LG Nürnberg-Fürth

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Zitieren als:
LG Nürnberg-Fürth, Beschluss vom 24.04.2019 - 18 T 2175/19 - asyl.net: M27206
https://www.asyl.net/rsdb/M27206
Leitsatz:

Rechtswidrige Haftanordnung gegenüber Person mit Schengen-Aufenthaltsrecht:

1. Reist eine ausreisepflichtige Person nicht in ihr Herkunftsland aus, sondern in einen anderen Schengen-Staat, wo sie ein Aufenthaltsrecht hat, so erfüllt sie damit ihre Ausreisepflicht; eine Ausreise in das Heimatland ist nicht zwingend erforderlich.

2. Eine vor der Ausreise ausgesprochene Abschiebungsandrohung ist damit "verbraucht" und wirkt nicht etwa für den Fall einer erneuten unerlaubten Einreise als vorsorgliche Androhung fort.

3. Eine unerlaubte Einreise i.S.d. § 62 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG liegt nicht vor, wenn eine Person ein Aufenthaltsrecht in einem Schengen-Staat hat und von diesem aus wieder nach Deutschland einreist.

4. Im Übrigen war die Haftanordnung rechtswidrig, da nicht berücksichtigt wurde, dass die Betroffene zwei minderjährige Kinder in einer gelebten Eltern-Kind-Beziehung hat. Dies ist im Rahmen der Verhältnismäßigkeit insbesondere Als Eingriff in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG, Art. 6 Abs. 1 GG sowie Art. 8 EMRK zu berücksichtigen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Aufenthaltstitel in einem anderen EU-Mitgliedstaat, Rechtswidrigkeit, Wiedereinreise, Schengener Durchführungsübereinkommen, Schengen-Staat, Aufenthaltstitel, Aufenthaltsrecht, Abschiebungsandrohung, unerlaubte Einreise, Fluchtgefahr, Grundrechte, Europäische Menschenrechtskonvention, Schutz von Ehe und Familie, Verhältnismäßigkeit, Sicherungshaft, Tschechische Republik, Ausreise, Ausreisepflicht, Achtung des Familienlebens, Kinder,
Normen: AufenthG § 62 Abs. 3 Nr. 1, AufenthG § 50 Abs. 3, SDÜ Art. 21 Abs. 2, SGK Art. 6, GG Art. 2 Abs. 2, GG Art. 6 Abs. 1, EMRK Art. 8,
Auszüge:

[...]

Die Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg. Die Anordnung der Haft zur Sicherung der Abschiebung durch das Amtsgericht Fürth mit dem angefochtenen Beschluss ist nicht rechtmäßig, da weder die im angefochtenen Beschluss erwähnten Haftgründe nach sonstige Haftgründe vorliegen.

1. Obgleich im Rahmen der Beschwerde (nur) beantragt wurde, festzustellen, dass der Beschluss die Betroffene in ihren Rechten verletzt hat, war der Beschluss aufzuheben und anzuordnen, dass die Betroffene unverzüglich aus der Haft zu entlassen ist. Da die Betroffene noch durch die zum jetzigen Zeitpunkt andauernde Haft beschwert ist, ist der Antrag dahingehend auszulegen, dass die Aufhebung des Beschlusses begehrt wird.

2. Die Betroffene ist ihrer mit Bescheid vom 13.05.2016 ausgesprochenen Ausreisepflicht nachgekommen, so dass damit auch die Abschiebungsandrohung bereits verbraucht war und es einer neuen Abschiebungsandrohung bedurft hätte.

a) Die ordnungsgemäße Ausreise hat die Betroffene jedenfalls mit Vorlage der durch die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland Prag ausgestellten Grenzübertrittsbescheinigung (Rücklaufschein) vom ... 01.2019 nachgewiesen, wonach die Betroffene ein Aufenthaltsrecht in einem Sehengen-Staat hat. Entgegen der Meinung der beteiligten Behörde ist eine Ausreise in das Heimatland nicht unbedingt erforderlich, was sich bereits aus der Vorschrift des § 55 Abs. 3 AufenthG ergibt (vgl. auch BeckOK AuslR/Tanneberger, 21. Ed. 1.5.2018, AufenthG § 50 Rn. 6b).

Damit war die damals ausgesprochene Abschiebungsandrohung bereits "verbraucht". Sie wirkt nicht als vorsorgliche Androhung für den Fall einer erneuten unerlaubten Einreise fort. Bei der erneuten Wiedereinreise in die Bundesrepublik Deutschland konnte daher von einer nach § 59 AufenthG notwendigen Abschiebungsandrohung nicht unter Hinweis auf die früher ergangene Abschiebungsandrohung abgesehen werden (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Januar 2016 - V ZB 18/14, Rn. 9; Beschluss vom 1. Oktober 2015 - V ZB 44/15, InfAuslR 2015, 440 Rn. 7; BGH, Beschl. v. 17.3.2016 - V ZB 39/15, BeckRS 2016, 9455).

b) Die Betroffene ist aus Sicht der Kammer am 02.04.2019 aber auch nicht unerlaubt in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Nach Aktenlage verfügte die Betroffene über ein Aufenthaltsrecht in der Tschechischen Republik. Sie verfügte damit über einen nationalen Aufenthaltstitel eines Schengen-Staates, so dass sie sich nach Art. 21 Abs. 2 SDÜ unter den Voraussetzungen des Art. 6 der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 (Schengener Grenzkodex) bis zu 90 Tagen je Zeitraum von 180 Tagen im Hoheitsgebiet der anderen Vertragsstaaten des Schengener Übereinkommens bewegen durfte.

c) Es bestanden damit auch keinerlei Anhaltspunkte für die Annahme einer Fluchtgefahr bei der Betroffenen.

d) Im Übrigen hätte es - selbst bei Vorliegen eines Haftgrundes - der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Abschiebehaft bedurft, was vollständig unterblieben ist.

Die Anordnung von Sicherungshaft nach § 62 Abs. 3 AufenthG ist nämlich nur dann verhältnismäßig, wenn die Maßnahme zur Erreichung des angestrebten Zwecks geeignet und erforderlich ist und der mit ihr verbundene Eingriff nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache steht (vgl. BVerfG, InfAuslR 2008, 358, 359; Senat, Beschluss vom 17. Juni 2010 - V ZB 127/10, NVwZ 2010, 1318, 1319 Rn. 26; Beschluss vom 19. Mai 2011 - V ZB 167/10, NVwZ 2011, 1216 Rn. 7). Die Betroffene betreut zwei minderjährige Kinder. Deshalb hätte insbesondere berücksichtigt werden müssen, dass die Haftanordnung bei einer gelebten Eltern-Kind-Beziehung nicht nur in das Freiheitsgrundrecht des Betroffenen (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG), sondern zugleich in das Grundrecht auf den Schutz der Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) und das Recht auf den Schutz des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK) eingreift (BGH, Beschl. v. 12.12,2013 - V ZB 214/12 m.w.N.). [...]