VG Arnsberg

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Zitieren als:
VG Arnsberg, Beschluss vom 09.02.2017 - 9 L 5/17 (ASYLMAGAZIN 3/2017, S. 118 f.) - asyl.net: M24678
https://www.asyl.net/rsdb/M24678
Leitsatz:

Gewährung von Prozesskostenhilfe und Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Wohnsitzzuweisung:

1. Eine Wohnsitzzuweisung für Schutzberechtigte innerhalb des Bundeslands nach § 12a Abs. 2 oder Abs. 3 AufenthG (wie sie in Nordrhein-Westfalen standardmäßig erfolgt) ist ermessensfehlerhaft und damit rechtswidrig, wenn die Ausländerbehörde nicht begründet, warum die Integration am zugewiesenen Wohnort besser gelingen soll als an anderen Orten.

2. Eine Heilung dieses Verfahrensfehlers durch nachträgliches Ergänzen von Ermessenserwägungen nach § 114 S. 2 VwGO ist wegen Ermessenstotalausfalls ausgeschlossen (hier: standardmäßige Wohnsitzzuweisung innerhalb Nordrhein-Westfalen ohne Einzelfallbegründung).

Schlagwörter: Wohnsitzzuweisung, subsidiärer Schutz, Flüchtlingsanerkennung, Integration, Ermessensausfall, Wohnsitzauflage, Wohnsitznahmeverpflichtung, Ermessensfehler, Ermessenserwägungen, Ermessen, Wohnsitzverpflichtung, Suspensiveffekt,
Normen: AufenthG § 12a, AufenthG § 12a Abs. 8, AufenthG § 12a Abs. 1 S. 1, AufenthG § 12a Abs. 3, AufenthG § 12a Abs. 9, VwGO § 114 S. 2, AufenthG § 12a Abs. 2 S. 1,
Auszüge:

[...]

Bei der Vorschrift des § 12a Abs. 3 AufenthG, welche vorliegend zunächst als Rechtsgrundlage für die Zuweisung der Antragsteller nach … in Frage kommt, handelt es sich um eine Ermessensnorm. Das Zuweisungsermessen ("… kann ... verpflichtet werden ...") ist erst eröffnet, wenn kumulativ die weiteren Tatbestandsmerkmale der Norm - Wohnsitzverpflichtung dann, wenn dadurch 1. die Versorgung des Ausländers mit angemessenem Wohnraum, 2. sein Erwerb hinreichender mündlicher Deutschkenntnisse im Sinne des Niveaus A2 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen und 3. unter Berücksichtigung der örtlichen Lage am Ausbildungs- und Arbeitsmarkt die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit erleichtert werden können - vorliegen. Eine Verpflichtung eines Ausländers, seinen Wohnsitz in einer bestimmten Gemeinde zu nehmen, ist bereits dann nicht ermessensfehlerfrei möglich, wenn nur eine dieser Voraussetzungen (wie die erleichterte Aufnahme einer Erwerbstätigkeit durch die Verpflichtung zur Wohnsitznahme) nicht bejaht werden kann.

Nach diesen rechtlichen Maßgaben ist vorliegend schon nicht ersichtlich, dass die ermessenseröffnenden tatbestandlichen Voraussetzungen hier vorliegen. Weder dem Bescheid noch den Verwaltungsvorgängen ist zu entnehmen, dass durch die Verpflichtung der Antragsteller zur Wohnsitznahme in dem bezeichneten Ort ihre Wohnraumversorgung, ihr Erwerb von Deutschkenntnissen und die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit erleichtert werden können. Das Tatbestandsmerkmal "… erleichtert werden kann ..." indiziert, dass es hierbei auf einen infrastrukturbezogenen Vergleich des intendierten Zuweisungsortes mit anderen Orten bezüglich der Integrationsumstände des betroffenen Ausländers ankommt. Denn nur dann kann eine "Erleichterung" als relatives Merkmal überhaupt festgestellt werden. Das Zuweisungsermessen ist daher nur eröffnet, wenn der Vergleich ergibt, dass der Ausländer in dem ins Auge gefassten Zuweisungsort leichter integriert werden kann als in einem anderen Ort. Ein solcher Vergleich fehlt hier jedoch vollständig, weshalb dahinstehen kann, ob ein derartiger Vergleich die individuelle Integrationsaussicht erfassen muss oder auch (in einem gewissen Rahmen) gruppenbezogen pauschalisieren darf. Es ist jedenfalls hier nicht ansatzweise ersichtlich, welche objektiv nachvollziehbaren Umstände den Antragsgegner dazu veranlasst haben könnten, diese Voraussetzungen einer erleichterten Integration der Antragsteller in ... anzunehmen.

