VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Beschluss vom 07.03.2016 - 1 B 5946/15 (= ASYLMAGAZIN 8/2016, S. 272 ff.) - asyl.net: M23732
https://www.asyl.net/rsdb/M23732
Leitsatz:

Zum Selbsteintritt im Dublinverfahren bei familiären Interessen:

Bei der in Art. 17 Dublin-III-VO enthaltenen Ermessensbefugnis geht es gerade um die Berücksichtigung von - wie hier einschlägig - Kindeswohl oder familiären Interessen, womit die Norm individualschützenden Charakter hat und subjektive Rechte vermittelt.

Sind aufgrund familiärer Interessen oder Kindeswohlerwägungen nicht bereits die Zuständigkeitskriterien der Dublin-III-Verordnung einschlägig, sind diese im Rahmen der Ermessensausübung zu berücksichtigen.

Schlagwörter: Dublinverfahren, Inhaftierung, Familieneinheit, Familienangehörige, Selbsteintritt, Ermessen, atypischer Ausnahmefall, Kindeswohl, Zuständigkeitskriterien, subjektives Recht, Zuständigkeit,
Normen: VwGO § 80 Abs. 5, AsylG § 34a, VO 604/2013 Art. 7 Abs. 2, VO 604/2013 Art. 7 Abs. 3, VO 604/2013 Art. 6 Abs. 1, VO 604/2013 Art. 17,
Auszüge:

[...]

Gemäß § 34a AsylG ordnet das Bundesamt die Abschiebung in einen anderen Staat, der auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist, an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.

Hier ist zwar davon auszugehen, dass nach den Regelungen der Dublin III-VO originär ein anderer Staat als die Bundesrepublik Deutschland zuständig ist. Die von den Antragstellern vorgetragenen Umstände - die langjährige Inhaftierung des Ehemanns beziehungsweise Vaters der Antragsteller in Deutschland und die psychische Erkrankung der Antragstellerin zu 1. - sind erst nach der Ablehnung ihrer Erstanträge in Frankreich eingetreten. Deshalb sind sie bei der Bestimmung des zuständigen Staates nicht mehr zu berücksichtigen. Gemäß Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO wird bei der Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats von der Situation ausgegangen, die zu dem Zeitpunkt gegeben ist, zu dem der Antragsteller seinen Antrag auf internationalen Schutz zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat stellt. Art. 7 Abs. 3 Dublin III-VO, auf den die Antragsteller sich berufen, regelt, dass die Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Anwendung der in den Artikeln 8, 10 und 6 genannten Kriterien alle vorliegenden Indizien für den Aufenthalt von Familienangehörigen, Verwandten oder Personen jeder anderen verwandtschaftlichen Beziehung des Antragstellers im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats berücksichtigen, sofern über frühere Anträge des Antragstellers auf internationalen Schutz noch keine Erstentscheidung in der Sache ergangen ist.

Die Antragsteller haben jedoch glaubhaft gemacht, dass Umstände vorliegen, die die Antragsgegnerin voraussichtlich zu einem Selbsteintritt gemäß Art. 17 Dublin III-VO hätten veranlassen müssen.

Die Einzelrichterin hält es für überwiegend wahrscheinlich, dass sich der Ehemann der Antragstellerin zu 1. und damit zugleich der Vater der Antragsteller zu 2. bis 4. in der Bundesrepublik Deutschland befindet und in der JVA Q. eine langjährige Haftstrafe verbüßt. Da das Gericht gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG in Streitigkeiten nach dem AsylG auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung abstellt, ist der diesbezügliche Vortrag der Antragsteller im gerichtlichen Eilverfahren noch zu berücksichtigen. Die Antragstellerin zu 1. hat eidesstattlich versichert, dass der inhaftierte N. ihr Ehemann sei und dass er sich nach seiner Einreise nach Russland eine russische Identität mit dem Namen S. A. beschafft habe. Dies ist der Name, der in der vorgelegten Heiratsurkunde und in den Geburtsurkunden erscheint. Sie hat eine eidesstattliche Versicherung des Herrn T. vorgelegt, der bestätigt, dass N. sein Sohn und der Ehemann der Antragstellerin zu 1. sei, und unter Vorlage seines alten, auf den Namen U. ausgestellten Führerscheins erklärt, dass sein Nachname U. bei der Einbürgerung als V. in seinen Personalausweis aufgenommen worden sei. Des Weiteren hat die Antragstellerin zu 1. einen Schriftsatz vom W. aus dem Ermittlungsverfahren gegen N. beigebracht, in dem der Beschuldigte als X. A. alias N. bezeichnet wird. Dafür, dass es sich bei dem N. um den Ehemann der Antragstellerin zu 1. und den Vater der Antragsteller zu 2. bis 4. handelt, spricht auch, dass die Antragsteller unter derselben Anschrift wohnen, die im Personalausweis von Herrn T. angegeben ist. Zudem wird in dem Urteil des Amtsgerichts Hannover vom 24.09.2013 - 217 Ls 3171 Js 46313/04 (307/13) - in der Strafsache gegen N. als dessen Wohnort Y. in Frankreich aufgeführt. Y. liegt in der Nähe von Z., das die Antragstellerin zu 1. gegenüber dem Bundesamt als Aufenthaltsort der Familie in Frankreich angegeben hatte.

