VG Frankfurt a.M.

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Zitieren als:
VG Frankfurt a.M., Urteil vom 03.02.2017 - 7 K 1634/16.F.A - asyl.net: M24758
https://www.asyl.net/rsdb/M24758
Leitsatz:

1. Keine Gewährung von subsidiärem Schutz, obwohl eine Verletzung von Art. 3 EMRK bejaht wird.

2. Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG für eine Familie mit minderjährigen Kindern, da sie in Afghanistan kein menschenwürdiges Existenzminimum erlangen könnten und daher einer Verletzung von Art. 3 EMRK ausgesetzt wären (sich in ständiger Rechtsprechung anschließend an VGH Bayern Urteil vom 21.11.2014 - 13a B 14.30284 - asyl.net: M22883, Asylmagazin 6/2015, S. 197 ff.; zitiert zudem EuGH Urteil vom 21.01.2011 - 30696/09, M.S.S. v. Belgium and Greece (engl.) - asyl.net: M18077).

Schlagwörter: Afghanistan, Existenzminimum, Kind, Kinder, unmenschliche Behandlung, erniedrigende Behandlung, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Abschiebungsverbot, minderjährig, besonders schutzbedürftig, Familie, medizinische Versorgung, extreme Gefahrenlage, Rückkehrgefährdung, kind,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

Den Klägern steht indes ein Rechtsanspruch darauf zu. dass die Beklagte zu ihren Gunsten das Vorliegen eines Abschiebungsverbots § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans feststellt. […]

Die Klägerin zu 2. als Mutter der Kläger zu 3. und 4. müsste nämlich befürchten, aufgrund der allgemeinen, in Afghanistan herrschenden Situation einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein. Die zu erwartenden schlechten Lebensbedingungen und die daraus resultierenden Gefährdungen in Afghanistan weisen eine Intensität auf, aufgrund deren auch ohne konkret drohende Maßnahmen von einer unmenschlichen Behandlung auszugehen ist. Der Schutzbereich des § 60 Abs. 5 AufenthG ist auch bei einer derartigen allgemeinen, auf eine Bevölkerungsgruppe bezogenen Gefahrenlage eröffnet.

Zur Begründung bezieht sich die Kammer in mittlerweile ständiger Rechtsprechung (vgl. zuletzt Urteil v. 19. Januar 2017 - 7 K 387/16.F.A; Urteil v. 20. April 2016 - 7 K 2490/15.F.A) in vollem Umfang auf die Rechtsauffassung des Bayerischen VGH (Urteil vom 21. November 2014 - 13a B 14.30284 - juris RdNr. 16 ff.). Der Senat hat in diesem Urteil im Einzelnen ausgeführt, aus welchen Gründen in Bezug auf Afghanistan vom Vorliegen einer besonderen Ausnahmesituation ausgegangen werden könne, die die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK rechtfertige. Dem schließt sich der Vorsitzende in vollem Umfang an.

Bei der rechtlichen Betrachtung ist die gesamte Familie in die Bewertung einzubeziehen. Im Hinblick auf die Situation der gesamten Familie ist zu unterstellen, dass allein der Vater, der Kläger zu 1., in der Lage sein würde, im Fall einer Rückkehr für den Unterhalt der Familie zu sorgen. Insoweit ist hier eine angemessene Unterhaltsleistung bereits deswegen zweifelhaft, weil die Eheleute mittlerweile getrennt leben. Der Klägerin zu 2. wird es aber auch unabhängig davon im Hinblick auf ihre betreuungsbedürftigen Kinder nicht möglich sein, berufstätig zu werden. Andere Verwandte, die für eine Absicherung des Status der Familie sorgen könnten, leben in Afghanistan nicht.

Die Notwendigkeit, dass der Kläger zu 1. für den Unterhalt der gesamten Familie würde aufkommen müssen, zugrunde gelegt, würden die Kläger bei Rückkehr nach Afghanistan einer besonderen Ausnahmesituation ausgesetzt sein. Die humanitäre Lage in diesem Land lässt unter diesen Umständen für sie ein menschenwürdiges Dasein nicht zu. Auch in Bezug auf diese Feststellung schließt sich der Vorsitzende den Ausführungen des Senats des Bayrischen VGH im Urteil vom 21. November 2014 (a.a.O., juris RdNr. 23 unter Bezugnahme auf den Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 31. März 2014) an. Die auch der Kammer vorliegenden Auskünfte geben einen ausreichenden Überblick über die tatsächliche Lage in Afghanistan. Unter den aus diesen Erkenntnisquellen sich ergebenden Rahmenbedingungen, vor allem mit häufig nur sehr eingeschränktem Zugang für Rückkehrer zu Arbeit, Wasser und Gesundheitsversorgung, ist die Schaffung einer menschenwürdigen Lebensgrundlage für eine Familie mit Kindern im Fall ihrer Rückkehr im allgemeinen nicht möglich. Im Fall der Kläger ist zusätzlich zu berücksichtigen, dass die Klägerin zu 2. die Betreuung für ihre Kinder gewährleisten muss und zum Lebensunterhalt nichts beitragen kann. Bei diesen Verhältnissen liegt ein außergewöhnlicher Fall vor, in dem die humanitären Gründe gegen die Abschiebung "zwingend" sind. Für die Kläger besteht die ernsthafte Gefahr, dass sie keine adäquate Unterkunft finden und keinen Zugang zu sanitären Einrichtungen haben würden. Es steht ebenfalls zu erwarten, dass ihnen die zur Befriedigung ihrer elementaren Lebensbedürfnisse erforderlichen Mittel fehlen würden. Ohne Hilfe würden sie sich weder ernähren können noch wären die einfachsten hygienischen Voraussetzungen gewährleistet. Da auch nicht ersichtlich ist, wie sich diese Lage im Fall der Kläger anders gestalten oder bessern sollte, ist folglich davon auszugehen, dass die Kläger als Familie mit minderjährigen Kindern Gefahr liefen, einer erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein, die einen Mangel an Respekt für ihre Würde offenbart (s. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 - M.S.S./Belgien und Griechenland, Nr. 30696/09, NVwZ 2011, 413). [...]