SG Stade

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Zitieren als:
SG Stade, Beschluss vom 17.03.2016 - S 19 AY 1/16 ER (= ASYLMAGAZIN 8/2016, S. 276) - asyl.net: M23688
https://www.asyl.net/rsdb/M23688
Leitsatz:

Auch einem ausreisepflichtigen Antragsteller sind gem. § 2 Abs. 1 AsylbLG Analogleistungen nach dem SGB XII zu gewähren, wenn dieser sich seit 15 Monaten im Bundesgebiet aufhält und die Ausländerbehörde selbst auf die Durchsetzung der Ausreisepflicht verzichtet hat, weil der Betroffene sich - wie im vorliegenden Fall - im Kirchenasyl befand und sein Aufenthaltsort bekannt war, da das von der Behörde respektierte Institut des Kirchenasyls keinen die Leistungsberechtigung ausschließenden Rechtsmissbrauch darstellen kann.

Schlagwörter: Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, Leistungskürzung, Kirchenasyl, SGB XII, Sozialleistungen, Leistungsanspruch, Rechtsmissbrauch, Sozialwidrigkeit, Rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer, Ausreisepflicht, Sittenwidrigkeit, Analogleistungen,
Normen: AsylbLG § 2, AsylbLG § 2 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

In der Sache besteht auch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein materieller Leistungsanspruch. Nach § 2 Abs. 1 AsylbLG ist das SGB XII auf die diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden (sog. Analogleistung), die sich seit 15 Monaten ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhalten und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben. Der Antragsteller hält sich bereits länger als 15 Monate in der Bundesrepublik Deutschland auf. Er hat am 14. März 2014 einen Asylantrag gestellt und seitdem die Bundesrepublik Deutschland nicht mehr verlassen.

Ein Rechtsmissbrauch liegt nicht vor. Nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 17.06.2008 Az.: B 8/9 AY 1/07 R) setzt ein beachtenswerter Rechtsmissbrauch ein unredliches und von der Rechtsordnung missbilligtes Verhalten voraus. Der eigentlich Analogberechtigte soll von diesen Leistungen ausgeschlossen sein, wenn die von § 2 AsylbLG vorgesehene Vergünstigung auf gesetzwidrige oder sittenwidrige Weise erworben wird. Dabei soll nicht jedes zu missbilligende Verhalten angesichts des Sanktionscharakters der Vorschrift Analogleistungen ausschließen. Es müsse der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beachtet werden. Daher führt nur ein Verhalten, das unter jeweiliger Berücksichtigung des Einzelfalls, der besonderen Situation des Ausländers in der Bundesrepublik und der besonderen Eigenheiten des AsylbLG unentschuldbar ist (Sozialwidrigkeit), zum Ausschluss der Analogleistungen, wenn es generell geeignet ist, die Aufenthaltsdauer zu beeinflussen.

Verzichtet der Staat selbst zeitweise darauf, die Ausreisepflicht durchzusetzen, handelt der Ausländer nicht rechtsmissbräuchlich (vgl. BSG-Urteil a.a.O.). Der Antragsteller hat sich in Kirchenasyl begeben und dies dem Ausländeramt auch sofort mitgeteilt. Er ist nur deswegen nicht abgeschoben worden, da die Ausländerbehörde das Kirchenasyl tatsächlich beachtet und den Aufenthalt der Ausländer während der Dauer des Kirchenasyls duldet. Da die Behörde tatsächlich das Institut des Kirchenasyls anerkennt und nicht mit aufenthaltsbeendenden Maßnahmen einschreitet, kann in der Nutzung dieses Instituts kein Rechtsmissbrauch gesehen werden.

Auch ein sittenwidriges Verhalten liegt darin nicht vor. Sittenwidrigkeit liegt vor, wenn es das Anstandsgefühl aller billig und gerecht denkenden Menschen verletzt. Dass die Kirchen Ausländern, denen die Abschiebung droht, Kirchenasyl anbieten, ist mit den Werten der Gesellschaft vereinbar. Es handelt sich um eine Maßnahme der Kirchen, die auch von den Behörden respektiert werden. Dabei handelt es sich auch nicht um eine Flucht des Ausländers, da er selbst nicht die Entscheidungshoheit darüber hat, ob ihm Kirchenasyl gewährt wird. Der Ausländer kann sich nur dann in Kirchenasyl begeben, wenn er dieses gewährt bekommt. Die Entscheidung, dem Kläger Kirchenasyl zu gewähren, ist vom Vorstand der …-gemeinde getroffen worden. [...]