OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Beschluss vom 04.06.2018 - 1 B 53/18 - asyl.net: M26336
https://www.asyl.net/rsdb/M26336
Leitsatz:

Keine medizinische Alterseinschätzung bei fehlender wirksamer Einwilligung oder Belehrung:

"1. Bevor eine ärztliche Untersuchung zur Altersfeststellung nach § 42f SGB 8 durchgeführt wird, hat das Jugendamt den Betroffenen umfassend über die Untersuchungsmethode, die Folgen der Altersbestimmung sowie die Folgen der Weigerung, sich der ärztlichen Untersuchung zu unterziehen, aufzuklären. Insoweit trägt das Jugendamt die Darlegungs- und Beweislast.

2. Fehlt es an einer umfassenden Aufklärung über die Untersuchungsmethode oder die Folgen der Altersbestimmung, folgt hieraus regelmäßig ein Einwilligungsmangel des Betroffenen.

3. Solange für einen unbegleiteten Minderjährigen kein (Amts-) Vormund bestellt worden ist, kann das Jugendamt in Ausübung des ihm zustehenden Notvertretungsrechts (vgl. § 42a Abs. 3 SGB 8) als Vertreter des Minderjährigen grundsätzlich in eine ärztliche Untersuchung zur Altersbestimmung einwilligen. Eine solche Einwilligung ist jedoch nur dann wirksam, wenn innerhalb des Jugendamtes eine organisatorische und personelle Trennung besteht, um eine Interessenkollision zu verhindern.

4. Holt das Jugendamt ein ärztliches Gutachten ein, ohne dass eine wirksame Einwilligung des Betroffenen und seines Vertreters vorliegt, ist das Gutachten im behördlichen Verfahren zur Altersfeststellung nicht verwertbar.

5. Klärt das Jugendamt entgegen § 42f Abs. 2 Satz 2 Hs. 1 SGB 8 den Betroffenen nicht schriftlich über die Folgen einer Weigerung, sich der ärztlichen Untersuchung zu unterziehen auf, kann es eine Inobhutnahme nicht allein wegen fehlender Mitwirkung nach § 42f Abs. 2 Satz 4 SGB 8 i. v. m. § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB 1 verweigern."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: unbegleitete Minderjährige, Altersfeststellung, medizinische Untersuchung, Röntgenaufnahme, Aufklärung, Aufklärungsmangel, Einwilligung, Einwilligungsmangel, Jugendamt, Interessenkonflikt, Interessenkollision, Notvertretungsrecht, Notvertretung, Inobhutnahme, Verteilung, minderjährig, Volljährigkeit, ärztliche Untersuchung, Gutachten, Belehrung,
Normen: SGB I § 66 Abs. 1, SGB I § 66 Abs. 3, SGB VIII § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, SGB VIII § 42a Abs. 1 S. 1, SGB VIII § 42f Abs. 2, RL 2003/32/EU Art. 25
Auszüge:

[...]

II. Die Beschwerde des Antragstellers gegen die Ablehnung vorläufigen Rechtsschutzes, bei deren Prüfung das Oberverwaltungsgericht auf die dargelegten Gründe beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), hat Erfolg. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Ablehnung der vorläufigen Inobhutnahme ist anzuordnen. Die im Rahmen des § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO vorzunehmende Interessenabwägung geht zu Gunsten des Antragstellers aus. Es bestehen nach summarischer Prüfung ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides des Amtes für soziale Dienste vom 04.04.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.07.2017 der Senatorin für Soziales, Jugend, Frauen, Integration und Sport.

Das behördliche Verfahren zur Altersfeststellung des Antragstellers genügt nicht den in § 42f SGB VIII niedergelegten gesetzlichen Anforderungen. Der Antragsteller ist vor der Durchführung der ärztlichen Untersuchung am ... 2017 nicht umfassend über die Untersuchungsmethode, die Folgen der Altersbestimmung sowie die Folgen einer Weigerung, sich der ärztlichen Untersuchung zu unterziehen, aufgeklärt worden. Aus diesem Grund konnte der Antragsteller nicht wirksam in die ärztliche Untersuchung einwilligen. Eine Einwilligung seines Vertreters fehlt vollständig. Aufgrund dessen ist das Gutachten des Instituts für Rechtsmedizin des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf nicht verwertbar. [...]

