VG München

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Zitieren als:
VG München, Urteil vom 20.10.2015 - 16 K 13.30527 - asyl.net: M23560
https://www.asyl.net/rsdb/M23560
Leitsatz:

Tschetschenischen Volkszugehörigen droht bei strafrechtlichen Ermittlungen der russischen Behörden eine Verhaftung mit anschließender Untersuchungshaft. Maßnahmen in der Haft können den Tatbestand der Folter erfüllen und Haftbedingungen sowie andere Umstände des Haftvollzugs wie etwa Art und Weise der Ernährung, Dichte der Zellenbelegung, medizinische Versorgung, sanitäre und hygienische Verhältnisse können erniedrigende und unmenschliche Formen im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylVfG annehmen. Misshandlungen durch Polizei und Sicherheitskräfte sind insbesondere in Haftanstalten weiterhin verbreitet.

Schlagwörter: subsidiärer Schutz, Russische Föderation, Haftbedingungen, Tschetschenen, Folter, Untersuchungshaft, Freiheitsstrafe, Straftat,
Normen: AsylVfG § 4 Abs. 1 S. 1, AsylVfG § 4,
Auszüge:

[...]

Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht, wobei als ernsthafter Schaden u. a. Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung gilt (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylVfG). Diese Voraussetzungen erfüllt der Kläger.

Auch wenn derzeit eine Klärung durch das Auswärtige Amt nicht möglich ist, hält es das Gericht für beachtlich wahrscheinlich, dass nach dem Kläger in der Russischen Föderation landesweit gefahndet wird. Nach Überzeugung des Gerichts dürfte diese Fahndung aber nicht - wie vom Kläger angegeben - politisch motiviert sein, sondern allein der Strafverfolgung dienen. Das Gericht hält es nach dem in der mündlichen Verhandlung vom Kläger gewonnenen Eindruck für glaubhaft, dass er selbst im Besitz von Waffen war und sich einer bewaffneten Gruppe - allerdings nicht mit politischem Hintergrund - angeschlossen hat. Dies würde auch mit dem im Fahndungsaufruf genannten Delikt des Art. 209 des russischen Strafgesetzbuchs (Banditentum, vgl. Stellungnahme von Amnesty International an das OVG LSA vom 27.2.2012 im Verfahren 2 L 68/10, S.3) übereinstimmen. Nach dem vom Bundesamt vorgelegten Auszug aus dem Bundeszentralregister ist der Kläger auch bei seinem Aufenthalt im Bundesgebiet im Jahr 2005 mehrfach wegen Diebstahls bzw. Diebstahls mit Waffen verurteilt worden. Möglicherweise stehen die vom Kläger begangenen Straftaten in Zusammenhang mit seiner schweren chronifizierten Suchterkrankung, die durch die vorgelegten ärztlichen Atteste der Substitutionsambulanz des Klinikums ... bestätigt wurde.

Ist der Kläger aber strafrechtlichen Ermittlungen der russischen Behörden ausgesetzt, droht ihm bei einer Rückführung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verhaftung mit anschließender Untersuchungshaft, zumal nach dem Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Russischen Föderation vom 15. Oktober 2014 (Stand: August 2014, S. 25) abgeschobene Tschetschenen - solange die Konflikte im Nordkaukasus, einschließlich der Lage in Tschetschenien, nicht endgültig gelöst sind - besondere Aufmerksamkeit durch russische Behörden erfahren.

