VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 - asyl.net: M25717
https://www.asyl.net/rsdb/M25717
Leitsatz:

1. Ein vorverfolgt ausgereister afghanischer Staatsangehöriger aus der Provinz Laghman, bei dem die Vermutung dafür spricht, dass er bei Rückkehr dorthin erneuter Verfolgung ausgesetzt wäre und der verfolgungsbedingt von seiner Frau und den beiden gemeinsamen minderjährigen Kindern getrennt wurde, kann nicht auf die dieser Provinz benachbarte Stadt Kabul als Ort internen Schutzes im Sinne des § 3e AsylG (juris: AsylVfG 1992) verwiesen werden (Rn.72).

2. Ob gemäß § 3e Abs 1 Nr 2 AsylG (juris: AsylVfG 1992) von einem Schutzsuchenden vernünftigerweise erwartet werden kann, sich in einem anderen Landesteil seines Heimatlandes niederzulassen, ist nach wertender Betrachtung unter Berücksichtigung der die Situation vor Ort prägenden Umstände sowie der persönlichen Umstände zu ermitteln (Rn.78).

3. Bei einer verfolgungsbedingten Trennung vom Ehepartner bzw. von gemeinsamen minderjährigen Kindern sind diese Familienangehörigen in die Prüfung einzubeziehen (Rn.72).

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Afghanistan, Laghman, Arbaki, Militär, Taliban, politische Verfolgung, physische Gewalt, interner Schutz, interne Fluchtalternative, nichtstaatliche Verfolgung, Vorverfolgung, Vermutungswirkung, Familienangehörige, Flüchtlingsanerkennung, minderjährige Kinder,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3e, AsylG § 3 Abs. 2 Nr. 1, AsylG § 3 Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 3b Abs. 2, AsylG § 3c Nr. 3, RL 2011/95/EU Art. 4 Abs. 4
Auszüge:

[...]

49 2. Gemessen an diesen Grundsätzen ist dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, da er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung außerhalb seines Heimatlandes befindet. Dem vorverfolgten Kläger droht in Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung und er wird dort nach Überzeugung des Senats keinen internen Schutz im Sinne des § 3e AsylG finden können (dazu unter 3.).

50 Die Schilderungen des Klägers vor dem Senat waren insgesamt, also auch, soweit sie allgemein seinen Werdegang in der afghanischen Armee, die im Kampfeinsatz erlittenen Verwundungen sowie die daraufhin folgenden Behandlungen, und das Folgegeschehen betrafen, für den Senat glaubhaft. Dies gilt auch, soweit der Kläger geschildert hat, dass Mitglieder der Taliban oder jedenfalls ihnen nahestehende regierungsfeindliche Kräfte das Haus seiner Familie auf Grund seiner Tätigkeit in der afghanischen Nationalarmee und der hieraus geschlossenen Nähe zur afghanischen Regierung angegriffen und zerstört haben und seine Tötung erreichen wollten.

51 Im Einzelnen:

52,53 Nach der glaubhaften Schilderung des Klägers war es bereits in der Vergangenheit zu Konflikten zwischen seinem Vater sowie seinen älteren Brüdern und regierungsfeindlichen Kräften gekommen, u.a. weil die Brüder des Klägers auf Betreiben des Vaters bei den Arbaki aktiv waren. Unter der Bezeichnung Arbaki werden lokal organisierte Sicherheitsgruppen zusammengefasst, also Kampftruppen auf Stammes- oder Gemeindeebene. Verschiedene solcher paramilitärischer Initiativen wurden zur Unterstützung der afghanischen Regierung und der offiziellen bewaffneten Kräfte Afghanistans (aus)gebildet und offiziell anerkannt. Immer wieder wurde ihnen auch eine offizielle Funktion im Sicherheitsapparat der Regierung zugebilligt (zu den Arbaki: EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Recruitment by armed groups (September 2016), S. 33; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Security Situation (Januar 2016), S. 7 und 18 m.w.N.; vgl. zur undifferenzierten Bezeichnung verschiedener Aufstands- und lokaler Verteidigungskräfte, die als Anti-Taliban-Kräfte entstanden und vom Staat "adoptiert" wurden, als Arbaki: Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S. 19). [...]