3. Das altersdiagnostische Gutachten des Instituts für Rechtsmedizin des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf vom ... 2017 kann entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin und des Verwaltungsgerichts bereits deshalb nicht zur Bestimmung des Alters des Antragstellers herangezogen werden, weil weder der Antragsteller noch sein Vertreter wirksam in die Untersuchung eingewilligt haben.

a) Der Antragsteller hat nicht in die Durchführung der ärztlichen Untersuchung am ... 2017 eingewilligt. Die von dem Antragsteller am ... 2017 unterschriebene Erklärung vermag allein schon deshalb eine wirksam erteilte Einwilligung nicht zu belegen, weil der Antragsteller zuvor nicht umfassend aufgeklärt wurde. Aus den genannten Aufklärungsmängeln folgt der Einwilligungsmangel. Ein Betroffener ist regelmäßig nur dann in der Lage, in Ausübung seines Selbstbestimmungsrechts eine Einwilligung zu erteilen, wenn er zuvor umfassend über die Untersuchungsmethode und die Folgen der Altersbestimmung aufgeklärt wurde. [...]

Die insoweit darlegungs- und beweisbelastete Antragsgegnerin hat auch nachdem der Antragsteller substantiiert bestritten hatte, dass eine umfassende Aufklärung stattgefunden habe, keine Dokumentation über eine erfolgte Aufklärung vorgelegt. Weder die von dem Antragsteller am ... 2017 unterschriebene Erklärung in deutscher und französischer Sprache noch die Einverständniserklärung des stellvertretenden Referatsleiters vom selben Tage sind geeignet, eine Aufklärung zu belegen. Dies gilt ebenso für die gegenüber dem Amtsgericht Bremen – Familiengericht – abgegebene Stellungnahme eines Mitarbeiters des Jugendamtes, in der behauptet wird, der Antragsteller sei bezüglich der medizinischen Untersuchung ausführlich aufgeklärt worden.

Regelmäßig wird das insoweit darlegungs- und beweisbelastete Jugendamt im Falle eines substantiierten Bestreitens des Betroffenen nur durch eine schriftliche Dokumentation der Aufklärung, die von einem Mitarbeiter des Jugendamtes, dem Betroffenen und ggf. einem Dolmetscher zu unterzeichnen ist, belegen können, dass eine Aufklärung stattgefunden hat. In eine solche Dokumentation wird zudem der konkrete Inhalt der Aufklärung aufzunehmen sein.

Da die Aufklärungsverpflichtung des Jugendamtes über die Untersuchungsmethode neben der ärztlichen Aufklärungspflicht besteht und die Mitarbeiter regelmäßig nicht über medizinisches Fachwissen verfügen, dürfen die Anforderungen an eine Aufklärung durch Mitarbeiter des Jugendamtes über die medizinische Untersuchungsmethode nicht überspannt werden. Gleichwohl hat die Aufklärung nach dem eindeutigen Wortlaut des § 42f Abs. 2 Satz 2 SGB VIII auch insoweit umfassend zu sein. Zu einer solchen Aufklärung gehört, dass dem Betroffenen mitgeteilt wird, dass zwar die exakte Bestimmung des chronologischen Alters nicht möglich ist, gleichwohl jedoch mittels radiologischer Bildgebung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit festgestellt werden kann, ob der Betroffene über 18 Jahre alt ist. Des Weiteren ist hinsichtlich der Aufklärung über die Untersuchungsmethode eine Orientierung an den Empfehlungen der Arbeitsgemeinschaft für Forensische Altersdiagnostik der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin (im Folgenden: AGFAD) aufgestellten Empfehlungen für Altersschätzungen bei Lebenden geboten (vgl. hierzu im Einzelnen die Beschlüsse des Senats vom heutigen Tage in den Sachen 1 B 10/18 und 1 B 82/18).

Hinsichtlich der möglichen Folgen der Altersbestimmung muss eine umfassende Aufklärung zum Gegenstand haben, dass der Betroffene je nach Ergebnis der Altersbestimmung weiterhin vorläufig in Obhut verbleibt oder aber die vorläufige Inobhutnahme beendet wird. Insoweit ist insbesondere über die praktischen Konsequenzen aufzuklären, die aus einer Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme in sozial- und ggf. auch in aufenthaltsrechtlicher Hinsicht folgen.

