OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 30.08.2017 - 9 LA 117/17 (Asylmagazin 10-11/2017, S. 411) - asyl.net: M25471
https://www.asyl.net/rsdb/M25471
Leitsatz:

Zulassung der Berufung wegen Überraschungsentscheidung: Wenn das Gericht in der mündlichen Verhandlung äußert, einen bestimmten Vortrag zu glauben (hier: Abkehr eines afghanischen Klägers vom Islam) und daraufhin kein weiterer Vortrag erfolgt, verletzt eine daraufhin erfolgte negative Entscheidung in der Sache (hier: Ablehnung der Flüchtlingseigenschaft) das Recht auf rechtliches Gehör. Denn es kommt im Ergebnis der Verhinderung eines Vortrags gleich, wenn das Gericht ohne vorherigen Hinweis Anforderungen an den Sachvortrag stellt, mit denen auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte (vgl. BVerfG, Beschluss vom 29.5.1991 - 1 BvR 1383/90, juris Rn. 7).

(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Berufungszulassung, Afghanistan, Konvertiten, rechtliches Gehör, Überraschungsentscheidung,
Normen: AsylVfG § 78 Abs. 3 Nr. 3, VwGO § 138 Nr. 3,
Auszüge:

[...]

Der Kläger wendet gegen das Urteil ein, die Einzelrichterin habe in der mündlichen Verhandlung seine Ausführungen zur Abkehr vom Islam mit der Bemerkung "Das glaube ich Ihnen" abgeschlossen. Er habe diese Aussage - ebenso wie sein Prozessbevollmächtigter und zwei Zuhörer - so verstanden, dass die Einzelrichterin ihm seine Abkehr vom Islam geglaubt habe und weitere Ausführungen hierzu nicht erforderlich seien. Dementsprechend habe er auf weitere Ausführungen verzichtet. Das Urteil sei eine Überraschungsentscheidung. Hätte die Einzelrichterin die zitierte Äußerung nicht gemacht, hätte er umfassend weiter zu seiner Abkehr vom Islam vorgetragen und die Zweifel der Einzelrichterin ausräumen können. Sein Prozessbevollmächtigter hätte Helfer im Rahmen des Flüchtlingszustroms, die ihn seit einem bis zu ca. zwei Jahren kennen würden und ihn an verschiedenen Wochentagen zu unterschiedlichen Zeiten auch während des Ramadans begleitet hätten, als Zeugen dafür benannt, dass er keine religiösen Vorschriften des Islams mehr befolge. Der weitere Vortrag sei ihm durch die Äußerung der Richterin "abgeschnitten" worden. [...]

Da die Einzelrichterin nicht sicher ausschließen konnte, die vom Kläger behauptete Äußerung "Das glaube ich Ihnen" nach seinen Ausführungen zur Abkehr vom Islam getroffen zu haben, die drei Zuhörer sich laut ihrer eidesstattlichen Versicherungen hingegen sicher sind, dass dies der Fall war, geht der Senat davon aus, dass die Äußerung gefallen ist und zumindest dahingehend (miss)verstanden werden konnte, dass dem Kläger die vorgetragene Abkehr vom Islam ohne weiteren Vortrag hierzu geglaubt werde.

Dies zugrunde gelegt, hat das Verwaltungsgericht dem Kläger das rechtliche Gehör versagt. Denn es kommt im Ergebnis der Verhinderung eines Vortrags gleich, wenn das Gericht ohne vorherigen Hinweis Anforderungen an den Sachvortrag stellt, mit denen auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte (vgl. BVerfG, Beschluss v. 29.5.1991 - 1 BvR 1383/90 - juris Rn. 7). So liegt der Fall hier. Aufgrund der Äußerung der Einzelrichterin "Das glaube ich Ihnen" zu den Ausführungen des Klägers betreffend seine Abkehr vom Islam musste ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nicht damit rechnen, dass dem Kläger eine Abkehr vom Islam nicht geglaubt wird.

Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Entscheidung anders ausgefallen wäre, wenn die Einzelrichterin die besagte Äußerung nicht getroffen hätte. Denn der Kläger hätte in diesem Fall nach seinem Bekunden unter Benennung von Zeugen detailliert weiter zu seiner Abkehr vom Islam vorgetragen. Die derzeitige Erkenntnismittellage lässt darauf schließen, dass eine Abwendung vom Islam eine Verfolgungsgefahr begründen kann (vgl. US Department of State, 2016 Report an International Religious Freedom - Afghanistan v. 15.8.2017, Section II; ACCORD, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Situation von 1) vom Islam abgefallenen Personen (Apostaten), ... [a10159]; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan (Stand: Sep. 2016) v. 19.10.2016, S. 20; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender v. 19.4.2016, S. 61; siehe auch OVG NRW, Beschluss v. 27.4.2016 - 13 A 854/16.A - juris Rn. 18; VG Lüneburg, Urteil v. 13.6.2017 - 3 A 136/16 - juris Rn. 31; VG Würzburg, Urteil v. 26.4.2016 - W 1 K 16.30268 - juris; VG Magdeburg, Urteil v. 30.9.2014 - 5 A 193/13 - juris). [...]