LSG Niedersachsen-Bremen

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Zitieren als:
LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 16.11.2015 - L 8 SO 241/15 B ER - asyl.net: M23352
https://www.asyl.net/rsdb/M23352
Leitsatz:

1. Halten sich Betroffene entgegen einer ausländerrechtlichen Beschränkung in einem Ort in Deutschland auf, darf der zuständige Träger der Sozialhilfe nur die nach den Umständen gebotenen Leistungen erbringen.

2. Unabweisbar geboten sind im Regelfall lediglich Leistungen für die Rückreise an den aufenthaltsrechtlich erlaubten Ort. Dies gilt jedoch dann nicht, wenn Gründe vorliegen, die einen Verbleib am Ort des tatsächlichen Aufenthalts zwingend erfordern oder eine Rückkehr in das Gebiet der räumlichen Beschränkung unzumutbar erscheinen lassen.

3. Eine Beschränkung auf die Rückreisekosten kommt nach der Rechtsprechung nicht in Betracht, wenn der auch in Abwägung des Gesetzeszwecks nach Art. 6 GG schutzwürdige Wunsch nach Herstellung der ehelichen und familiären Lebensgemeinschaft Grund für die Wahl des Aufenthaltsorts ist.

Schlagwörter: Wohnsitzauflage, Fiktionsbescheinigung, Sozialleistungen, örtliche Zuständigkeit, sachliche Zuständigkeit, familiäre Lebensgemeinschaft, eheliche Lebensgemeinschaft, Rückreisekosten, unabdingbar gebotene Leistung, Leistungsbezug, Asylbewerberleistungsgesetz,
Normen: SGB XII § 23 Abs. 5 S. 1, GG Art. 6, GG Art. 6 Abs. 1, SGB I § 43 Abs. 1 S. 2, SGB XII § 27a Abs. 1, SGB XII § 97 Abs. 1, SGB XII § 98 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Selbst wenn der Klage gegen die Wohnsitzauflage keine aufschiebende Wirkung zukommt, hat die Antragstellerin einen Anspruch auf die Gewährung von Leistungen glaubhaft gemacht, die sich der Höhe nach an den zuvor genannten Vorschriften orientieren. Rechtsgrundlage für die Leistungsgewährung ist dann § 23 Abs. 5 Satz 1 SGB XII. Danach darf in den Teilen des Bundesgebiets, in denen sich Ausländer einer ausländerrechtlichen räumlichen Beschränkung zuwider aufhalten, der für den tatsächlichen Aufenthaltsort zuständige Träger der Sozialhilfe nur die nach den Umständen unabweisbar gebotene Leistung erbringen. Unabweisbar geboten sind im Regelfall lediglich Leistungen für die (Rück-) Reise an den aufenthaltsrechtlich erlaubten Ort (Birk, in: LPK-SGB XII, 8. A. 2008, § 23 Rn. 32). Dies gilt jedoch dann nicht, wenn Gründe vorliegen, die einen Verbleib am Ort des tatsächlichen Aufenthalts zwingend erfordern oder eine Rückkehr in das Gebiet der räumlichen Beschränkung unzumutbar erscheinen lassen; in diesen Fällen kann die unabweisbar gebotene Hilfe auch weitergehende Leistungen umfassen, die bis zu den regulären Leistungen reichen können (vgl. zu der ähnlich gefassten Vorschrift des § 11 Abs. 2 AsylbLG: Beschlüsse des Senats vom 20. Februar 2014 - a.a.O. juris Rn. 37 und vom 27. Mai 2011 - L 8 AY 31/11 B ER juris Rn. 10 m.w.N.; zu der Vorgängervorschrift des § 120 Abs. 5 BSHG: OVG Berlin, Beschluss vom 30. Mai 1997 - 6 S 14.97 - juris Rn. 5, BVerfG, Beschluss vom 9. Februar 2001 - 1 BvR 781/98 - juris Rn. 25). Eine Beschränkung der Leistungen auf die Rückreisekosten kommt nach der Rechtsprechung nicht in Betracht bei Personen im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention (grundlegend BVerwG, Urteil vom 18. Mai 2000 - 5 C 29.98 - juris) und wenn der auch in Abwägung mit dem Gesetzeszweck des § 120 Abs. 5 BSHG nach Art. 6 Abs. 1 GG schutzwürdige Wunsch nach Herstellung der ehelichen oder familiären Lebensgemeinschaft Grund für die Wahl des Aufenthaltsorts ist (vgl. OVG Niedersachsen, Beschluss vom 16. Juni 2000 - 4 M 1928/00 - juris Rn. 4). Zwar enthält § 23 Abs. 5 Satz 3 SGB XII bereits eine diese Rechtsprechung berücksichtigende Einschränkung, diese bezieht sich jedoch nur auf den hier nicht einschlägigen Satz 2 der Vorschrift. Es erscheint deshalb sachgerecht, den Umfang des "unabweisbar Gebotenen" nach den Umständen des Einzelfalles verfassungskonform zu bestimmen (vgl. ausführlich: SG Freiburg (Breisgau), Urteil vom 25. Juli 2011 - S 9 SO 5262/08 - juris Rn. 24).

