VG Minden

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Zitieren als:
VG Minden, Gerichtsbescheid vom 26.10.2017 - 11 K 7451/17.A - asyl.net: M25615
https://www.asyl.net/rsdb/M25615
Leitsatz:

Staatenlosen Palästinensern aus Syrien, die bei der UNRWA registriert waren, ist "eo ipso" die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, unabhängig davon, ob sie in einem von der UNRWA unterhaltenen Flüchtlingslager gelebt haben.

Schlagwörter: Palästinenser, UNRWA, Flüchtlingsanerkennung, Syrien, Upgrade-Klage
Normen: AsylG § 3,
Auszüge:

[...]

Die Klage ist als Verpflichtungsklage zulässig und begründet.

Der angefochtene Bescheid vom 24.07.2017 ist betreffend die Ablehnung des Asylantrags im Übrigen (Ziffer 2) zu dem für die tatsächliche und rechtliche Beurteilung maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Sie wurde durch das Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge in Nahen Osten (United Nations Relief and Work Agency for Palestine Refugees; im Folgenden UNRWA) zusammen mit ihren Eltern (11 K 7450/17.A) als staatenlose Palästinenserin registriert (BA Bl. 193) und hat infolge der Aufgabe dieser Schutzgewährung ipso facto Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG i.V.m. Art. 12 Abs. 1 lit. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95/EU und Art. 1 D Abs. 2 GK. Die Tatsache, dass die Klägerin nicht in einem von der UNRWA unterhaltenen Flüchtlingslager, sondern in Aleppo gelebt hat, steht dem nicht entgegen. Entscheidend ist allein, ob die Klägerin Hilfeleistungen des UNRWA in Anspruch genommen hat. Für diesen Nachweis reicht die Registrierung aus (vgl. EuGH, Urteil vom 17.06.2010 – C-31/09 -, juris Rn. 52; VGH Mannheim, Urteil vom 28.06.2017 - A 11 S 664/17 -, juris Rn. 22).

Nach § 3 Abs. 3 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer dann nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt. Wird ein solcher Schutz oder Beistand nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig geklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

Art. 12 Abs. 1 lit. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95/EU bestimmt, dass ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen ist, wenn er den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Institution der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge gemäß Artikel 1 D der Genfer Flüchtlingskonvention genießt. Wird ein solcher Schutz oder Beistand aus irgendeinem Grund nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig geklärt worden ist, genießt er ipso facto den Schutz dieser Richtlinie.

Schließlich regelt Art. 1 D Abs. 2 GK, dass die Konvention keine Anwendung auf Personen findet, die zurzeit den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Institution der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge genießen. Ist dieser Schutz oder diese Unterstützung aus irgendeinem Grunde weggefallen, ohne dass das Schicksal dieser Person endgültig gemäß den hierauf bezüglichen Entschließungen der Generalversammlung der Vereinten Nationen geregelt worden ist, so fallen diese Personen ipso facto unter die Bestimmungen der Konvention. Der Regelung in Art. 1 D GK liegt ein dreistufiges System zu Grunde: "Auf der ersten Stufe wird mit der Ausschlussklausel des Art. 1 D Abs. 1 GK die Anwendung der Genfer Konvention ausgeschlossen. Auf der zweiten Stufe ist - bei Nichtvorliegen der Voraussetzungen der Ausschlussklausel - die Genfer Konvention anzuwenden, wobei der Erwerb der Flüchtlingseigenschaft nach Art. 1 A Nr. 2 GK oder Art. 1 D Abs. 2 GK von der Erfüllung der dort jeweils genannten Voraussetzungen abhängt. Auf der dritten Stufe - bei Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 1 D Abs. 2 GK, sprich bei unfreiwilliger Aufgabe der UNRWA Betreuung - ist der Ausländer ipso facto, also ohne dass es der Erfüllung der allgemeinen Flüchtlingsmerkmale des Art. 1 A Nr. 2 GK bedarf, Flüchtling i.S. dieser Bestimmung (...)" (vgl. OVG NRW. Urteil vom 22.02.2012 - 18 A 901/11 -, juris Rn. 28 ff. m.w.N.).

Die vorgenannten Bestimmungen in Art. 1 D Abs. 1 und 2 GK sind von Art. 12 Abs. 1 lit. a der Richtlinie 2004/83/EG und die dieser nachfolgenden Richtlinie 2011/95/EU aufgegriffen worden, so dass der jeweilige Personenkreis auch danach von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen ist bzw. ipso facto den Schutz der Richtlinie genießt.

Aufgabe der UNRWA ist die Hilfeleistung für palästinensische Flüchtlinge in Jordanien, im Libanon, in Syrien, der West Bank und im Gazastreifen. Im April 2015 eroberten IS und Al-Nusra Kämpfer das Lager Yarmouk. Spätestens seit Juni 2015 war die UNRWA nicht mehr in der Lage, Hilfe zu leisten; erst im Februar 2016 kam es wieder zum Transport von Hilfsgütern dorthin [...].

Die Klägerin hat damit nicht freiwillig, sondern aufgrund des Bürgerkrieges in Syrien den Schutz und Beistand des UNRWA verloren. Ihre Entscheidung, Syrien zu verlassen, war durch von ihrem Willen unabhängige Zwänge begründet, so dass Schutz im Sinne von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95/EU nicht länger bestand (vgl. dazu auch EuGH, Urteil vom 19. Dezember 2012 – C-364/11 -, juris Rn. 61 ff.). [...]