VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 18.06.2015 - A 13 K 3952/14 - asyl.net: M24091
https://www.asyl.net/rsdb/M24091
Leitsatz:

Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen drohender Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure (IS) im Irak aufgrund der Konversion zum Christentum.

Schlagwörter: Irak, Christen, Konvertiten, Flüchtlingseigenschaft, Flüchtlingsanerkennung, Apostasie, nichtstaatliche Verfolgung, religiöse Verfolgung, interne Fluchtalternative, interner Schutz,
Normen: AsylG § 3
Auszüge:

[...]

Unter Zugrundelegung dieser Grundsätze ist dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, weil ihm zum jetzigen Zeitpunkt wegen seines Abfalls vom moslemischen Glauben und des Übertritts zu einer christlichen Religionsgemeinschaft im Falle einer Rückkehr in den Irak politische Verfolgung droht.

Das Gericht ist - auch nach dem Eindruck, den es vom Kläger in der mündlichen Verhandlung gewonnen hat - zunächst davon überzeugt, dass sich der Kläger von dem moslemischen Glauben abgewandt und aus innerer Überzeugung den christlich-evangelischen Glauben angenommen hat. [...]

Der Kläger muss wegen des Abfalls vom islamischen Glauben (Apostasie) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsmaßnahmen durch nichtstaatliche Akteure befürchten. Die Apostasie wird nämlich nach dem islamischen Recht der Scharia mit dem Tode bestraft (vgl. dazu GIGA, Auskunft v. 02.04.2007; EzKS, Stellungnahme v. 09.11.2011; Schweizerische Flüchtlingshilfe v. 26.03.2012). Zwar wird in den genannten Stellungnahmen gleichzeitig ausgeführt, dass bisher noch kein Fall bekannt geworden sei, in dem unter Rückgriff auf die Regeln der Scharia wegen Apostasie ein Todesurteil verhängt und vollstreckt worden wäre. Die Verfolgungsgefahr droht im Falle der Apostasie jedoch von islamischen Fundamentalisten, für die jeder, der den Islam verlässt, mit dem Tode zu bestrafen ist. Dieses religiöse Verständnis wird insbesondere von der militanten islamistischen IS gepflegt, die weite Teile des Irak unter ihre Kontrolle gebracht hat und dabei bis kurz vor Bagdad vorgedrungen ist. Auch kann den dem Gericht vorliegenden und zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen entnommen werden, dass die Auseinandersetzungen zwischen islamistischen Gruppen im ganzen Land und auch in Bagdad zugenommen haben. Da deren Mitglieder sich verpflichtet sehen, die Scharia durchzusetzen,. muss der Kläger als Apostat im Falle einer Rückkehr in den Irak mit hoher Wahrscheinlichkeit befürchten, getötet zu werden, wenn dieser Glaubenswechsel bekannt wird. Davon ist im vorliegenden Falle auszugehen, weil der Glaubenswechsel öffentlich vollzogen wurde und der Kläger christliche Gottesdienste besucht. Die Konversion dürfte deshalb mit hoher Wahrscheinlichkeit in seiner Asylunterkunft zumindest unter den dort lebenden Moslems aus dem Irak und Syrien bekannt geworden sein. Da die hier lebenden Iraker in Kontakt zu Angehörigen und Bekannten in ihrem Heimatland stehen ist weiterhin davon auszugehen, dass diese Informationen auch an Personen im Irak gelangen, so dass die Konversion des Klägers nicht geheim bleibt und von Islamisten zum Anlass genommen wird, die darauf in der Scharia vorgesehene (Todes-)Strafe auch zu vollziehen.

Gegen die von Islamisten als nichtstaatlicher Akteur (vgl. § 3c AsylVfG) ausgehenden Verfolgungsmaßnahmen steht dem Kläger in diesem Gebiet gegenwärtig und auf absehbare Zeit kein Akteur zur Seite, der ihm Schutz bieten könnte (vgl. § 3d AsylVfG). Denn die irakischen Sicherheitskräfte sind nicht in der Lage, landesweit den Schutz der Bürger zu gewährleisten (vgl. Lagebericht des Ausw. Amtes v. 23.12.2014).

Dem Kläger steht auch keine inländische Fluchtalternative (§ 3e AsylVfG) zur Verfügung. Auf Grund der Ausdehnung des von IS-Kämpfern beherrschen Gebiets, das von der syrischen Grenze bis zur Stadt Kirkuk und weiter bis in die Nähe der Stadt Bagdad reicht, gibt es für die im Gebiet der Hauptstadt Bagdad lebenden Christen praktisch keine Fluchtwege in ein sicheres Gebiet, weil dafür nur im Wesentlichen die aus den Provinzen Dohuk, Arbil und Suleimaniya bestehende autonome Region Kurdistan in Betracht kommt. [...]