VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Beschluss vom 17.11.2016 - 6 K 1980/16 - asyl.net: M26922
https://www.asyl.net/rsdb/M26922
Leitsatz:

Abschiebung ist keine auflösende Bedingung für Duldung:

Eine Nebenbestimmung zur Duldung "Die Duldung erlischt nach Bekanntgabe des Abschiebetermins mit dem Zeitpunkt der Abschiebung" ist unverhältnismäßig und somit rechtswidrig, wenn sie "auf Vorrat" erfolgt, da eine Abschiebung vor Ablauf der Geltungsdauer der verfügten Duldung nicht ernstlich beabsichtigt oder praktisch unmöglich ist.

(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Duldung, Nebenbestimmung, Abschiebungstermin, Erlöschen, Ausreisepflicht, Vollziehbarkeit, Erlöschen der Duldung, Rechtswidrigkeit, Abschiebung, Bekanntgabe, Unverhältnismäßigkeit,
Normen: AufenthG § 60a Abs. 5 S. 4, AufenthG § 61 Abs. 1 S. 2, AufenthG § 61 Abs. 1e,
Auszüge:

[...]

Die Klage hat aber nur im Hinblick auf die Nebenbestimmung "Erlischt mit Bekanntgabe des Überstellungstermins" teilweise Erfolg. [...]

Rechtsgrundlage für die auflösende Bedingung "Erlischt mit Bekanntgabe des Überstellungstermins" ist § 61 Abs. 1, Abs. 1e) AufenthG. Danach können neben den räumlichen Beschränkungen auf das Gebiet des Bundeslandes (§ 61 Abs. 1 S. 1 AufenthG) weitere Bedingungen und Auflagen angeordnet werden.

Nach dem Wortlaut der Vorschrift sind damit grundsätzlich auch auflösende Bedingungen möglich. Hieraus wird deutlich, dass der Gesetzgeber mit der Widerrufsregelung in § 60a Abs. 5 S. 2 AufenthG keine abschließende Bestimmung über das vorzeitige Erlöschen einer Duldung getroffen hat, sondern die Möglichkeiten des Widerrufs und der auflösenden Bedingung nebeneinander stehen (vgl. VGH München. Beschl. v. 10.09.2008 - 19 C 08.2207 - juris, Rn. 4; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 22.09.2000 - 13 S 2260/99 - InfAuslR, 2001, 158 <159 f.>; VG Stuttgart, Urt. v. 09.02.2012 - 11 K 2593/11 - juris, Rn. 17; VG Hamburg, Urt. v. 04.05.2015 - 15 K 4757/13 - juris Rn. 28 VG Oldenburg, Beschl. v. 6.01.2011, -11 B 3371/10 - juris, Rn. 5 und v. 15.05.2013 - 11 A 3664/12 - juris Rn. 15; Funke/Kaiser in: GK-AufenthG, Rn. 91 zu § 60a).

Der Beklagte hat das ihm gemäß § 61 Abs. 1e) AufenthG eingeräumte Ermessen nicht bzw. fehlerhaft ausgeübt (§ 114 Satz 1 VwGO). Dabei ist entscheidungserheblich, dass in der Nebenbestimmung - offenkundig irrtümlich - der Begriff "Überstellungstermin" und nicht "Abschiebungstermin" genannt worden ist, denn das ließe sich durch entsprechende Auslegung der Bestimmung korrigieren.

Die Beifügung einer Nebenbestimmung nach §§ 61 Abs. 1e) AufenthG, 36 VwVfG hat im pflichtgemäßen Ermessen zu erfolgen, wobei die besonderen Umstände des Einzelfalles zu beachten sind (vgl. OVG Bremen, Beschl. v. 29.03.2011, 1 B 57/11, 1 B 67/11, juris Rn. 10; VG Stuttgart, Urteil vom 9.2.2012, 11 K 2593/11, juris Rn.17). Von Bedeutung ist dabei insbesondere, dass die Nebenbestimmung geeignet, erforderlich und verhältnismäßig sein muss, um den mit ihr beabsichtigten gesetzeskonformen Zweck zu erfüllen. Denn bei der auflösenden Bedingung handelt es sich um eine den Ausländer belastende Regelung: Auch wenn es sich bei lediglich geduldeten Ausländern um ausreisepflichtige Personen handelt, hinsichtlich derer lediglich die Abschiebung ausgesetzt wurde, so gibt es doch eine Vielzahl an Duldungsgründen, die ein schützenswertes Vertrauen des Ausländers dahingehend rechtfertigen, dass die ihnen erteilte Duldung bis zum Ablauf der Duldungsfrist Bestand hat. So werden Duldungen an körperlich oder psychisch Kranke erteilt oder aus dringenden familiären Gründen gegeben. Duldungen dienen auch der Sicherung des Aufenthalts in Phasen der Klärung eines Anspruchs auf Erteilung von Aufenthaltstiteln oder eines Anspruchs auf Anerkennung als Asylberechtigter. Nur ein Teil der Fälle geduldeter Ausländer mündet deshalb in eine Ausreise oder Abschiebung. Dem anderen Teil der Betroffenen gelingt es, ihren Aufenthalt zu verfestigen. Die jeweils gesetzte Duldungsfrist hat sich dabei am Zweck der Duldung auszurichten (vgl. BayVGH, Beschl. v. 18.02.2015, 10 C 14.1117 u.a., juris Rn. 20) und beschreibt deshalb einen Zeitraum, in dem bei regelmäßigem Verlauf der Sache keine Abschiebung erfolgen wird. Mit der Beifügung der Nebenbestimmung "Erlischt mit Bekanntgabe des Überstellungstermins" ist das Ende der Duldung jedoch völlig unbestimmt.

Grundsätzlich ist allerdings nicht zu beanstanden, dass eine Nebenbestimmung zu dem Zweck beigefügt wird, die beschleunigte Abschiebung eines ausreisepflichtigen Ausländers zu ermöglichen (vgl. insbesondere OVG Hamburg, Beschl. v. 16.11.2004, 3 Bs 503/04, juris Rn. 4 und VG Hamburg, Urt. v.04.05.2015 a.a.O. Rn. 40). Wenn eine Abschiebung vor Ablauf der Geltungsdauer der verfügten Duldung aber nicht ernstlich beabsichtigt ist (OVG Bremen, Beschl. v. 29.03.2011, 1 B 57/11, 1 B 67/11, juris Rn. 10; VG Oldenburg, Beschl. v. 23.01.2013, 11 A 4635/12, juris Rn. 10 f.) oder derzeit als praktisch nicht möglich erscheint (vgl. VG Stuttgart, Urt. v. 09.02.2012, 11 K 2593/11, juris Rn. 24; Funke-Kaiser in GK-AufenthG § 60a Rn. 96.1), ist die streitbefangene Nebenbestimmung nicht erforderlich und darf deshalb nicht gleichsam automatisch und auf Vorrat den Duldungen beigefügt werden. Sollte sich in einem solchen Fall wider Erwarten plötzlich doch die Möglichkeit ergeben, den Ausländer vor Ablauf der regulären Duldungszeit abschieben zu können, kann die Behörde immer noch auf den hierfür ausdrücklich gesetzlich normierten Widerruf der Duldung (§ 60a Abs. 5 S. 2 AufenthG) zurückgreifen. Allein der fortwährende Versuch, durch Beifügung der beanstandeten Nebenbestimmung auf jeden Fall ein Widerrufsverfahren zu vermeiden, ist hingegen nicht vom Zweck der Duldungsvorschriften des AufenthG gedeckt. [...]