VG Berlin

Merkliste
Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 11.09.2015 - 33 K 152.15 A - asyl.net: M23296
https://www.asyl.net/rsdb/M23296
Leitsatz:

1. Jedenfalls seit Ablauf der Umsetzungsfrist der Asylverfahrensrichtlinie 2013 hat der Schutzsuchende auch dann ein unionsrechtliches Recht auf Prüfung seines Zweitantrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, wenn ihm in einem anderen Mitgliedstaat zuvor der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt wurde.

2. Sein Asylantrag kann daher nicht wegen dieses (minderen Schutzstatus) als unzulässig abgewiesen werden.

(Amtliche Leitzsätze)

Schlagwörter: Dublinverfahren, subsidiärer Schutz, internationaler Schutz, Zweitantrag, Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, Dublin II-VO, unzulässig,
Normen: GR-Charta Art. 18, AsylVfG § 3,
Auszüge:

[...]

Das Bundesamt ist rechtsfehlerhaft davon ausgegangen, dass der Asylantrag insgesamt unzulässig ist. Dies ist nicht der Fall. Zwar hat die Republik Polen dem Kläger internationalen Schutz zugesprochen, so dass er gleich- oder minderwertigen Schutz nicht erneut in der Bundesrepublik Deutschland beanspruchen kann (BVerwG, Urteil vom 17. Juni 2014 – BVerwG 10 C 7.13 –, NVwZ 2014, 1460 [1463 f.]).

Nach Ansicht der Kammer ist dabei aber nach der Art des gewährten internationalen Schutzes zu differenzieren. Aus der beigezogenen Akte der Beklagten ergibt sich, dass dem Kläger in der Republik Polen (lediglich) die subsidiäre Schutzberechtigung (Art. 13-14 Qualifikations-RL: im deutschen Recht: § 4 AsylVfG) und nicht die Flüchtlingseigenschaft (Art. 15-17 Qualifikations-RL; im deutschen Recht: § 3 AsylVfG) zuerkannt wurde. So hat der Kläger selbst in seiner Anhörung am 22. August 2011 vor dem Bundesamt angegeben, dass er in der Republik Polen einen "teilweise positiven Bescheid" erhalten habe. Welchen Status er genau innehabe, vermochte er nicht zu sagen. Gegen eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in der Republik Polen spricht auch, dass die polnische Übernahmeerklärung vom 15. März 2010 sich auf den Übernahmegrund eines abgelehnten Schutzgesuchs stützt. Schließlich ist im polnischen Ausweisdokument vom 14. Mai 2009 festgehalten, dass der Kläger "ochrona uzupe?niaj?ca" (subsidiär Schutzberechtigter) und eben nicht "uchod?ca" (Flüchtling) ist (siehe dazu auch den in dieser Sache ergangenen Beschluss vom 11. Februar 2014 – VG 33 K 347.12 A –, S. 2 des Entscheidungsabdrucks).

Damit aber ist über das – als Zweitantrag zu behandelnde – Begehren des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft noch nicht (erneut) entschieden. Da der Kläger aber ein entsprechendes unionsrechtliches Recht hat, fehlt es ihm entgegen der Ansicht der Beklagten auch nicht am Rechtsschutzbedürfnis für seinen (umfassend zu verstehenden) Asylantrag.

So gewährleistet Art. 18 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Grundrechtecharta) das Recht auf Asyl nach Maßgabe der Genfer Flüchtlingskonvention und der unionsrechtlichen Verträge. Nach dem so inkorporierten Art. 78 Abs.1 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen (AEUV) soll in der Europäischen Union gewährleistet sein, dass jedem Drittstaatsangehörigen, der internationalen Schutz benötigt, ein angemessener Status angeboten wird. Diese primärrechtliche Verpflichtung wurde mit der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (Asylverfahrens-RL 2013), die spätestens bis zum 20. Juli 2015 umzusetzen war (Art. 51 Abs. 1 Asylverfahrens-RL 2013), und der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit internationalem Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Qualifikations-RL 2011) auch sekundärrechtlich umgesetzt. Aus der Asylverfahrens-RL 2013 und der Qualifikations-RL 2011 ergibt sich dabei, dass der Schutzsuchende auch dann noch einen unionsrechtlichen Anspruch auf Prüfung seines Antrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft hat, wenn ihm bereits subsidiärer Schutz zuerkannt wurde, und zwar auch dann, wenn es sich um einen weiteren Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft handelt.