63-66 Die Verfolgung des Klägers ging von nichtstaatlichen Akteuren im Sinne des § 3c Nr. 3 AsylG aus, nämlich von Taliban oder jedenfalls von diesen nahestehenden Kräften (zur weitreichenden Sammelbezeichnung "Taliban", der eine heterogene Mischung von Splittergruppen und -interessen umfasst: Pro Asyl, Afghanistan - No safe country for refugees, Mai 2017, 26 f.) und der afghanische Staat wie auch die sonstigen, in § 3d AsylG genannten Schutzakteure sind nicht in der Lage, den Kläger vor weiterer Verfolgung durch diese zu schützen.

67,68 So ist gerade die Heimatprovinz der Klägers, Laghman, noch immer Schauplatz zahlreicher Auseinandersetzungen zwischen den Sicherheitskräften und regierungsfeindlichen Kräften (insbesondere den Taliban), sowie Anschlägen auf Mitglieder staatlicher Sicherheitskräfte (beispielsweise einen stellvertretenden Distriktpolizeikommandanten, auf einfache Polizisten, auf ein Polizeifahrzeug usw.) (Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 6/Rn. 21 und S. 7/Rn. 24; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Security Situation (November 2016), S. 111. Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Provinz Laghman, Distrikt Alingar, 10.06.2016;zu den Aktivitäten der IS-/Daesh-Splittergruppe ISKP (Islamic State Khorasan Province) in Laghman: UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 23).

69 Der Kläger ist daher vorverfolgt aus Afghanistan geflohen und kann infolgedessen die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU für sich in Anspruch nehmen.

70 Diese Vermutung ist auch nicht widerlegt. Hierfür wäre erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung entkräften. Solche Gründe liegen aber nicht vor. Insbesondere ist dies nicht aus dem Umstand, dass die Ehefrau und die Kinder des Klägers nach seinen Angaben bislang an ihrem derzeitigen Aufenthaltsort beim Vater der Ehefrau im etwa drei Stunden Fußmarsch vom Heimatdorf des Klägers entfernten Dorf A. nicht angegriffen wurden, herzuleiten.

71-74 Dass regierungsfeindliche Kräfte durchaus auch gegen Familienangehörige tatsächlich oder vermeintlich regierungsnaher oder mit der internationalen Gemeinschaft verbundenen Personen nach dem Prinzip einer Sippenhaft vorgehen (vgl. etwa UNCHR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 47), erlaubt nicht etwa im Umkehrschluss die Folgerung, ein Ausbleiben einer entsprechenden Racheaktion bedeute, dass demjenigen, der von regierungsfeindlichen Kräften vorverfolgt wurde, keine Gefahr mehr droht und entsprechend erneute Übergriffe auf ihn ausgeschlossen wären. Denn das Verhalten regierungsfeindlicher Kräfte folgt insoweit keinem erkennbaren Muster und deren künftiges Handeln ist nicht stringent und daher nicht stets vorhersehbar (zu den diversen, nicht vorhersehbaren Handlungsweisen und wechselnden Bekundungen beispielsweise durch die Taliban bei allgemeinen Machtdemonstrationen und Angriffen auf ziviles Leben zum einen und Verfolgung von Gegnern zum anderen: Stahlmann, Zur aktuellen Bedrohungslage der afghanischen Zivilbevölkerung im innerstaatlichen Konflikt, ZAR 2017/5-6, 189 (194 ff.); Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S. 13; UNCHR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S.47; UNAMA, Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017, S. 42 f.; UNAMA, Annual Report 2016: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2017, S. 27 und 74).

75 Daher ist auch der Umstand, dass seine aus dem Heimatdorf des Klägers weggezogene Familie von Übergriffen verschont geblieben ist, nicht geeignet, die auf den Kläger bezogene Vermutung weiterer Verfolgung zu widerlegen.

76 3. Dem Kläger steht auch kein interner Schutz nach § 3e AsylG vor der somit im Fall einer Rückkehr zu erwartenden weiteren Verfolgung zur Verfügung. [...]

