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VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 12.01.2016 - 10 A 4512/14 - asyl.net: M24018
https://www.asyl.net/rsdb/M24018
Leitsatz:

Eine extreme Gefahrenlage, die in verfassungskonformer Auslegung des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG in Einzelfällen ein Abschiebungsverbot begründet, kann sich in Bezug auf Afghanistan bei besonders schutzbedürftigen Rückkehrern ergeben.

Schlagwörter: Afghanistan, psychische Erkrankung, besonders schutzbedürftig, Sperrwirkung, Hamburg, Senatorenregelung, Abschiebestopp, Abschiebestopp-Anordnung, Abschiebungsstopp, extreme Gefahrenlage, besonders schutzbedürftig, alleinstehende junge Männer, Rückkehr, Rückkehrgefährdung, Rückkehrer, Sperrwirkung, Identitätsnachweis, Identitätspapier,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1,
Auszüge:

[...]

a) Ein Abschiebestopp oder eine Regelung, die ihm vergleichbaren Schutz bietet, ist nicht gegeben.

Der Kläger kann insbesondere nicht auf die Inanspruchnahme der sog. Senatorenregelung verwiesen werden.

Für die Personengruppe, der der Kläger angehört, besteht eine Regelung, die einen einer Abschiebestopp-Anordnung vergleichbaren Schutz gewährleistet. Nach der sog. Senatorenregelung für afghanische Flüchtlinge können afghanischen Staatsangehörigen, die sich seit mehr als 18 Monaten im geduldeten Aufenthalt befinden, Aufenthaltserlaubnisse auf der Grundlage des § 25 Abs. 5 AufenthG erteilt werden (vgl. Mitteilung des damaligen Innensenators Ahlhaus vom 15. Dezember 2008 www.hamburg.de/innenbehoerde/1005450/2008-bfi-pm-afghanen/). Diese Regelung vermittelt dem betroffenen Ausländer einen dem § 60a Abs. 1 Satz, 1 AufenthG vergleichbaren wirksamen Schutz vor Abschiebung, so dass eine Beseitigung der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG nicht in Betracht kommt, wenn die Regelung in Anspruch genommen werden kann. Das ist hier allerdings nicht der Fall. Es ist gerichtsbekannt, dass die Anforderungen an eine Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach der Senatorenregelung im Laufe der letzten Jahre deutlich verschärft wurden und die Vorlage bestimmter Ausweispapiere - einer vom afghanischen Außenministerium beglaubigten Taskera - erforderlich ist. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung erklärt, nicht im Besitz von Papieren zu sein. Angesichts dessen hat er keine Möglichkeit, auf der Grundlage dieser Regelung ein Bleiberecht zu erlangen.

b) Das Verwaltungsgericht kann nur dann ausnahmsweise Schutz vor der Durchführung der Abschiebung in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 AufenthG zusprechen, wenn dies zur Vermeidung einer verfassungswidrigen Schutzlücke erforderlich ist (BVerwG, Urt. v. 13.6.2013, 10 C 13.12, NVwZ 2013, 1489, 1490; Urt. v. 8.9.2011, 10 C 14.10, NVwZ 2012, 240, 243; Urt. v 24.6.2008, 10 C 43.07, NVwZ 2008, 1241, 1245 m.w.N.). [...]

Eine extreme Gefahrenlage kann sich nach Überzeugung des Gerichts aber im Einzelfall dann ergeben, wenn es sich um besonders schutzbedürftige Rückkehrer handelt. Dazu können vor allem alte oder behandlungsbedürftige kranke Personen, Familien mit kleinen Kindern, alleinstehende Frauen und Personen zählen, die aufgrund besonderer persönlicher Merkmale zusätzlicher Diskriminierung unterliegen.

Im Fall des Klägers ist so ein besonderer Einzelfall gegeben. Zwar ist nach der Rechtsprechung der Kammer davon auszugehen, dass volljährige, alleinstehende junge Männer in der Regel dazu in der Lage sein dürften, im Falle einer Rückkehr ihren Lebensunterhalt zu sichern (vgl. z.B. VG Hamburg, Urt. v. 1.12.2015, 10 A 744/14, n.v.). Dies trifft aber auf den Kläger nicht zu. Aufgrund seiner gesundheitlichen Verfassung ist er als besonders schutzbedürftig anzusehen. Es kann nicht angenommen werden, dass er im Falle einer Rückkehr bei den zu erwartenden schwierigen Umständen dazu in der Lage wäre, seinen Lebensunterhalt zu sichern. Ausweislich der vorgelegten Atteste des … über den stationären Aufenthalt im Frühjahr 2015 und des behandelnden Arztes ... der Institutsambulanz vom ... Januar 2016 leidet der Kläger jedenfalls an einer schweren depressiven Störung und wird psychotherapeutisch und medikamentös behandelt. Grund für den Krankenhausaufenthalt, der aufgrund eines richterlichen Beschlusses erfolgte, war ein selbstschädigendes und fremdgefährdendes Verhalten. U.a. hatte der Kläger seine Matratze in der Wohnunterkunft angezündet. Zwar hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung erklärt, es gehe ihm zurzeit gut, er reduziere neuerdings die Medikamente, weil er ohne sie auskommen wolle. Aber aus dem aktuellen Attest des behandelnden Arztes ergibt sich, dass der Kläger immer noch Medikamente erhält, sich nach wie vor in Behandlung befindet und auch weiterhin behandlungsbedürftig ist. Damit steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger zum jetzigen Zeitpunkt an einer erheblichen psychischen Erkrankung leidet. Angesichts dessen ist nicht davon auszugehen, dass er bei der in Afghanistan herrschenden schwierigen Versorgungslage im Falle einer Rückkehr sein Existenzminimum sichern könnte.

Der verfassungskonformen Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG steht im Hinblick auf die Subsidiarität dieser Auslegung (BVerwG, Urt. v. 13.6.2013, 10 C 13.12, juris Rn. 15) auch nicht entgegen, dass die Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung teilweise unglaubhaft waren und in erheblichem Widerspruch zu seinen Angaben gegenüber der Beklagten standen. Denn die widersprüchlichen Angaben, die der Kläger nicht plausibel erklären konnte, waren bei der Gesamtwürdigung seines Vorbringens nicht dergestalt durchgreifend, dass es zur Überzeugung der Einzelrichterin gerechtfertigt wäre, dem Kläger den Schutz des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistans mit der Begründung zu versagen, er könne sich den Abschiebungsschutz durch Angabe des wahren Herkunftslandes selbst verschaffen. [...]