Weiterhin ist der Auffassung der Antragsgegnerin, der Antragsteller sei spätestens beim Zahnarzt aufgeklärt worden, nicht zu folgen. Die insoweit darlegungs- und beweisbelastete Antragsgegnerin hat keine Unterlagen vorgelegt, die eine ordnungsgemäß durchgeführte ärztliche Aufklärung belegen. [...] Zudem hat die Aufklärung stets vor der Erteilung einer Einwilligung zu erfolgen. Auch nach dem Vortrag der Antragsgegnerin hatte der Antragsteller seine vermeintliche Einwilligung jedoch vor dem Aufsuchen der Zahnarztpraxis erteilt. Im Übrigen hat die Aufklärung ausweislich des eindeutigen Wortlauts des § 42f Abs. 2 Satz 2 SGB VIII durch das Jugendamt und nicht durch den die Untersuchung durchführenden Arzt zu erfolgen. Die ärztliche Aufklärungspflicht besteht unabhängig von der des Jugendamtes. [...]

Schließlich ist der Antragsteller entgegen § 42f Abs. 2 Satz 3 Hs. 1 SGB VIII nicht über die Folgen einer Weigerung, sich der ärztlichen Untersuchung zu unterziehen, aufgeklärt worden. Insoweit hätte das Jugendamt umfassend über die Voraussetzungen und Folgen eines für den Fall der Weigerung möglicherweise durchzuführenden Verfahrens nach § 42f Abs. 2 Satz 4 SGB VIII i. V. m. § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I aufklären müssen. Eine solche Aufklärung muss in schriftlicher Form (§ 66 Abs. 3 SGB I) darauf hinweisen, dass eine Aufgabenerfüllung des Jugendamtes, die an die Minderjährigkeit anknüpft, verweigert oder eingestellt und Leistungen versagt oder entzogen werden können (vgl. Kepert, ZFSH/SGB 2018, 135 (137)). Folge einer fehlenden Belehrung ist insoweit allerdings nur, dass eine Inobhutnahme nicht allein wegen fehlender Mitwirkung verweigert werden darf.

b) Der gesetzliche Vertreter des Antragstellers hat ebenfalls nicht wirksam in die ärztliche Untersuchung eingewilligt. Die am ... 2017 von dem stellvertretenden Leiter des Referats Erstversorgung für unbegleitete minderjährige Ausländer abgegebene Einverständniserklärung erfüllt nicht die gesetzlichen Anforderungen des § 42f Abs. 2 Satz 3 Hs. 2 SGB VIII.

Da am 19.07.2017 für den Antragsteller eine vorläufige Vormundschaft noch nicht wirksam bestellt worden war, weil der Beschluss des Amtsgerichts Bremen – Familiengericht – vom selben Tage erst mit seiner Zustellung am 02.08.2017 wirksam wurde (vgl. § 40 Abs. 1 FamFG), hätte das Jugendamt zwar grundsätzlich in Ausübung des ihm nach § 42a Abs. 3 SGB VIII zustehenden Notvertretungsrechts in die ärztliche Untersuchung einwilligen können. Indessen erfordert eine solche Einwilligung in Ausübung des Notvertretungsrechts eine organisatorische und personelle Trennung innerhalb des Jugendamtes, um eine Kollision zwischen den Interessen des Jugendamtes als Vertretung des unbegleiteten Minderjährigen und als Behörde, die maßgebliche Entscheidungen im Hinblick auf die Altersfeststellung und Verteilung sowie die Durchführung von Maßnahmen und Gewährung von Leistungen für den Jugendlichen zu treffen hat, zu verhindern (vgl. Stellungnahme des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e. V. zum Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher vom 23.09.2015, S. 5). Hiervon geht auch die Gesetzesbegründung aus (vgl. BT-Drs. 18/5921, S. 24). Mitarbeiter des für die Alterseinschätzung zuständigen Referats sind demnach daran gehindert, eine Einwilligung nach § 42f Abs. 2 Satz 3 Hs. 2 SGB VIII zu erteilen. Die Aufgaben im Rahmen der Notkompetenz sollten vielmehr von Personen im Jugendamt wahrgenommen werden, die für die Amtsvormundschaft zuständig sind (vgl. Wiesner, SGB VIII, Nachtragskommentierung Dez. 2015, § 42a Rn. 17.

