Der Umfang der zu gewährenden Leistungen bestimmt sich nach dem neugefassten § 3 AsylbLG.

Der den Leistungsumfang einschränkende § 11 Abs. 2 AsylbLG findet nach summarischer Prüfung keine Anwendung, Zwar gilt eine räumliche Beschränkung aus einem früheren Asylverfahren fort, solange keine andere Entscheidung ergeht (§ 71 Abs. 7 AsylVfG) und Leistungsberechtigten darf in den Teilen der Bundesrepublik Deutschland, in denen sie sich einer asylrechtlichen räumlichen Beschränkung zuwider aufhalten, die für den tatsächlichen Aufenthaltsort zuständige Behörde nur die nach den Umständen unabweisbar gebotene Hilfe leisten (§ 11 Abs. 2 AsylbLG). Da die Ehefrau des Antragstellers und der gemeinsame fünfjährige Sohn jedoch in der Gemeinde Weyhe leben, ist es dem Antragsteller nicht zuzumuten, diesen schützenden sozialen Raum zu verlassen, um seinen Wohnsitz im deutlich entfernten Landkreis Regensburg aufzunehmen, zumal sich die Beigeladene für derzeit unzuständig erklärt hat. Aufgrund der besonderen Umstände des vorliegenden Falles müssen daher die räumlichen und sachlichen Einschränkungen der §§ 10a, 11 Abs. 2 AsylbLG und § 71 AsylVfG im Hinblick auf die grundrechtliche Bedeutung des Schutzes von Ehe und Familie durch Art 6 GG zurücktreten (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 16.06.2000, 4 M 2124/00 - zitiert nach juris).

Der Leistungszeitraum war aufgrund der laufenden aufenthalts- und asylrechtlichen Antragsverfahren und der insoweit ausstehenden Entscheidungen, die eine Überprüfung der Leistungsvoraussetzungen zur Folge haben können, zunächst bis zum 31.05.2015 zu beschränken.

Leistungen nach dem SGB II und dem SGB XII kamen aufgrund der Regelung des § 7 Abs. 1 Nr. 3 SGB II und des Nachrangs der Sozialhilfe in Verbindung mit § 9 Abs. 1 AsylbLG nicht in Betracht. [...]