VG Braunschweig

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Zitieren als:
VG Braunschweig, Urteil vom 01.11.2017 - 6 A 331/15 - asyl.net: M25621
https://www.asyl.net/rsdb/M25621
Leitsatz:

Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG wegen einer schweren psychischen Erkrankung. Nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes ist die Situation in psychiatrischen Kliniken erschreckend. Wegen der Korruption im albanischen Gesundheitswesen, der Notwendigkeit informeller Zuzahlungen und weil teure Medikamente von Patienten selbst bezahlt werden müssen, ist die notwendige Behandlung in Albanien häufig nicht zugänglich.

Schlagwörter: Albanien, medizinische Versorgung, Krankheit, psychische Erkrankung, Behandlungskosten,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1,
Auszüge:

[...]

Nach dem vorliegenden Erkenntnismaterial stellt sich die medizinische Versorgung, insbesondere die Behandlung psychischer Erkrankungen in Albanien aktuell folgendermaßen dar: Die medizinische Versorgung in den staatlichen Krankenhäusern und Polikliniken Albaniens ist zwar grundsätzlich kostenlos. Da Ärzte und Pflegepersonal nur geringe Gehälter erhalten, müssen die Patienten in der Praxis jedoch erhebliche Zuzahlungen leisten (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht v. 16.08.2016, S. 13); "informelle Zahlungen" werden insbesondere auch für "angemessene psychiatrische Dienstleistungen" durch einen Psychiater verlangt (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Auskunft v. 02.12.2015 - Albanien: Behandlung von Epilepsie und Depressionen, S. 11). Korruption ist im albanischen Gesundheitssystem allgegenwärtig (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Auskunft v.13.02.2013 - Albanien: Posttraumatische Belastungsstörung, Blutrache -, S. 5). Was die Versorgung mit Medikamenten anbelangt, übernimmt die staatliche Krankenversicherung nach der Auskunftslage bei Standardmedikamenten "in der Regel" die Kosten für das billigste Generikum. Teurere Medikamente oder Medikamente für "außergewöhnliche Krankheiten" gehen zulasten der Patienten (Auswärtiges Amt, a.a.O., 14); mitunter wird auch lediglich ein Teil der Medikamentenkosten von der Krankenversicherung übernommen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Auskunft v.13.02.2013, a.a.O., S. 4). Bis die ärztlich verordneten Medikamente für den Patienten tatsächlich verfügbar sind, können aufgrund eines zeitlich aufwendigen Verfahrens lange Wartezeiten entstehen (vgl. Deutsche Botschaft Tirana, Auskünfte v. 29.03. und 13.03.2013 an das Bundesamt). Dies gilt auch für andere Gesundheitsdienstleistungen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Auskunft v.13.02.2013, a.a.O., S. 5). Psychische Erkrankungen können in Albanien nur eingeschränkt behandelt werden. Nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes ist die Situation in psychiatrischen Kliniken erschreckend (Lagebericht, a.a.O., S. 13). Jedenfalls sind die Möglichkeiten einer stationären Behandlung psychisch kranker Menschen unzureichend (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Auskunft v.13.02.2013, a.a.O., S. 7; s. a. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Auskunft v. 02.12.2015, a.a.O., S. 10). Insbesondere bei der Aufnahme von Patienten kommt es zu massiven Verzögerungen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Auskunft v.13.02.2013, a.a.O.). Die fachärztliche Behandlung von psychisch Erkrankten ist "rückständig" (Deutsche Botschaft Tirana, Auskunft v. 29.03.2015 an das Bundesamt). Andere Behandlungsmöglichkeiten - neben der Behandlung der Patienten mit Psychopharmaka - sind zum Teil sehr teuer und decken den Bedarf nicht (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Auskunft v. 13.02.2013, a.a.O., S. 6). Insbesondere das Angebot an Psychotherapien ist sehr limitiert (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Auskunft v.13.02.2013, a.a.O., S. 7; s. auch VG Göttingen, U. v. 20.01.2011 - 1 A 9/10 -: unzureichend).

