VG München

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Zitieren als:
VG München, Beschluss vom 17.07.2019 - M 11 S 19.50722; M 11 S 19.50759 - Asylmagazin 10-11/2017, S. 375 ff. - asyl.net: M27449
https://www.asyl.net/rsdb/M27449
Leitsatz:

Eilrechtsschutz gegen im Grenzverfahren angeordnete Überstellung nach Griechenland: systemische Mängel im griechischen Asylverfahren wegen fehlerhafter Behandlung der Türkei als „sicherer Drittstaat“:

1. Die Dublin-III-VO erlaubt die Durchführung eines Grenzverfahrens mit einhergehender Einreiseverweigerung zur Prüfung der Überstellung an einen anderen Mitgliedsstaat. Jedoch muss das Verfahren gestuft erfolgen (Prüfung der Zuständigkeit, Aufnahme- bzw. Wiederaufnahmegesuch, Abwarten der Antwort des ersuchten Mitgliedsstaats, Überstellungsentscheidung, Überstellung).

2. Gilt für eine Person die Einreisefiktion des § 13 Abs. 2 S. 1 AufenthG, so kann gegen sie keine Abschiebungsanordnung erlassen werden. Richtiges Instrument ist in diesem Fall die Zurückweisung nach § 15 AufenthG. Dies ergibt sich aus der Systematik des Aufenthaltsgesetzes, wonach die Abschiebung der Durchsetzung der Ausreisepflicht, die Einreiseverweigerung bzw. Zurückweisung der Verhinderung der unerlaubten Einreise dient.

3. Jedoch kann die betroffene Person dies nicht als Rechtsverletzung geltend machen. Denn würde dem Eilantrag wegen fehlender Einreise stattgegeben werden, wäre die Person nach der Haftentlassung für eine juristische Sekunde "eingereist" und ein dann gestellter Antrag gem. § 80 Abs. 7 VwGO zumindest nicht mehr aus diesem Grund erfolglos. 

4. Es ist nicht auszuschließen, dass das griechische Asylsystem systemische Mängel aufweist, da dort Asylsuchende nicht in einer Weise behandelt werden, die mit den Vorgaben der EU-Verfahrensrichtlinie zum Konzept des „sicheren Drittstaats“ vereinbar sind. Insbesondere die mögliche Rückführung von syrischen Schutzsuchenden aus Griechenland in die Türkei ist problematisch, da sie dort nur einen temporären Schutzstatus erhalten und keine Möglichkeit haben als GFK-Flüchtlinge anerkannt zu werden.

(Leitsätze der Redaktion, siehe auch VG München, Beschluss vom 08.08.2019 - M 18 E 19.32238 - asyl.net: M27488, Beschluss vom 09.05.2019 - M S E 19.50027 - asyl.net: M27257)

Anmerkung:

Schlagwörter: Dublinverfahren, Griechenland, systemische Mängel, Selbsteintritt, Einreiseverweigerung, Grenzkontrolle, Grenzbehörde, Bundespolizei, Dublin III-Verordnung, Rückkehrentscheidung, Zurückweisung, Abschiebungsanordnung, Nichteinreisefiktion, Grenzverfahren, Grundsatz der Nichtzurückweisung, non-refoulement, grenznaher Raum, Grenzübergang, Refoulement, EU-Türkei-Deal,
Normen: AufenthG § 13 Abs. 2 S. 1, AufenthG § 15, AsylG § 34, AsylG § 34a, AsylG § 18, VwGO § 80 Abs. 7, VwGO § 80 Abs. 5, VO 604/2013 Art. 3 Abs. 2, RL 2013/32/EU Art. 38 Abs. 1, RL 2013/32/EU Art. 38 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

45 aa) Gegen die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung bestehen gewisse Bedenken schon deshalb, weil nach der Systematik des deutschen Ausländer- und Asylrechts eine "Abschiebung" begrifflich voraussetzt, dass der Ausländer eingereist ist, was im Rechtssinne wohl nicht zutrifft.