79 a) Der von der Beklagten vertretenen Auffassung, die Stadt Kabul böte internen Schutz im Sinne des § 3e AsylG, trifft nicht zu, da es jedenfalls am letztgenannten Kriterium - den Voraussetzungen des § 3e Abs. 1 Nr. 2 letzte Var. AsylG - fehlt. Es kann von ihm nicht vernünftigerweise erwartet werden, dass er sich mit seiner Frau und den beiden minderjährigen Kindern in Kabul niederlässt. [...]

98 b) Denn gemessen an diesen Anforderungen kann der Kläger nicht auf Kabul als interne Schutzalternative verwiesen werden, weil ihm auf Grund der aktuellen Lage in Kabul bereits die Sicherung des wirtschaftlichen Existenzminimums für sich selbst, seine Frau und die beiden gemeinsamen minderjährigen Kinder nicht möglich sein wird.

99,100 Im Ausgangspunkt ist festzuhalten, dass die Wirtschafts-, Versorgungs- und Sicherheitslage in Kabul bereits in der Vergangenheit als äußerst schwierig bewertet wurde [...].

105 Die schon in der Vergangenheit bestehenden prekären Verhältnisse haben sich zwischenzeitlich auf Grund einer Vielzahl von Faktoren nochmals verschlechtert. Dies betrifft die allgemeine wirtschaftliche Situation in Kabul (aa)) und die dortige Versorgungslage (bb)), die humanitären Umstände (cc)), insbesondere aber auch die Sicherheitslage (dd)), wobei sich Rückkehrer aus dem westlichen Ausland zusätzlichen Gefahren ausgesetzt sehen (ee)). Andererseits können Rückkehrer aus dem westlichen Ausland auch von diversen Unterstützungsprogrammen profitieren (ff)). [...]

297 c) Unter Berücksichtigung dieser aktuell in Kabul herrschenden Umstände kann vom Kläger und seiner Frau mit den beiden minderjährigen Kindern nicht vernünftigerweise erwartet werden, sich dort niederzulassen.

298 Denn der Kläger wird angesichts der Verhältnisse in Kabul nicht in der Lage sein, dort den Lebensunterhalt für sich und seine Familie zu sichern und auch nur einfache Lebensbedingungen zu erreichen.

299,300 Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts ist der Kläger bei dieser Wertungsfrage nicht als alleinstehender Mann zu behandeln. Diese Auffassung übergeht die familiären Bindungen, aus denen sich - selbstredend auch in Afghanistan - das Recht ergibt, als Familie zusammenzuleben und die Pflicht, füreinander im Rahmen des Möglichen, auch finanziell, einzustehen (vgl. Rastin-Tehrani/ Yassari, Max Planck Manual on Family Law in Afghanistan, 2nd edt., S. 55 ff., 100 ff.; im Übrigen zur entsprechenden Wertung auch über Afghanistan hinaus: Art. 16 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sowie Art. 23 RL 2011/95/EU, Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union - GRCh -, Art. 6 GG und Art. 8 EMRK).

301 Die Annahme des Verwaltungsgerichts, der Kläger und dessen Frau sowie die gemeinsamen minderjährigen Kinder könnten auf eine "Fernbeziehung" verwiesen werden, ist umso fernliegender, als die Trennung offensichtlich nicht auf einem autonomen Entschluss der Familienmitglieder beruht, sondern gerade Folge der Verfolgung des Klägers ist. Der Verweis darauf, dass der Kläger während der Zeit seines Militärdienstes schon von seiner Familie getrennt gewesen sei, ist hier daher entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts ohne jede Bedeutung. Vom Kläger und seiner Familie kann nicht verlangt werden, die zwischenzeitlich fluchtbedingt eingetretene Trennung auf (angesichts der nicht absehbaren Dauer der Verfolgungslage) ungewisse Zeit aufrecht zu erhalten, indem er sich in Kabul niederlässt, während seine Ehefrau und seine Kinder in der Provinz Laghman bei den Schwiegereltern des Klägers verbleiben. Die damit einhergehende, einzig denkbare Möglichkeit zum Kontakt der Familienmitglieder untereinander wäre der Besuch von Frau und Kindern in Kabul oder das Zusammentreffen an einem anderen "sicheren" Ort, was aber für eine unbegleitete Frau mit Kindern nicht vorstellbar ist und (allein im Hinblick auf den Reiseweg) mit vielfältigen Gefährdungen einherginge. [...]

