VG Oldenburg

Merkliste
Zitieren als:
VG Oldenburg, Urteil vom 20.02.2017 - 7 A 55/17 - asyl.net: M24965
https://www.asyl.net/rsdb/M24965
Leitsatz:

Eine adäquate Therapie Traumatisierter ist in Bosnien und Herzegowina nur unzureichend möglich.

Schlagwörter: Bosnien-Herzegowina, Posttraumatische Belastungsstörung, medizinische Versorgung, Asylfolgeantrag, psychische Erkrankung, neue Beweismittel, Wiederaufgreifen, Wiederaufnahme des Verfahrens,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7,
Auszüge:

[...]

Die Klage ist begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch darauf, dass die Beklagte das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG in Bezug auf Bosnien und Herzegowina feststellt.

Die mit dem Antrag vom 19. November 2014 vorgelegten ärztlichen Atteste vom 2. und 21. Oktober 2014 waren neue Beweismittel (§ 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG). Sie sind offensichtlich innerhalb der Dreimonatsfrist des § 51 Abs. 3 VwVfG vorgelegt worden. Dass mit der Behandlung der Klägerin bereits am 12. August 2014 begonnen wurde, ist unerheblich. Die Frist beginnt für jeden Wiedergreifensgrund neu zu laufen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 31. Januar 2011 - 10 B 26110 u.a. -juris, Rn. 6; Urteil vom 13. Mai 1993 - 9 C 49.92 -juris, Rn. 9). [...]

Nach dem überzeugenden Befundbericht der Stiftung …, einer psychologischen Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Familien, vom 1. Februar 2017, welche unter anderem von dem Psychologischen Psychotherapeuten und Leiter dieser Einrichtung, Herrn ..., verfasst worden ist, leidet die Klägerin an einer posttraumatischen Belastungsstörung, schweren Belastungs- und Anpassungsstörungen, akuten Belastungsreaktionen, Somatisierungsstörungen, nichtorganischen Schlafstörungen und einer Angststörung. Diese beruhen darauf, dass die Klägerin in ihrem Heimatland von ihrem Vater unter Alkohol misshandelt und sexuell missbraucht worden ist. Darüber hinaus habe sie Gräueltaten im Krieg erlebt. Die Klägerin zeigt nach dem Bericht alle notwendigen und eindeutigen Symptome zur Klassifizierung einer posttraumatischen Belastungsstörung. Sie leide unter Flashbacks an das Trauma, wiederkehrenden belastenden Träumen, plötzlichem Handeln und Fühlen, als ob das Ereignis wiederkomme. Sie fühle ein intensives körperliches Unwohlsein bei der Begegnung mit den Dingen, die an das Ereignis erinnerten. Außerdem träten psychosomatische Reaktionen wie innere Unruhe, Panikattacken und regressives Verhalten auf. Sie leide unter eingeschränkten Gefühlen, Schwierigkeiten ein- und durchzuschlafen, Konzentrationsschwierigkeiten, übermäßiger Wachsamkeit und Schreckreaktionen. Sie habe Kopfschmerzen und ständige Angstgefühle. Die Aussagen der Klägerin werden als glaubhaft eingeschätzt. Sie würden keine Hinweise auf Simulation oder Steigerungen enthalten.

In dem nachvollziehbaren fachärztlichen Befundbericht des Arztes für Neurologie und Psychiatrie, Psychotherapie, … vom ... 2017 wird ebenfalls ausgeführt dass die Klägerin über schwer traumatisierende Erlebnisse mit Gewaltexzessen und sexuellem Missbrauch ihres alkoholabhängigen Vaters berichtet habe. Diese Erlebnisse seien bei ihr ständig präsent und hätten zu schweren psychischen Belastungen geführt. Sie leide unter starken Ängsten und wechselnden depressiven Verstimmungszuständen sowie Schlafstörungen mit Grübelzwang. Die traumatischen Erlebnisse würden ihr immer wieder vor Augen treten. Sie habe eine angespannt-ängstliche Grundstimmung mit depressiven Stimmungsanteilen. Sie wirke bei hohem Leidensdruck affektiv vermindert schwingungsfähig und im Kontaktverhalten eher distanziert. Es gebe keine Hinweise für Simulation oder Aggravation. Es sei von einer reaktiv depressiven Erkrankung mit schwergradiger Symptomausprägung auszugehen. Es bestehe eine Kongruenz zwischen dem in der Kindheit erlittenen Trauma und den Krankheitssymptomen.

Auch in dem Bericht des … Krankenhauses ..., Zentrum für Psychologische und Psychosoziale Medizin, Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, vom ... 2015, in dem die Klägerin etwa zwei Monate in teilstationärer Behandlung gewesen ist, wird neben einer schweren depressiven Episode eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert. Auch dort hat die Klägerin sehr detailliert von einem sie erheblich belastenden Missbrauch durch ihren Vater berichtet. Während der Behandlung ist es wegen der befürchteten Rückführung in das Heimatland zu einer Reaktualisierung von früheren Flashbacks und Albträumen gekommen. Zur Fortsetzung der dortigen Behandlung wird die Durchführung einer Psychotherapie dringend empfohlen. Die Klägerin hat zudem bereits bei ihrer Anhörung beim Bundesamt am 17. Oktober 2012 (Protokoll, S. 2) davon berichtet, als Kind von ihrem Vater vergewaltigt worden zu sein.

Die Klägerin hat nach dem Bericht vom 1. Februar 2017 im November 2015 die psychotherapeutische Behandlung begonnen. Sie nehme regelmäßig an Einzelsitzungen bei einer Diplom-Sozialpädagogin und Familientherapeutin teil.

Nach dieser fachlichen Einschätzung, an der ebenfalls keine Zweifel bestehen, ist die Fortsetzung der Behandlung bei dieser Therapeutin unbedingt nötig. Die Klägerin habe sich sehr auf diese eingelassen und sich dieser gegenüber geöffnet. Ein Abbruch der Therapie und die Rückkehr in den Heimatort, würden zu einer Retraumatisierung führen. Auch nach dem fachärztlichen Befund vom …. 2017 ist die Fortführung der begonnenen Psychotherapie dringend indiziert. Das gute Verhältnis zu der jetzigen Therapeutin dürfe nicht unterbrochen werden. Ein Therapieabbruch oder schon ein Therapeutenwechsel würde zu einer weiteren Symptomverstärkung der bereits jetzt ausgeprägten Störung führen.

Das Gericht ist von der Richtigkeit dieser fachlichen Einschätzungen überzeugt. Der Einholung eines darüber hinausgehenden Sachverständigengutachtens bedarf es daher nicht.

Hieraus ergibt sich zum einen, dass eine ausreichende Behandlung der Klägerin im Heimatland selbst nicht erfolgversprechend wäre und denen Abbruch zu einer erheblichen Verschlechterung des Gesundheitszustandes führen würde. Abgesehen davon könnte sie in Bosnien und Herzegowina eine solche psychotherapeutische Behandlung nicht erhalten. Zur Behandlung psychisch kranker und traumatisierten Personen fehlt es dort weitgehend an ausreichend qualifizierten Ärzten und an klinischen Psychologen und Sozialarbeitern. Therapien beschränken sich überwiegend auf Medikamentengaben. Nur einige wenige Nichtregierungsorganisationen bieten psychosoziale Behandlung in Form von Gesprächs- und Selbsthilfegruppen und Beschäftigungsinitiativen an. Eine adäquate Therapie Traumatisierter ist in Bosnien und Herzegowina weiterhin nur unzureichend möglich (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 16. Januar 2017, S.16). [...]