46 Die Bundespolizei steht auf dem Standpunkt, der Antragsteller sei im Rechtssinne nicht eingereist. Das Gericht teilt nach vorläufiger Einschätzung diese Ansicht. [...]

48 Im AufenthG sind die Abschiebung und auch die Zurückschiebung als Mittel ausgestaltet, die Ausreisepflicht durchzusetzen und den Aufenthalt zu beenden (vgl. Überschriften des Kapitels 5 des AufenthG und des Abschnitts 2 des Kapitels 5). Für den Fall, dass ein Ausländer noch nicht - vollendet - eingereist ist, sieht das AufenthG dagegen das Instrument der Zurückweisung vor (§ 15 AufenthG). Das AsylG sieht Abschiebungsandrohung und Abschiebungsanordnung als zwangsvollstreckungsrechtliche Annexentscheidungen vor, deren Rechtsgrundlagen (§§ 34, 34a und 35 AsylG) sich im Unterabschnitt 2 ("Aufenthaltsbeendigung") des Abschnitts 4 des AsylG befinden. In Unterabschnitt 2 finden sich Regelungen über die Einreiseverweigerung und die Zurückschiebung (§ 18 AsylG). Dass das AsylG eine Abschiebung als Mittel ansieht, den Aufenthalt eines bereits eingereisten Ausländers zu beenden, ergibt sich im Umkehrschluss auch aus der Regelung über das Flughafenverfahren in § 18a AsylG, Dort ist ausdrücklich normiert, dass bei Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet keine Abschiebungsanordnung ergeht, sondern dem Ausländer lediglich die Einreise verweigert wird (§ 18a Abs. 3 Satz 1 AsylG). Zusätzlich wird eine Abschiebungsandrohung erlassen, nach dem klaren Gesetzeswortlaut allerdings nur "vorsorglich für den Fall der Einreise" (§ 18a Abs. 2 AsylG). Aus diesen beiden Regelungen wird ohne weiteres deutlich, dass der Gesetzgeber jedenfalls bei Einführung des Flughafenverfahrens an der Unterscheidung zwischen dem der Durchsetzung der Ausreisepflicht dienenden Instrument der Abschiebung und dem der Verhinderung einer unerlaubten Einreise dienenden Instrument der Einreiseverweigerung bzw. Zurückweisung festhalten wollte. [...]

50 Eine Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylG wäre daher in einem Fall wie dem vorliegenden, in dem sie gegen einen noch nicht eingereisten Asylantragsteller erlassen wurde, nur rechtmäßig, wenn man die zwangsweise Überstellung eines noch nicht eingereisten Asylantragstellers als "Abschiebung" qualifiziert, obwohl dies nicht dem Bedeutungsinhalt entspricht, den dieser Begriff ansonsten im Ausländer - und Asylrecht hat.

51 Davon zu trennen ist jedoch jedenfalls die Frage, ob der Antragsteller dies als Rechtsverletzung geltend machen kann. Nach vorläufiger Einschätzung des Gerichts ist das zu verneinen. Das Ziel des Antragstellers ist letztlich darauf gerichtet, das Asylhauptsacheverfahren vom Inland aus weiterbetreiben zu dürfen. Würde man diesem Begehren im vorliegenden Eilverfahren nur deshalb entsprechen, weil es bisher an einer Einreise fehlt, könnte der Antragsteller unmittelbar nach der Einreise der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung jedenfalls nicht mehr die fehlende Einreise entgegenhalten, weil im asylgerichtlichen Verfahren stets auf die aktuelle Sach- und Rechtslage abzustellen ist ( 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG). Die Antragsgegnerin könnte unmittelbar nach der Einreise des Antragstellers - eine "juristische Sekunde" nach der Haftentlassung - sofort einen Antrag nach § 80 Abs. 7 VwGO stellen. In einer solchen Fallkonstellation kann man nicht annehmen, dass der Antragsteller diesen Umstand als Rechtsverletzung geltend machen kann, selbst wenn man begrifflich für den Erlass einer Abschiebungsanordnung eine vollendete Einreise verlangt.