Unbeschadet dessen ist auch nicht ansatzweise ersichtlich, dass der Antragsgegner sein Zuweisungsermessen - wenn es denn eröffnet gewesen wäre - überhaupt erkannt, geschweige denn rechtsfehlerfrei ausgeübt hat. In den angefochtenen Bescheiden heißt es übereinstimmend: "... hiermit werden Sie gemäß § 12a Abs. 1 S. 1, Abs. 3 und Abs. 9 des AufenthG vom 30.07.2004 (BGBl. I S. 1950) in der derzeit geltenden Fassung i.V.m. § 5 der Ausländer-Wohnsitzregelungsverordnung vom 15.11.2016 (AWoV), in der aktuell gültigen Fassung der Stadt/Gemeinde … zugewiesen. Sie werden zudem verpflichtet, drei Jahre Ihren gewöhnlichen Aufenthalt (Wohnsitz) in der o.g. Kommune zu nehmen." Diesen Ausführungen lässt sich ebenso wenig wie dem sonstigen Verwaltungsvorgang entnehmen, dass der Antragsgegner sein Ermessen bei der Zuweisung erkannt, geschweige denn ordnungsgemäß ausgeübt hat. Seine nachträglichen Ausführungen in der Klage- bzw. Antragserwiderung verbergen nicht, dass die Prüfung des Vorliegens der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 12a Abs. 3 AufenthG vor Erlass der angefochtenen Verfügungen gerade nicht stattgefunden hat. Eine Heilung dieses Verfahrensfehlers durch nachträgliches Ergänzen von Ermessenserwägungen (§ 114 Satz 2 VwGO) ist wegen des Ermessenstotalausfalles ausgeschlossen.

Auf intendiertes Ermessen kann sich der Antragsteller nicht berufen. Denn zum einen lässt der Wortlaut des § 12a Abs. 3 AufenthG nicht erkennen, dass der Gesetzgeber von einem Fall des intendierten Ermessens ausgeht. Denn die Prüfung, ob Deutschkurse zur Verfügung stehen oder am Ort der Zuweisung eine erleichterte Aufnahme einer Erwerbstätigkeit möglich ist, kann nur individuell nach den Bedingungen vor Ort durchgeführt werden und richtet sich nach den aktuellen tatsächlichen Verhältnissen. Die Vorschrift des § 5 AWoV, der zufolge Ausländerinnen und Ausländer nach § 2, die zum Zeitpunkt ihrer Zuweisung in einer Gemeinde ihren tatsächlichen Wohnsitz unterhalten, dort nicht in einer Landeseinrichtung untergebracht und nicht verpflichtet sind, in einem anderen Bundesland zu wohnen, dieser Gemeinde zugewiesen werden sollen, setzt die geforderte individuelle Prüfung der örtlichen Verhältnisse nicht außer Kraft, sondern im Gegenteil voraus. Allenfalls hier kann eine ermessenslenkende Funktion der Vorschrift unterstellt werden, die jedoch erst greift, wenn die sonstigen tatbestandlichen Voraussetzungen des § 12a Abs. 3 AufenthG bereits bejaht werden konnten.

Aus den vorgenannten Gründen kommt auch § 12a Abs. 2 Satz 1 AufenthG nicht als Rechtsgrundlage für die angefochtenen Verfügungen in Betracht. Denn abgesehen davon, dass der Antragsgegner - der sich zur Begründung seiner Verfügungen ausdrücklich nicht auf diese Vorschrift berufen hat - bei der Anwendung dieser Vorschrift zunächst hätte feststellen müssen, dass die Verpflichtung zur Wohnsitznahme an einem bestimmten Ort der Förderung der nachhaltigen Integration der Antragsteller in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland nicht entgegensteht, was nicht geschehen ist, fehlt es auch hier ersichtlich an der erforderlichen Ermessensbetätigung des Antragsgegners. [...]