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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 25.10.2017 - 1 C 21.16 - asyl.net: M26365
https://www.asyl.net/rsdb/M26365
Leitsatz:

1. Nach § 15 Abs. 2 Satz 2 BVFG darf eine Spätaussiedlerbescheinigung Personen, die bei ihrer Einreise in den Aufnahmebescheid einer Bezugsperson einbezogen waren, nur erteilt werden, wenn die Erteilung eines eigenen Aufnahmebescheides beantragt und nicht bestands- oder rechtskräftig abgelehnt worden ist. Diese mit Wirkung vom 1. Januar 2005 geschaffene zusätzliche Voraussetzung findet grundsätzlich auch auf Personen Anwendung, die vor dem 1. Januar 2005 in das Bundesgebiet eingereist sind.

2. Die Anwendung des § 15 Abs. 2 Satz 2 BVFG auf diese Fälle führt jedenfalls dann nicht zu einer verfassungswidrigen Rückwirkung, wenn der Antrag auf Erteilung einer Spätaussiedlerbescheinigung nach § 15 Abs. 1 BVFG nicht mehr im zeitlichen Zusammenhang mit der Einreise in das Bundesgebiet gestellt wurde.

3. Ein Wiederaufnahmeantrag (§ 51 VwVfG) kann die Tatsache einer bestandskräftigen Ablehnung eines Antrages auf Erteilung eines Aufnahmebescheides im Zeitpunkt der Ausreise nicht rückwirkend beseitigen.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Spätaussiedler, Aufnahmebescheid, Wiederaufnahme des Verfahrens, Änderung der Rechtslage,
Normen: BVFG § 15 Abs. 2 Satz 2,
Auszüge:

[...]

1. Der Kläger hat bereits deshalb keinen Anspruch auf die begehrte Erteilung einer Spätaussiedlerbescheinigung, weil er die Voraussetzungen des § 15 Abs. 2 Satz 2 BVFG nicht erfüllt. Nach dieser Vorschrift kann dem in den Aufnahmebescheid eines Spätaussiedlers einbezogenen (vgl. § 27 Abs. 2 BVFG) Ehegatten oder Abkömmling eine Bescheinigung nach § 15 Abs. 1 BVFG nur ausgestellt werden, wenn die Erteilung eines Aufnahmebescheides beantragt und nicht bestandskräftig abgelehnt worden ist. § 15 Abs. 2 Satz 2 BVFG findet grundsätzlich auch auf Personen Anwendung, die vor dem 1. Januar 2005 im Wege der Einbeziehung in den Aufnahmebescheid eines Spätaussiedlers eingereist sind (1.1.1), ohne dass dem insgesamt Gründe des Vertrauensschutzes entgegenstehen (1.1.2); soweit Vertrauensschutz in engen Grenzen anzuerkennen ist (1.1.2.3), greift dies nicht zugunsten des Klägers durch (1.1.2.4). Für die Frage, ob im Sinne des § 15 Abs. 2 Satz 2 BVFG ein Aufnahmebescheid bestandskräftig abgelehnt worden ist, ist der Zeitpunkt der Einreise maßgeblich; ein Wiederaufnahmeantrag nach § 51 VwVfG kann die anspruchshindernde Wirkung einer Antragsablehnung nicht rückwirkend beseitigen (1.2).

1.1 Diese mit Wirkung vom 1. Januar 2005 durch das Zuwanderungsgesetz vom 30. Juli 2014 (BGBl. I S. 1950) geschaffene zusätzliche Voraussetzung für die Erteilung einer Spätaussiedlerbescheinigung ist entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts in zeitlicher Hinsicht auch im Fall des Klägers anwendbar. Dem steht nicht entgegen, dass der Kläger bereits vor dem Inkrafttreten dieser Norm (dem 1. Januar 2005) im Bundesgebiet Aufnahme gefunden hat.

1.1.1 § 15 Abs. 2 Satz 2 BVFG findet grundsätzlich auch in Fällen Anwendung, in denen der Betroffene - wie hier - vor dem 1. Januar 2005 eingereist ist, nachdem er als Abkömmling oder Ehegatte in den Aufnahmebescheid eines Spätaussiedlers einbezogen worden war. Der frühere § 100a Abs. 1 BVFG 2001, wonach auch Anträge nach § 15 Abs. 1 BVFG nach dem Recht zu bescheiden sind, das nach dem 7. September 2001 gilt, ist dafür allerdings bedeutungslos. Diese Übergangsvorschrift war hier - ungeachtet ihrer Aufhebung - bereits nicht einschlägig, weil sie lediglich einen (statischen) Verweis auf die zum 7. September 2001 in Kraft getretene Neufassung des § 6 Abs. 2 BVFG enthielt (vgl. BVerwG, Urteil vom 28. Mai 2015 - 1 C 24.14 - BVerwGE 152, 164 Rn. 21).