52 bb) Gegen die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung bestehen aber nach summarischer Prüfung weitere erhebliche Bedenken, die letztlich dem Antrag zum Erfolg verhelfen.

53 Insbesondere ist offen, ob die Antragsgegnerin nicht nach Art. 3 Abs. 2 UA 2 und 3 Dublin III-VO zur Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.

54 Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnisquellen gibt es erhebliche Anhaltspunkte dafür, dass Griechenland den Antragsteller in die Türkei abschieben wird. Der Antragsteller hat die Entscheidung der griechischen Asylbehörde vom 12. November 2018 in Übersetzung vorgelegt, mit der der dortige Asylantrag des Antragstellers als unzulässig abgewiesen wurde, weil für ihn die Türkei als sicheres Land bezeichnet werden könne. Eine solche Verfahrensweise ist zwar grundsätzlich europarechtskonform, weil die Richtlinie 2013/32/EU (im Folgenden: Verfahrensrichtlinie), die neben der Dublin-III-VO anwendbar ist (vgl. Erwägungsgrund 12 der Dublin-IIl-VO), das Konzept des sicheren Drittstaats ausdrücklich kennt (Art. 38 Verfahrensrichtlinie). Die Verfahrensrichtlinie macht für die Anwendung dieses Konzepts jedoch bestimmte Vorgaben, bezüglich derer mindestens erheblich zweifelhaft ist, ob Griechenland sie einhält. So sieht Art. 38 Abs. 1 Verfahrensrichtlinie unter anderem vor, dass sich die zuständigen Behörden des Mitgliedstaats davon überzeugt haben, dass eine Person, die um internationalen Schutz nachsucht, in dem betreffenden Drittstaat unter Wahrung des Grundsatzes der Nicht-Zurückweisung nach der Genfer Flüchtlingskonvention behandelt wird (Art. 38 Abs. 1 c Verfahrensrichtlinie) und dort außerdem die Möglichkeit hat, einen Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu stellen und im Falle der Anerkennung als Flüchtling Schutz gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention zu erhalten (Art. 38 Abs. 1 e Verfahrensrichtlinie).

55 Im vorliegenden Fall bestehen erhebliche Zweifel, ob sich Griechenland an diese Vorgaben hält. Nach den Ausführungen im aktuellen Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Türkei vom 14. Juni 2019 dürfte zwar in der Türkei der Grundsatz der Nicht-Zurückweisung nach der Genfer Flüchtlingskonvention eingehalten sein, so dass das Gericht die vom Antragsteller befürchtete Gefahr der Kettenabschiebung nach Syrien als nicht gegeben ansieht. Andererseits lassen die Ausführungen im Lagebericht keinen Zweifel daran, dass die Türkei die Genfer Flüchtlingskonvention nur auf europäische Asylsuchende anwendet, während für Nichteuropäer lediglich der Grundsatz des non-refoulement gilt. Flüchtlinge aus anderen Staaten erhalten lediglich einen zeitlich befristeten Status für die Dauer des Asylverfahrens. Syrische Staatsangehörige erhalten eine Art "temporären" Schutz, allerdings keinen echten, der Genfer Flüchtlingskonvention entsprechenden Status (Lagebericht, S. 24). Nach Ansicht des Gerichts spricht viel dafür, dass dies den Voraussetzungen des Art. 38 Abs. 1 e Verfahrensrichtlinie nicht genügt.