Eine Abwägung zwischen dem von § 23 Abs. 5 Satz 1 SGB XII verfolgten öffentlichen Interesse einer gleichmäßigen Lastenverteilung unter den Ländern und Gemeinden bei Sozialhilfebedürftigkeit von in ihrem Zuständigkeitsbereich sich aufhaltenden Ausländern (vgl. Gesetzesbegründung zu § 120 Abs. 5 BSHG: BT-Drucks. 15/420, S. 122) und dem Interesse der Antragstellerin, mit dem gemeinsamen Kind bei ihrem Verlobten und dessen Familie in S. zu leben, fällt nach den Umständen des Einzelfalls zugunsten der Antragstellerin aus und hat zur Folge, dass jedenfalls vorläufig die tenorierten Leistungen als unabweisbar geboten anzusehen sind.

Die .Antragstellerin, die erst im … 2015 das 18. Lebensjahr vollendet hat und zudem seit dem 20. Oktober 2015 Mutter eines Säuglings ist, kann nicht darauf verwiesen werden, alleine den Wohnsitz in W. zu nehmen. Sie hat bereits seit 2012 unter der Obhut des Jugendamts gestanden und in verschiedenen Jugendhilfeeinrichtungen gelebt, die sie stets gewechselt hat, sobald die Familie ihres "Ehemannes" sie ausfindig gemacht hat. In W. hat sie keine familiären Bindungen, selbst wenn ihr "Ehemann" dort leben sollte, wird ihr eine Rückkehr in dessen Familie kaum zumutbar sein. Grund für ihre jugendhilferechtliche Betreuung ist gerade die durch sexuelle Übergriffe und Gewalt geprägte Beziehung zu diesem "Ehemann" und dessen Familie gewesen. Dass sich diese zum Guten wenden wird, nachdem die Antragstellerin mittlerweile ein Kind von einem anderen Mann geboren hat, wird niemand ernstlich erwarten. Demgegenüber scheint sie in die Familie des Vaters ihres Kindes integriert zu sein und dort die notwendige Unterstützung zu erfahren. Ihrem Verlobten ist es ebenfalls nicht zuzumuten, mit ihr und dem Kind nach W. zu ziehen, denn er absolviert in S. eine Ausbildung, die es ihm möglicherweise erlauben wird, nach deren Abschluss unabhängig von Leistungen nach dem SGB II zu leben.

Demgegenüber tritt das öffentliche Interesse an einer Wohnsitznahme der Antragstellerin in W. zurück. Die Gewährung der tenorierten Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt sowie die Leistungen der Hilfe zur Krankheit, bei Schwangerschaft und Mutterschaft sind danach unabweisbar geboten.