So ergibt sich zunächst aus Art. 10 Abs. 2 Asylverfahrens-RL 2013 ein zweistufiges System zur Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz. Bei einer solchen Prüfung hat die Asylbehörde zunächst festzustellen, ob der Antragsteller die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling erfüllt; ist dies nicht der Fall, wird festgestellt, ob der Antragsteller Anspruch auf subsidiären Schutz hat. Dabei haben die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass ein Rechtsbehelf nur dann im Hinblick auf die Flüchtlingseigenschaft als unzulässig betrachtet wird, wenn der dem Rechtsbehelfsführer zugesprochene subsidiäre Schutz in dem jeweiligen Mitgliedstaat der betreffenden Person die gleichen Rechte und Vorteile einräumt wie der Flüchtlingsstatus (Art. 46 Abs. 2 Asylverfahrens-RL 2013). Dies ist sowohl in der Bundesrepublik Deutschland (vgl. etwa § 26 Abs. 1 S. 2 und 3 Aufenthaltsgesetz [AufenthG]; sowie insbesondere § 29 Abs. 3 S. 1 i.V.m. § 25 Abs. 2 S. 1 AufenthG) als auch in der Republik Polen (Art. 89i des in englischer Sprache verfügbaren "Act of 13 June 2003 on granting protection to foreigners within the territory of the Republic of Poland") gerade nicht der Fall (siehe auch Art. 23 Abs. 1, Art. 24 Abs. 1 und Abs. 2 Qualifikations-RL 2011). Nach Art. 46 Abs. 2 Asylverfahrens-RL hat der Flüchtling also ein Recht darauf, dass über seinen Antrag auf Flüchtlingszuerkennung auch dann durch einen der Mitgliedstaaten entschieden wird, wenn er bereits als subsidiär Schutzberechtigter anerkannt ist. Handelt es sich dabei – wie vorliegend – um einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz, nachdem ein früherer Antrag bereits in einem anderen Mitgliedstaat gestellt wurde, darf die Prüfung – wie vom Bundesamt vormals erfolgt – zunächst in einer Art Vorverfahren darin bestehen, zu prüfen, ob neue Elemente oder Erkenntnisse in der Frage der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vorliegen (Art. 33 Abs. 1 lit. d], Art. 40 Asylverfahrens-RL 2013). Dem entspricht im deutschen Recht die nach § 71a AsylVfG zu erfolgende Prüfung, ob ein weiteres Asylverfahren durchzuführen ist (zur Vereinbarkeit des § 71a AsylVfG mit Unionsrecht siehe VG Berlin, Beschluss vom 17. Juli 2015 – VG 33 L 164.15 A –, juris, Rn. 10 ff.; zur Beschränkung auf Fälle, in denen im anderen Mitgliedstaat eine sachliche Prüfung des Ersuchens um internationalen Schutz erfolgte siehe VG Berlin, Beschluss vom 31. Juli 2015 – VG 33 L 215.15 A –, juris, Rn. 12 ff.). Daraus folgt aber zugleich, dass eine Ablehnung des Antrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht ohne diese Vorprüfung erfolgen darf, vielmehr hat der Kläger ein Recht auf entsprechende Prüfung der Flüchtlingseigenschaft (vgl. bereits VG Berlin, Urteil vom 30. Juni 2015 – VG 33 K 181.13 A –, S. 10 des Entscheidungsabdrucks).

Auch aus Art. 13 Qualifikations-RL 2011 folgt, dass die Mitgliedstaaten einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen bei Vorliegen der Voraussetzungen die Flüchtlingseigenschaft zuerkennen. Eine Ausnahme von dieser mitgliedstaatlichen Pflicht für den Fall, dass der Schutzsuchende bereits subsidiären Schutz erhalten hat, ist in der Qualifikationsrichtlinie 2011 nicht ersichtlich (siehe insbesondere Art. 12 Abs. 1 Qualifikations-RL 2011). Fehlt es an einer derartigen ausdrücklichen Ausnahme, sind die Mitgliedstaaten jedoch gehindert, strengere Vorschriften einzuführen (Umkehrschluss aus Art. 3 Qualifikations-RL 2011).

Schließlich ergibt sich auch aus der vom Bundesamt zitierten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nichts anderes, da das Bundesverwaltungsgericht bislang nur über die Konstellation höher- bzw. gleichwertigen Schutzes entschieden hat (BVerwG, Urteil vom 17. Juni 2014 – 10 C 7.13 –, NVwZ 2014, 1460 [1463]), vorliegend es aber gerade darum geht, dass dem Kläger bislang nur ein geringwertigerer Schutz verliehen wurde.