4. Die vorgenannten Aufklärungs- und Einwilligungsmängel stehen einer Verwertbarkeit des Gutachtens des Instituts für Rechtsmedizin des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf vom ... 2017 entgegen.

In einem Gerichtsverfahren darf nicht jedes Beweismittel unabhängig von der Frage, wie es erlangt wurde, verwertet und der Entscheidung zugrunde gelegt werden. Zwar regelt die VwGO nicht ausdrücklich, wann ein Beweisverwertungsverbot vorliegt, jedoch ist allgemein anerkannt, dass die Verwertung unzulässig erlangter Beweismittel unter bestimmten Voraussetzungen verboten ist. Ein unzulässig entstandenes oder erlangtes Beweismittel zieht allerdings nicht automatisch ein Verwertungsverbot nach sich. Vielmehr ist ausgehend von der verletzten Rechtsnorm zu beurteilen, welche Folgen der Verstoß hat (vgl. BSG, Urteil vom 05.02.2008 – B 2 U 10/07 R –, Rn. 51, juris m.w.N.).

In Anwendung dieses Maßstabs liegt hier ein besonders schwerwiegender Verstoß gegen die das Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen schützenden gesetzlichen Regelungen des § 42f Abs. 2 Sätze 2, 3 SGB VIII vor. Im vorliegenden Fall sind die gesetzlichen Regelungen hinsichtlich der umfassenden Aufklärung des Antragstellers über die Untersuchungsmethode und die Folgen der Altersbestimmung gänzlich nicht eingehalten worden. Hieraus resultiert der Einwilligungsmangel des Antragstellers.

Zudem hat das Jugendamt das Notvertretungsrecht wegen der fehlenden organisatorischen Trennung nicht in rechtmäßiger Weise ausgeübt. Das gesetzliche Erfordernis einer Einwilligung des Betroffenen und seines Vertreters dient zudem gerade dem Kindeswohl. Folgte aus diesen Mängeln nicht auch ein Beweisverwertungsverbot, liefe der von § 42f Abs. 2 Sätze 2, 3 SGB VIII beabsichtigte Schutz in einer nicht hinzunehmenden Weise leer. Dass es sich vorliegend um einen besonders schwerwiegenden Verstoß gegen gesetzliche Vorschriften handelt, wird zudem durch einen Vergleich mit dem Unionsrecht bestätigt. Art. 25 Abs. 5 UnterAbs. 3 Buchst. a) bis c) der RL 2013/32/EU, dem die Regelung des § 42f Abs. 2 SGB VIII insoweit erkennbar nachgebildet ist, macht deutlich, dass es sich bei der umfassenden Aufklärung über die Untersuchungsmethode, die möglichen Folgen der Altersbestimmung und die Folgen einer Weigerung, sich der ärztlichen Untersuchung zu unterziehen, sowie der Einwilligung des Betroffenen und seines gesetzlichen Vertreters um verfahrensrechtliche Mindeststandards handelt, die nicht umgangen werden dürfen.

5. Unabhängig von den vorstehenden Erwägungen genügt das Gutachten des Instituts für Rechtsmedizin nach der im vorliegenden Verfahren gebotenen summarischen Prüfung nicht den Anforderungen, die an ein forensisches Gutachten zur Altersdiagnostik zu stellen sind. Weder entspricht es in Gänze den von der AGFAD aufgestellten Empfehlungen für Altersschätzungen bei Lebenden noch ist der in dem Gutachten genannte Wahrscheinlichkeitsmaßstab, wonach der Antragsteller mit "sehr großer Wahrscheinlichkeit" über 18 Jahre alt sei, in rechtlicher Hinsicht als ausreichend anzusehen (vgl. hierzu im Einzelnen die Beschlüsse des Senats vom heutigen Tage in den Sachen 1 B 10/18 und 1 B 82/18). [...]