Der Umfang der Leistungen orientiert sich an § 27a Abs. 1 Satz 1 SGB XII und umfasst den nach § 27a Abs. 3 Satz 1 SGB XII i.V.m. § 8 Abs. 1 Nr. 3 Regelbedarfsermittlungsgesetz (RBEG) maßgeblichen Regelsatz nach Regelbedarfsstufe (RBS) 3 zuzüglich eines bis zur Geburt des Sohnes bestehenden Mehrbedarfs von 17 vom 100 für werdende Mütter nach § 30 Abs. 2 SGB XII sowie Hilfe bei Krankheit nach § 48 SGB XII und Hilfe für Schwangerschaft und Mutterschaft nach § 50 SGB XII.

Maßgeblich ist RBS 3, denn bei der Antragstellerin handelt es sich um eine erwachsene leistungsberechtigte Person, die - soweit ersichtlich - weder einen eigenen Haushalt führt noch als Ehegatte, Lebenspartner oder in eheähnlicher oder lebenspartnerschaftlicher Gemeinschaft einen gemeinsamen Haushalt führt. Sie lebt vielmehr im Haushalt der Familie ihres Verlobten. Der nach § 2 der Regelbedarfsstufen Fortschreibungsverordnung (RBSFV) 2015 maßgebliche Regelsatz beläuft sich in der Zeit vom 1. Juli bis 31. Dezember 2015 auf 320,00 € und der nach § 2 der RBSFV 2016 ab 1. Januar 2016 maßgebliche Regelsatz auf 324,00 €. Hinzu kommt für die Zeit vom 1. Juli bis 20. Oktober 2015 ein Mehrbedarf für werdende Mütter nach § 30 Abs. 2 SGB XII. Dieser Mehrbedarf beläuft sich [auf] 17 vom Hundert des maßgeblichen Regelsatzes und damit auf 54,40 € und endet mit der Geburt des Sohnes am ... 2015.

Die Familie des Verlobten lebt selbst von Leistungen nach dem SGB II bzw. AsylbLG. Die Antragstellerin hat hinreichend glaubhaft gemacht, dass sie von der Farnilie lediglich überbrückungsweise und unter Einschränkung deren eigenen Existenzminimums unterhalten wird. Nicht glaubhaft gemacht ist hingegen ein Anspruch auf Leistungen für die Unterkunft und Heizung, denn es ist nicht ersichtlich, dass der Antragstellerin entsprechende Aufwendungen tatsächlich entstehen. Insbesondere ist weder vorgetragen noch belegt, dass die der Familie des Verlobten gewährten Leistungen nach dem SGB II bzw. dem AsylbLG um Mietanteile für die Antragstellerin gekürzt werden.

Die unabweisbar gebotenen Leistungen umfassen, wie das SG zutreffend entschieden hat, Hilfe bei Krankheit nach § 48 SGB XII und Hilfe für Schwangerschaft und Mutterschaft nach § 50 SGB XII, denn es ist nicht ersichtlich, dass der Antragstellerin entsprechende Leistungen von einer Krankenkasse gewährt werden. Auch hinsichtlich dieser Kosten ist der Antragsgegner erstangegangener Leistungsträger und es obliegt ihm zu klären, ob eine Übernahme der Krankenbehandlung für nicht Versicherungspflichtige gegen Kostenerstattung nach § 264 SGB V in Betracht kommt. Eine zeitliche Befristung auf den Erlass des Widerspruchsbescheides, der im Übrigen zwischenzeitlich ergangen ist, ist nicht gerechtfertigt. Sachgerecht erscheint vielmehr eine vorläufige Leistungsgewährung bis zunächst 31. März 2016. Bis dahin obliegt es den Beteiligten, die bestehenden Unklarheiten zu klären. [...]