Auch die vom Bundesamt (ohne Angabe einer Seitenzahl bzw. Randnummer) in Parallelverfahren zitierte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts steht dem nicht entgegen (BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 – 2 BvR 1938, 2315/93 –, BVerfGE 94, 49). In der damaligen Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht zwar entschieden, dass Folge der Möglichkeit des Schutzes in einem sicheren Drittstaat auch ist, dass die – damals nach § 51 Ausländergesetz zu prüfende – Bedrohung des Lebens oder der Freiheit des Ausländers wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (siehe heute § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG, § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG), d.h. die Flüchtlingseigenschaft nicht zu prüfen ist (BVerfGE 94, 49 [95, 97]). Der Beklagte ist sicherlich dahin gehend zuzustimmen, dass diese Überlegung des Bundesverfassungsgerichts erst recht für Fälle gilt, in denen nicht nur die Möglichkeit des Schutzes bestand, sondern tatsächlich (teilweise) Schutz gewährt wurde. Dennoch sind diese Ausführungen von der danach erfolgten Europäisierung des Asylrechts überholt. Bereits damals hatte das Bundesverfassungsgericht darauf hingewiesen, dass die Drittstaatenregelung hinter völkerrechtlichen Vereinbarungen zurücktreten kann (BVerfGE 94, 49 [86]). Dazu gehöre das – damals noch nicht in Kraft getretene – Dubliner Übereinkommen über die Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften gestellten Asylantrages vom 15. Juni 1990 (BVerfGE 94, 49 [86]; siehe auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 30. Juli 2003 – 2 BvR 1880/00 –, BVerfGK 1, 298 [302 f.]). Zu der erst mehrere Jahre nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts verabschiedeten Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrag zuständig ist (sog. Dublin-II-VO) und zu der nunmehr geltenden Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin-III-VO), d.h. der mit diesen Verordnungen sowie den Asylverfahrensrichtlinien und Qualifikationsrichtlinien bewirkten Europäisierung des Asylrechts konnte das Bundesverfassungsgericht naturgemäß keine Aussage treffen. [...]

Die Feststellung im Tenorierungspunkt Nr. 1 des Bescheides des Bundesamtes vom 17. April 2015, dass der Asylantrag des Klägers unzulässig ist, ist nach den obigen Ausführungen rechtswidrig und verletzt den Kläger daher in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO).

Denn unabhängig von der Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen die Dublin-II-VO bzw. Dublin-III-VO generell subjektive Rechte der Asylbewerber begründet, erwächst aus Art. 3, Art. 16 Dublin-II-VO bzw. Art. 3 Abs. 1, Art. 18 Abs. 1 Dublin-III-VO zumindest ein subjektives Recht des jeweiligen Antragstellers auf Entscheidung (irgend-)eines Mitgliedstaats über seinen Antrag (VG Berlin, Urteil vom 31. Oktober 2014 – 33 K 155.14 A –, juris, Rn. 24; siehe in diesem Zusammenhang auch VG Berlin, Beschluss vom 19. März 2014 – VG 33 L 90.14 A –, juris). Durch das Zuständigkeitssystem der Verordnungen soll gerade vermieden werden, dass Schutzsuchende unter Verweis auf – vermeintlich – bestehende Unzuständigkeiten unbeschieden bleiben. Versagt das Bundesamt dem Kläger vorliegend unter Verweis auf seinen (minderen) Schutzstatus in der Republik Polen die sachliche Entscheidung über seinen (darüber hinaus gehenden) Antrag, so läuft dieser Gefahr, dass über seinen Zweitantrag entgegen der oben dargestellten unionsrechtlichen Vorgaben nicht entschieden wird. Die Beklagte sei an dieser Stelle vorsorglich erneut darauf hingewiesen, dass die Dublin-II-VO bzw. Dublin-III-VO vorliegend zur Anwendung gelangt (siehe bereits das in dieser Sache ergangene Urteil vom 6. November 2014 – VG 33 K 157.14 A –, S. 6-7 des Entscheidungsabdrucks; sowie aktuell VG Berlin, Urteil vom 10. September 2015 – VG 33 K 113.15 A –, zur Veröffentlichung in juris vorgesehen).

Aufgrund des bislang unerfüllten Anspruchs auf Bescheidung des Asylantrags ist zudem die Anordnung der Abschiebung in Tenorierungspunkt Nr. 2 des Bescheides des Bundesamtes vom 17. April 2015 in die Republik Polen rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO). Wegen des Übergangs der Zuständigkeit für die Prüfung des weiteren Antrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auf die Bundesrepublik Deutschland ist nicht sichergestellt, dass die Republik Polen diesen unionsrechtlichen Anspruch des Klägers prüft. Die Republik Polen ist an die im März 2010 ausgesprochene Übernahmeerklärung infolge des Fristablaufes nicht mehr gebunden (Art. 20 Abs. 2 Dublin-II-VO bzw. Art. 29 Abs. 2 Dublin- III-VO).

Damit kommt eine Abschiebung in die Republik Polen auf der Grundlage des § 34a i.V.m. § 26a AsylVfG nicht in Betracht. Eine Abschiebung des Klägers auf der Grundlage von § 34a i.V.m. § 27a AsylVfG ist ohnehin aufgrund des Zuständigkeitsübergangs ausgeschlossen. [...]