VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 15.06.2018 - A 12 K 1129/17 - asyl.net: M26703
https://www.asyl.net/rsdb/M26703
Leitsatz:

Subsidiärer Schutz für ein Ehepaar mit Kind aus Afghanistan wegen Bedrohung durch einen Cousin der Ehefrau, mit dem diese vorher verlobt war:

1. Ein Verfolgungsgrund i.S.d. § 3b Abs. 1 Nr. 4 b AsylG wegen Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der afghanischen Frauen, die einen anderen als den von der Familie ausgesuchten Ehemann heiraten, kann vorliegen, wenn der Gewalt nicht ausschließlich private Konfliktbeziehungen zugrunde liegen, sondern ein darüber hinausgehender allgemeiner patriarchalischer Dominanzanspruch (hier verneint).

2. Aufgrund des Islamvorbehalts in der Verfassung und tradierten Moralvorstellungen ist nicht davon auszugehen, dass eine Frau, die einen anderen Mann als ihren ursprünglichen Verlobten geheiratet hat, in Afghanistan staatliche Hilfe erhalten wird.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, nichtstaatliche Verfolgung, geschlechtsspezifische Verfolgung, Frauen, Eheschließung, soziale Gruppe, subsidiärer Schutz, Flüchtlingsanerkennung,
Normen: AsylG § 4, AsylG § 3, AsylG § 3b, AsylG § 4b, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4 Bst. b, AsylG § 4 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Die Kläger haben keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. [...]

Es kann zwar angenommen werden, dass die Klägerin zu 2 zu einer abgrenzbaren sozialen Gruppe gehört, nämlich derjenigen afghanischen Frauen, welche sich der Aufforderung der Familie, eine von ihr ausgesuchten Ehemann zu heiraten, widersetzen und einen anderen Mann ehelichen. [...]

Allerdings sieht der Berichterstatter keinen Verfolgungsgrund im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 b AsylG gegeben. Denn ein Verfolgungsgrund innerhalb des Familienverbandes, kann nicht angenommen werden, wenn der Gewalt ausschließlich private Konfliktbeziehungen zugrunde liegen. Werden die familiären Beziehungsstrukturen jedoch von patriarchalischen Überlegenheitsvorstellungen beherrscht, so dass die Gewalt nicht Ausdruck eines privaten Konflikts ist, sondern direkt auf den Status als Frau zielt, kann auch Gewalt im Kontext familiärer Beziehungen ein Verfolgungsgrund zugrunde liegen, wenn diese durch den Täter gerade wegen der geschlechtsspezifischen Rolle der Frau begangen wird. Insoweit müssen jedoch im konkreten Fall entsprechende Umstände vorgebracht werden, dass die Art und Weise der Gewaltausübung nicht lediglich Ausdruck von Frust oder Ärger ist, sondern die Gewaltausübung mit Umständen einhergeht, welche den männlichen Dominanzanspruch kennzeichnen (VG Oldenburg, Urteil vom 25.05.2016 - 3 A 6636/13 m.w.N.). [...]

Die Kläger konnten aber glaubhaft machen, dass ihnen bei einer Rückkehr ein ernsthafter Schaden droht. Zur Überzeugung des Berichterstatters steht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten, dass sich der Cousin der Klägerin zu 2 bei einer Rückkehr nach Afghanistan bei den Klägern rächen wird. Insoweit konnten die Kläger auch glaubhaft machen, dass der Cousin zwischenzeitlich wieder aus dem Iran nach Afghanistan zurückgekehrt ist. Nach Ansicht des Berichterstatters erstreckt sich die beachtliche Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines ernsthaften Schadens auch auf den Kläger zu 3. Denn nach dem glaubhaften Vortrag der Kläger 1 und 2 beschränkt der Cousin seinen Racheplan nicht auf die Klägerin zu 2, sondern bedroht auch ihren Ehemann. Es ist daher davon auszugehen, dass auch das gemeinsame - zudem im Alter von 3 Jahren schutzlose - Kind ebenfalls mit einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit vom Eintritt eines ernsthaften Schadens bedroht ist.

Den Klägern ist es auch nicht möglich, staatliche Hilfe zu erlangen. Hierbei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass die Justiz in Afghanistan aufgrund des Islamvorbehalts in der Verfassung und tradierten Moralvorstellungen nur eingeschränkt funktioniert. Rechtsstaatliche Prinzipien werden nicht konsequent angewandt (Auswärtiges Amt, Lagebericht Afghanistan Stand Mai 2018, S. 12). Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage oder aufgrund der tradierten Wertevorstellungen nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen (Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 14). Vor diesem Hintergrund kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägerin zu 2, die einen anderen Mann als ihren ursprünglichen Verlobten geheiratet hat, staatliche Hilfe in Anspruch nehmen kann. [...]