Maßnahmen in der Haft können den Tatbestand der Folter erfüllen und Haftbedingungen sowie andere Umstände des Haftvollzugs wie etwa Art und Weise der Ernährung, Dichte der Zellenbelegung, medizinische Versorgung, sanitäre und hygienische Verhältnisse können erniedrigende und unmenschliche Formen im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylVfG annehmen. Die vom Kläger zu erwartenden Bedingungen in der Untersuchungshaft erfüllen diese Voraussetzungen. Nach dem genannten Lagebericht des Auswärtigen Amtes sind Misshandlungen durch Polizei und Sicherheitskräfte weiterhin verbreitet. Die Lage in russischen Gefängnissen ist unbefriedigend (vgl. Lagebericht, S. 5). Folter ist zwar gesetzlich verboten. Der bisherige Menschenrechtsbeauftragte Lukin habe aber in seinem im Frühjahr 2013 veröffentlichten Jahresbericht erneut Vorfälle von Folter in den russischen Gefängnissen kritisiert. Nichtregierungsorganisationen wie "Amnesty International" oder das russische "Komitee gegen Folter" sprächen davon, dass es bei Verhaftungen, Polizeigewahrsam und Untersuchungshaft weiterhin zu Folter und grausamer und erniedrigender Behandlung durch die Polizei und Ermittlungsbehörden komme. Auch das Antifolterkomitee des Europarats habe in seinem Bericht vom Frühjahr 2012 Fälle von Folter dokumentiert (vgl. Lagebericht, S. 21). Die meisten Strafanstalten und Untersuchungsgefängnisse sind veraltet und überbelegt. Die Unterbringung der Häftlinge erfolgt oft in Schlafsälen von über 40 Personen und ist häufig sehr schlecht. Duschen ist vielfach nur gelegentlich möglich, das Essen einseitig und vitaminarm. Die medizinische Versorgung ist ebenfalls unbefriedigend. Besonders schlecht ist die Lage der Untersuchungshäftlinge. Im Vergleich zu den Strafkolonien berichten Insassen von deutlich schlechteren Haftbedingungen und viel geringerem Schutz gegenüber ungerechten Behandlungen. In Einzelfällen wird die Untersuchungshaft über Jahre verlängert (vgl. Lagebericht, S. 22).

Die vom Kläger begangenen Straftaten stehen der Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nicht entgegen. Zwar ist gemäß § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylVfG ein Ausländer von der Zuerkennung nach § 4 Abs. 1 AsylVfG ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass er eine schwere Straftat begangen hat. Sinn und Zweck dieser Regelung besteht darin, solche Personen von der Zuerkennung des subsidiären Schutzes auszunehmen, die als dieses Schutzes unwürdig anzusehen sind (vgl. BayVGH, U.v. 20.3.2013 - 19 BV 11.288 - juris Rn. 55 unter Hinweis auf EuGH, U. v. 9.11.2010 - C 57/09 - juris). Hiervon ist auszugehen, wenn die begangene Straftat im Ergebnis den Rechtsfrieden und die Rechtssicherheit berührt, wobei die Einstufung als Verbrechen für sich allein noch nicht ausreicht. Unwürdigkeit kann etwa bei Kapitalverbrechen wie Mord und Totschlag, daneben aber auch bei Raub und Kindesmissbrauch, Entführung, schwere Körperverletzung und Drogenhandel anzunehmen sein. Allerdings darf dabei der in den Straf - vorschriften jeweils enthaltene Strafrahmen nicht unberücksichtigt bleiben. Ist dieser weit und schöpft der Strafrichter ihn aufgrund der konkreten Umstände des Falles nur in geringem Umfang aus, kann nicht von einer schweren Straftat ausgegangen werden (vgl. OVG Bremen, U.v. 10.5.2011 - 1 A 306/10 - juris Rn. 112).

Über die vom Kläger möglicherweise in der Russischen Föderation begangenen Straftaten gibt es über die von ihm selbst eingeräumte illegale Bewaffnung hinaus keine Erkenntnisse. Die im Bundeszentralregisterauszug vom 25. Juni 2013 enthaltenen lediglich mit Geldstrafen bzw. Freiheitsstrafe von drei Monaten geahndeten Diebstahlsdelikte sind nicht als den subsidiären Schutz ausschließende schwere Straftaten anzusehen. Auf die vom Kläger geltend gemachten Erkrankungen, insbesondere das Vorliegen einer posttraumatischen [...]