VG Magdeburg

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Zitieren als:
VG Magdeburg, Beschluss vom 28.12.2016 - 4 B 302/16 MD - asyl.net: M24628
https://www.asyl.net/rsdb/M24628
Leitsatz:

Einstweilige Anordnung zur Änderung der Wohnsitzauflage wegen Kindeswohls trotz schwebend unwirksamer Vaterschaftsanerkennung. Unter Berücksichtigung der Gewährleistungen des Art. 6 Abs. 1 GG und des Art. 8 EMRK ist das Ermessen bzgl. 61 Abs. 1d S. 3 AufenthG "auf Null" reduziert, da andernfalls eine Familiengemeinschaft für einen unabsehbaren Zeitraum unmöglich sein oder jedenfalls in unzumutbarer Weise erschwert werden könnte.

(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Kindeswohl, Duldung, Wohnsitzauflage, Vaterschaft, Vaterschaftsanerkennung,
Normen: AufenthG § 61 Abs. 1d Satz 3, GG Art. 6, EMRK Art. 8
Auszüge:

[...]

Der Antragsteller hat nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage einen Anspruch auf Änderung der Wohnsitzauflage nach § 61 Abs. 1 d Satz 3 AufenthG, die ihm eine Wohnsitznahme im Gebiet der Beigeladenen ermöglicht. [...]

Nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage kann der Antragsgegner sein Ermessen rechtmäßig nur in der Weise ausüben, dass er dem Antragsteller eine Wohnsitznahme in Lüneburg gestattet. Unter Berücksichtigung der Gewährleistungen des Art. 6 Abs. 1 GG und des Art. 8 EMRK ist das Ermessen "auf Null" reduziert, da andernfalls eine Familiengemeinschaft zwischen dem Antragsteller und dem Kind für einen unabsehbaren Zeitraum unmöglich wäre oder jedenfalls in unzumutbarer Weise erschwert würde. Der Antragsteller ist zwar rechtlich nicht Vater des am 20.12.2016 geborenen Kindes , jedoch entfalten Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK Vorwirkungen, denen ein so starkes Gewicht zukommt, dass das öffentliche Interesse an einer gerechten Verteilung der Sozialkosten ihnen gegenüber zurücktreten muss.

Als Kindesvater gilt nach § 1592 Nr. 1 BGB trotz der unter Zustimmung der Kindesmutter erfolgten Vaterschaftsanerkennung des Antragstellers (§§ 1592 Nr. 2, 1595 BGB) der Ehemann der Kindesmutter. Die Vaterschaftsanerkennung ist gemäß § 1594 Abs. 2 BGB nicht wirksam, solange die Vaterschaft des Ehemannes der Kindesmutter besteht. Erst wenn aufgrund einer Anfechtung rechtskräftig festgestellt ist, dass der Ehemann der Kindesmutter nicht der Vater des Kindes ist, würde gemäß § 1599 Abs. 1 BGB die Vaterschaftsanerkennung wirksam werden. Angesichts der mit Zustimmung der Kindesmutter erfolgten Vaterschaftsanerkennung spricht jedoch viel dafür, dass der Antragsteller leiblicher Vater des Kindes ist. Zudem hat der Ehemann der Kindesmutter in seiner E-Mail an die Beigeladene vom 31.05.2016 angegeben, seine Ehefrau seit Dezember 2015 nicht mehr erreicht zu haben, so dass er in der möglichen Empfängniszeit keinen Kontakt mit ihr hatte. Eine Vaterschaftsanfechtung durch den Antragsteller oder die Kindesmutter (§ 1600 Abs. 1 Nr. 2 oder Nr. 3 BGB) wird deshalb voraussichtlich erfolgreich sein. Damit würde der Antragsteller auch rechtlich als Kindesvater gelten.

Ausländerrechtliche Schutzwirkungen entfaltet Art. 6 GG allerdings nicht schon aufgrund formal-rechtlicher familiärer Bindungen. Entscheidend ist vielmehr die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern, wobei grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalls geboten ist (BVerfG, Beschluss vom 08.12.2005 - 2 BvR 1001/04 -, FamRZ 2006, 187). Bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen, die den Umgang mit einem Kind berühren, ist maßgeblich auch auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Dabei sind die Belange des Elternteils und des Kindes umfassend zu berücksichtigen. Dementsprechend ist im Einzelfall zu würdigen, in welcher Form die Elternverantwortung ausgeübt wird und welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für die gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte. In diesem Zusammenhang ist davon auszugehen, dass der persönliche Kontakt des Kindes zu seinen Eltern und der damit verbundene Aufbau und die Kontinuität emotionaler Bindungen zu Vater und Mutter in der Regel der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes dienen (BVerfG, Beschluss vom 05.06.2013 - 2 BvR 586/13 -, NVwZ 2013, 1207).

Der Antragsteller hat glaubhaft vorgetragen, dass er eine familiäre Lebensgemeinschaft mit seinem Kind anstrebt. Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller die Beziehung zu dem Kind und zu der Kindesmutter nur vorgeschoben hat, um auf diese Weise einen Umzug nach Lüneburg zu erreichen, sind nicht ersichtlich. Es ist auch davon auszugehen, dass eine enge emotionale Bindung des Kindes nicht nur zu seiner Mutter, sondern auch zu seinem Vater für eine positive Persönlichkeitsentwicklung von besonderer Bedeutung ist. Das gilt gerade im Hinblick auf das geringe Lebensalter des Kindes, das erst vor wenigen Tagen geboren wurde. Ohne eine Änderung der Wohnsitzauflage wäre dem Antragsteller eine enge Beziehung zu dem Kind nicht möglich. Die Fahrzeit von Be J nach Lüneburg liegt mit öffentlichen Verkehrsmitteln bei über vier Stunden. Zudem sind regelmäßige Fahrten mit einem erheblichen Kostenaufwand verbunden, der vom Antragsteller, der seinen Lebensunterhalt von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz bestreitet, nicht zu bewältigen ist.

Die fehlenden oder nur gering ausgeprägten Bemühungen des Antragstellers, an der Passbeschaffung mitzuwirken, sind im Zusammenhang mit der Ermessensentscheidung nach § 61 Abs. 1 d Satz 3 AufenthG von untergeordneter Bedeutung. Wie ausgeführt, sind bei der Einzelfallentscheidung vor allem Belange des Kindeswohls zu berücksichtigen.

Auch der Umstand, dass die Aufenthaltsrechtserlaubnis der Kindesmutter nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG nur bis zum 02.02.2017 befristet ist, ist kein Aspekt, der bei der Ermessensentscheidung als öffentliches Interesse an dem unveränderten Bestand der Wohnsitzauflage in relevanter Weise zu berücksichtigen ist. Anhaltspunkte dafür, dass der Aufenthalt des Kindes und seiner Mutter in Deutschland ohnehin in der nächsten Zeit beendet wird, sind nicht ersichtlich.

Auch ein Anordnungsgrund liegt vor. Die besondere Eilbedürftigkeit ergibt sich daraus, dass ohne eine vorläufige Regelung eine Beeinträchtigung des Kindeswohls droht. Aus diesem Grund und im Hinblick auf die Unzumutbarkeit der Trennung des Antragstellers von dem Kind steht auch die Vorwegnahme der Hauptsache der einstweiligen Anordnung nicht entgegen. [...]