Art. 17 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO regelt, dass jeder Mitgliedsstaat abweichend von Art. 3 Abs. 1 beschließen kann, einen bei ihm von einem Drittstaatsangehörigen gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist. Vorgaben für die Ausübung des damit eröffneten Ermessens enthält die Vorschrift nicht. Sie ergeben sich jedoch aus einer Auslegung der Dublin III-VO als Ganzes. Der Erwägungsgrund Nr. 17 der Dublin III-VO erläutert, dass die Mitgliedstaaten insbesondere aus humanitären Gründen oder in Härtefällen von den Zuständigkeitskriterien abweichen können sollten, um Familienangehörige, Verwandte oder Personen jeder anderen verwandtschaftlichen Beziehung zusammenzuführen, und einen bei ihm oder einem anderen Mitgliedstaat gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn sie für eine solche Prüfung nach den in dieser Verordnung festgelegten verbindlichen Zuständigkeitskriterien nicht zuständig sind. Daneben fordern die Erwägungsgründe Nr. 13 und 14 der Dublin III-VO, dass das Wohl des Kindes und die Achtung des Familienlebens vorrangige Erwägungen bei der Anwendung dieser Verordnung sein sollten. Art. 6 Abs. 1 Dublin III-VO bestimmt, dass das Wohl des Kindes in allen Verfahren, die in dieser Verordnung vorgesehen sind, eine vorrangige Erwägung der Mitgliedstaaten ist. Nach Art. 6 Abs. 3 a Dublin III-VO tragen die Mitgliedsstaaten bei der Würdigung des Wohls des Kindes insbesondere den Möglichkeiten der Familienzusammenführung gebührend Rechnung. Gemäß Art. 20 Abs. 3 Satz 1 Dublin III-VO ist zwar die Situation eines mit dem Antragsteller einreisenden Minderjährigen, der der Definition des Familienangehörigen entspricht, untrennbar mit der Situation seines Familienangehörigen verbunden und fällt in die

Zuständigkeit des Mitgliedsstaats, der für die Prüfung des Antrags dieses Familienangehörigen zuständig ist, jedoch nur, sofern dies dem Wohl des Minderjährigen dient.

Nach diesen Maßgaben wäre hier nicht nur das Interesse der Antragstellerin zu 1. an regelmäßigen Besuchskontakten zu ihrem Ehemann zu berücksichtigen gewesen, sondern vor allem auch das Bedürfnis der noch jungen Antragsteller zu 2.-4., den Kontakt zu ihrem Vater aufrecht zu erhalten. Abweichend vom Normalfall ist der Ehemann und Vater hier auf lange Sicht daran gehindert, die Familieneinheit in dem ursprünglich zuständigen Mitgliedsstaat herzustellen. Als weitere Besonderheit kommt hinzu, dass die Großeltern der Antragsteller zu 2.-4. sich in unmittelbarer Nähe befinden. Verwandte im Sinne der Dublin III-VO sind gemäß Art. 2 h Dublin III-VO auch die Großelternteile des Antragstellers. Die von den Großeltern erbrachten Betreuungs- und Erziehungsleistungen für die Antragsteller zu 2. bis 4. fallen hier besonders ins Gewicht, weil zum einen deren Vater seine Funktion aufgrund seiner Inhaftierung nur sehr eingeschränkt wahrnehmen kann und weil zum anderen die Antragstellerin zu 1. ausweislich des vorgelegten fachärztlichen Attests psychisch erkrankt ist. Demnach wird im Hauptsachverfahren voraussichtlich eine Ermessensreduzierung auf Null anzunehmen sein. In diesem atypischen Fall dürfte den vorrangigen Zielen der Dublin III-VO - Wahrung des Kindeswohles und Zusammenführung von Familien - nur mit einem Selbsteintritt der Antragsgegnerin Rechnung getragen werden können.

Im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes nimmt die Einzelrichterin an, dass die Antragsteller sich in dieser Konstellation auch auf Art. 17 Dublin III-VO berufen können, obgleich es sich dabei um eine Zuständigkeitsregelung handelt und Zuständigkeits- und Fristenregelungen der Dublin III-VO grundsätzlich keine subjektiven Rechtspositionen begründen. Hier soll die Wahrnehmung der Ermessensbefugnis aber gerade der Berücksichtigung des Kindeswohls der Antragsteller zu 2. bis 4. und der familiären Interessen aller Antragsteller dienen. Ausweislich des Erwägungsgrundes Nr. 17 ist die Zusammenführung von Familien und Verwandten der Grund für die Eröffnung der Möglichkeit, aus humanitären Gründen oder in Härtefällen von den Zuständigkeitskriterien abweichen zu können. Die Vorschrift regelt daher nicht nur die Beziehung zwischen den Mitgliedsstaaten, sondern dient auch dem Grundrechtsschutz. Deshalb ist sie individualschützend und vermittelt den Antragstellern ein subjektives Recht, dass sie gerichtlich durchsetzen können (vgl. zum individualschützenden Charakter von Zuständigkeitsbestimmungen in der Dublin II-VO BVerwG, Urt. v. 16.11.2015 - 1 C 4/15 -, juris LS. 1 u. Rn. 24; zu Art. 17 Dublin III-VO VG Hannover, Beschl. v. 16.02.3015 - 10 B 403/15 -, juris Rn. 17; VG Minden, Urt. v. 17.08.2015 - 10 K 536/15.A -, juris Rn. 55). [...]