Die Entscheidung über die vorliegende Verpflichtungsklage richtet sich im Ausgangspunkt nach der Rechtslage, die im Zeitpunkt der Entscheidung des Berufungsgerichts bestanden hat (stRspr, BVerwG, Urteil vom 13. September 2007 - 5 C 38.06 - BVerwGE 129, 265 Rn. 11). Überdies erfassen nach den Grundsätzen des intertemporalen Verwaltungsrechts Rechtsänderungen grundsätzlich alle bei ihrem Inkrafttreten anhängigen Fälle, sofern das Gesetz nicht mit hinreichender Deutlichkeit etwas Abweichendes bestimmt (BVerwG, Urteile vom 14. April 2011 - 3 C 20.10 - BVerwGE 139, 323 Rn. 16 und vom 28. September 2011 - 3 C 38.10 - Buchholz 427.3 § 349 LAG Nr. 28 Rn. 12; BVerfG, Beschluss vom 7. Juli 1992 - 2 BvR 1631/90, 2 BvR 1728/90 - BVerfGE 87, 48 <62 f.>). Damit sind auch Rechtsnormen, die erst nach der Einreise des Klägers in Kraft getreten sind und die Voraussetzungen für die Erteilung einer Spätaussiedlerbescheinigung näher bestimmen, grundsätzlich zu berücksichtigen.

Dass sich die Beurteilung der Spätaussiedlereigenschaft auch im Bescheinigungsverfahren grundsätzlich nach der Rechtslage bei Aufnahme in das Bundesgebiet richtet (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Juli 2015 - 1 C 29.14 - BVerwGE 152, 283 Rn. 38), bezieht sich allein auf die Spätaussiedlereigenschaft und nicht auf die hiervon zu trennenden weiteren Voraussetzungen für die Erteilung einer Spätaussiedlerbescheinigung. Für deren Erteilung verlangt der Gesetzgeber mit dem am 1. Januar 2005 in Kraft getretenen § 15 Abs. 2 Satz 2 BVFG von dem Antragsteller, dass er vor der Einreise ein nicht bestandskräftig negativ abgeschlossenes Aufnahmeverfahren in Gang gesetzt hat. Diese zusätzliche Voraussetzung ist nicht im Wege einer Modifikation des Spätaussiedlerbegriffs eingeführt, sondern - systematisch getrennt von § 4 BVFG - bezogen allein auf das Bescheinigungsverfahren.

Eine ausdrückliche Übergangsvorschrift, die die Anwendbarkeit des § 15 Abs. 2 Satz 2 BVFG auf noch offene Bescheinigungsverfahren ausschließt, wenn die Aufenthaltnahme vor dem 1. Januar 2005 erfolgt ist, hat der Gesetzgeber nicht vorgesehen. Die Gesetzesmaterialien lassen auch keinen eindeutigen Gesetzeswillen dahin erkennen, dass § 15 Abs. 2 Satz 2 BVFG nicht alle bei lnkrafttreten der Norm einschlägigen Fälle erfassen soll. Vielmehr sollte mit Hilfe der Sperrwirkung des § 15 Abs. 2 Satz 2 BVFG generell verhindert werden, dass solchen Personen eine Spätaussiedlerbescheinigung nach § 15 Abs. 1 BVFG ausgestellt wird, deren Aufnahmeverfahren negativ abgeschlossen worden war oder die vor der Einreise einen Antrag auf Erteilung eines Aufnahmebescheides nicht gestellt hatten (BT-Drs. 15/420 zu Nr. 4b S. 119). Zwar ist der Gesetzgeber hierbei unzutreffend davon ausgegangen, dieser Personenkreis habe die Aussiedlungsgebiete nicht "im Wege des Aufnahmeverfahrens" gemäß § 4 Abs. 1 BVFG verlassen. Denn auch die Aufenthaltnahme nach einer Einbeziehung in den Aufnahmebescheid einer Bezugsperson erfolgt im Sinne des § 4 Abs. 1 BVFG "im Wege des Aufnahmeverfahrens" (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Juli 2015 - 1 C 29.14 - BVerwGE 152, 283 Rn. 23; s. bereits - zur Formulierung in § 7 Abs. 2 BVFG - BVerwG, Urteile vom 12. Juli 2001 - 5 C 10.01 - NVwZ-RR 2002, 387 und - 5 C 30.00 - BVerwGE 115, 10 <13 f.>). Dies lässt aber nicht auf eine Absicht schließen, die Anwendbarkeit des § 15 Abs. 2 Satz 2 BVFG in zeitlicher Hinsicht einzuschränken. Vielmehr hat der Gesetzgeber die Unterscheidung von Statuserwerb und Statusbescheinigung vorausgesetzt und mit der Begründung einer - selbstständig neben dem Status nach § 4 BVFG stehenden - zusätzlichen Voraussetzung für die Erteilung der Bescheinigung nach § 15 Abs. 1 BVFG objektiv in Kauf genommen, dass es Personen geben kann, die zwar mit ihrer Einreise im Wege des Aufnahmeverfahrens (hier: durch Einbeziehung gemäß § 27 Abs. 2 BVFG) den Spätaussiedlerstatus erworben haben, denen aber die Bescheinigung - und damit auch die mit dem Spätaussiedlerstatus verbundenen Rechte, die nach § 15 Abs. 1 Satz 4 BVFG an den Besitz der Bescheinigung geknüpft sind - verwehrt bleibt. [...]