Unter Berücksichtigung dieser Versorgungslage drohen dem Kläger zu 1. aufgrund seiner gesundheitlichen Beeinträchtigungen bei einer Rückkehr nach Albanien erhebliche und konkrete Gefahren für Leib und Leben. Der Kläger leidet nach den nachvollziehbaren und überzeugenden ärztlichen Bescheinigungen und Auskünften, die dem Gericht vorliegen bzw. erteilt worden sind, jedenfalls unter einer schwerwiegenden psychischen Erkrankung. Dr. ... hat dem Kläger eine schwere Depression mit psychotischen Symptomen attestiert, die seiner Einschätzung nach schwerer wiegt als eine posttraumatische Belastungsstörung (s. den Vermerk v. 08.02.2017). Diese Erkrankung kann nach der Auskunftslage nicht ausreichend behandelt werden. So drohen dem Kläger nach den überzeugenden Ausführungen Dr. … auch im Fall der Rückkehr nach Albanien weitere stationäre Unterbringungen. Damit steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass er nach Rückkehr in das Heimatland einer Behandlungssituation ausgesetzt sein wird, die das Auswärtige Amt als "erschreckend" bezeichnet hat. Jedenfalls sind die Möglichkeiten einer stationären Behandlung unzureichend (s. oben; dazu insgesamt auch VG Saarland, U. v. 30.06.2014 - 3 K 1446/13 -).

Darüber hinaus wird der Kläger nicht in der Lage sein, die zur Abwehr einer wesentlichen Verschlechterung seines Gesundheitszustandes erforderliche Behandlung zu finanzieren. Nach den Auskünften Dr. ... und Dr. … ist der Kläger zur adäquaten Behandlung seiner Leiden auf teure Medikamente angewiesen; billige Generika reichen zur Behandlung nicht aus (Vermerke v. 02. und 08.02.2017). Damit wird er zur Überzeugung des Gerichts nicht in der Lage sein, die erforderlichen Medikamente zu bezahlen, da teurere Medikamente nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes von den Patienten selbst zu finanzieren sind (s. oben). Hinzu kommen die nach der Auskunftslage von den Patienten zu leistenden "informellen Zahlungen". Das Gericht hat nicht die Überzeugung gewinnen können, dass der Kläger selbst über ausreichende Mittel verfügt, um die notwendigen Zahlungen leisten zu können, oder dass er diese Mittel durch die Unterstützung von Verwandten erlangen könnte.

Darüber hinaus geht das Gericht nach den Ausführungen Dr. … davon aus, dass für den Kläger nach Rückkehr in sein Heimatland die konkrete Gefahr eines Suizids besteht. Dr. … hat die Gefahrenlage überzeugend aus dem Krankheitsbild hergeleitet und angenommen, dass sich die Wahrscheinlichkeit dadurch erhöhe, dass der Kläger bereits einen Suizidversuch unternommen habe (Vermerk v. 08.02.107). Da Suizidversuche nach den Angaben von Dr. u den Verhaltensmustern der diagnostizierten Erkrankung gehören und nach den Angaben des Arztes bei einer Erkrankung dieser Schwere auch immer mit einem Suizid gerechnet werden muss, sieht das Gericht die Gefahr, dass der Kläger alsbald nach der Rückkehr in die Heimat einen (erneuten) Suizidversuch unternehmen wird. Nach allem kann das Gericht offenlassen. ob der Kläger schon deswegen einem Abschiebungsverbot unterliegt, weil seine psychische Erkrankung als posttraumatische Belastungsstörung mit im Falle einer Rückkehr nach Albanien drohenden Retraumatisierungsgefahr anzusehen ist oder weil die für ihn aufgrund seiner psychischen Erkrankung erforderliche Betreuung in Albanien nicht sichergestellt ist. [...]