308 Im Falle des Klägers kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass er verlässlich in der Lage sein wird, das für einen auch nur einigermaßen angemessenen Lebensunterhalt Erforderliche durch Erwerbstätigkeit zu erlangen.

309 Wie sich aus den vorstehenden Darstellungen ergibt, ist der Arbeitsmarkt in Kabul mehr als nur angespannt. Wie der Kläger, der über keine Netzwerke verfügt, über die er in Kabul eine Arbeitsstelle erlangen könnte, Arbeit finden soll, ist nicht ersichtlich. So ist der Kläger auch kein gesunder Mann. Wie sich aus den vorliegenden ärztlichen Unterlagen, an denen der Senat keinen Anlass zu Zweifeln hat, ergibt, ist die Beweglichkeit der linken Hand des Klägers (dies betrifft insbesondere Daumen und Zeigefinger und die Möglichkeit, die Hand zu schließen) eingeschränkt. Mehr noch als diese objektive bestehende gesundheitliche Beeinträchtigung, die nach den glaubhaften Angaben des Klägers schon in der Vergangenheit (in der Türkei) dazu geführt hat, dass er von Tagelöhnertätigkeiten weggeschickt worden war, steht den Erwerbschancen des Klägers entgegen, dass diese Beeinträchtigung angesichts der zurückgebliebenen Narben insbesondere auch im Bereich des Unterarms deutlich sichtbar ist. Dass sich ein Arbeitgeber auf der Suche nach einem Tagelöhner aus dem zwischenzeitlich fast uferlosen Pool an Kräften gerade den sichtlich beeinträchtigten Kläger aussuchen sollte, bei dem im Hinblick auf Art und Umfang seiner Narben auch der Verdacht nahe liegt, er habe aktiv - auf welcher Seite auch immer - an Kampfhandlungen teilgenommen, ist mehr als nur unwahrscheinlich. Umgekehrt müsste der Kläger stets mit der Sorge leben, dass Personen, die ihn wider Erwarten doch als Tagelöhner mit sich nehmen wollten, dies tatsächlich nur anbieten, weil sie ihn infolge seiner sichtbaren Narben als feindlichen Kämpfer einschätzen und deswegen zur Rechenschaft ziehen wollen.

310 Der Senat geht dabei auch davon aus, dass weder die in Deutschland begonnene Ausbildung des Klägers noch seine - auch in der mündlichen Verhandlung wiederholt bewiesenen - deutschen Sprachkenntnisse zu einem Vorteil bei der Arbeitssuche in Kabul führen. Abgesehen davon, dass - wie ausgeführt - eine fachliche Qualifikation bei der Vergabe eines Arbeitsplatzes in Afghanistan bestenfalls zweitrangig hinter dem viel wichtigeren Umstand persönlicher Beziehungen steht, hat der Senat Zweifel, ob ein Zeugnis oder eine Bestätigung aus Deutschland über eine Tätigkeit oder eine (ohnehin noch nicht abgeschlossene) Ausbildung in der Gastronomie in Afghanistan Anerkennung erfährt. Vielmehr setzte sich der Kläger, der durch Vorlage solcher Unterlagen seinen Aufenthalt in Deutschland offenbaren würde, den beschriebenen Gefahren für Rückkehrer aus dem westlichen Ausland aus, die sich im günstigsten Fall auf kritische Rück- und Nachfragen bei ihm selbst und auch bei Dritten bis in seine Heimatregion erstrecken könnten. Gleiches gilt für die deutschen Sprachkenntnisse des Klägers, wobei im Übrigen auch nicht ersichtlich ist, welche (Tagelöhner- oder sonstige) Tätigkeit in Kabul solche erfordern könnte. [...]

317 d) Der Senat hat auch keine Anhaltspunkte dahin, dass der Kläger an einem anderen Ort in Afghanistan internen Schutz erlangen könnte. [...]