56 Das Gericht ist weiter der vorläufigen Ansicht, dass es grundsätzlich zwar Sache des jeweiligen Asylbewerbers ist, im jeweiligen Asylverfahren des zuständigen Mitgliedstaates die entsprechenden Schritte zu unternehmen und notfalls gerichtlich durchzusetzen, um im Mitgliedstaat eine der Verfahrensrichtlinie entsprechende Behandlung zu erhalten. Im vorliegenden Fall gibt es jedoch Anhaltspunkte dafür, dass in Griechenland Asylanträge syrischer Staatsangehöriger, die nach den innerstaatlichen Regeln Griechenlands eine Verbindung zu dem betreffenden Drittstaat haben (vgl. Art. 38 Abs. 2 a Verfahrensrichtlinie), systematisch nicht in einer mit den Vorgaben von Art. 38 Abs. 1 e Verfahrensrichtlinie zu vereinbarenden Weise behandelt werden. [...]

58 3. Der gegen den Bescheid der Bundespolizei vom 27. Juni 2019 gerichtete Eilantrag hat im Hauptantrag ebenfalls Erfolg.

59 a) Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist zulässig, insbesondere statthaft, weil die Einreiseverweigerung ein belastender Verwaltungsakt ist.

60 b) Der Antrag ist auch begründet, weil das private Interesse des Antragstellers an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage das öffentliche Interesse an der kraft Gesetzes bestehenden sofortigen Vollziehbarkeit überwiegt.

61 Denn an der Rechtmäßigkeit der getroffenen Entscheidung bestehen ernstliche Zweifel schon deshalb, weil nicht hinreichend sicher ist, ob nicht die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens des Antragstellers zuständig ist (siehe 2.).

62 Daran ändert auch der Umstand nichts, dass nach dem Wortlaut von § 18 Abs. 2 Nummer 2 AsylG es für eine Einreiseverweigerung bereits ausreicht, dass "Anhaltspunkte" dafür vorliegen, dass ein anderer Staat aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist und ein Auf- oder Wiederaufnahmeverfahren eingeleitet wird. Bei wörtlicher Auslegung würde dies heißen, dass überhaupt nicht geklärt sein müsste, welcher Mitgliedstaat zuständig ist ("Anhaltspunkte" genügen) und dass außerdem im Auf- bzw. Wiederaufnahmeverfahren noch nicht einmal die Erklärung des ersuchten Mitgliedstaats vorliegen müsste - sei es ausdrücklich oder durch Zeitablauf fingiert -, den Asylbewerber (wieder) aufzunehmen. Das Gericht hat Zweifel, ob ein solches Vorgehen mit der Dublin III-VO vereinbar ist.

63 Zwar dürfte nach vorläufiger Ansicht des erkennenden Gerichts weder die Dublin III-Verordnung noch die Verfahrensrichtlinie grundsätzlich ein Grenzverfahren in dem Sinne verbieten, in dem dem Asylbewerber vorläufig die Einreise verweigert wird, bis die Frage, ob der Asylbewerber an einen anderen Mitgliedstaat überstellt wird, geklärt ist. Die Verfahrensrichtlinie sieht in Art. 43 Abs. 1 b ausdrücklich vor, dass die Mitgliedstaaten bei Einhaltung bestimmter Grundsätze und Garantien an der Grenze oder in Transitzonen über die Zulässigkeit von Asylanträgen entscheiden können. Die Dublin III-VO enthält in Art. 21 Abs. 2 die ausdrückliche Regelung, dass der ersuchende Mitgliedstaat unter anderem in dem Fall, in dem dem Asylbewerber die Einreise verweigert worden ist, eine dringende Antwort auf das Aufnahmegesuch anfordern kann. Bereits daraus ergibt sich nach Ansicht des Gerichts, dass auch die Dublin III-VO wohl kein Grenzverfahren verbietet.

64 Allerdings kann dies nichts daran ändern, dass nach vorläufiger Prüfung die Dublin III-VO jedenfalls verlangen dürfte, dass Überstellungen nach einem gestuften Verfahren vorgenommen werden sollen (Prüfung der Zuständigkeit, Aufnahme- bzw. Wiederaufnahmegesuch, Abwarten der Antwort des ersuchten Mitgliedstaats, Überstellungsentscheidung, Überstellung), Denn die Dublin III-VO enthält für den Fall, dass ein solches Grenzverfahren durchgeführt wird, keine besonderen Regelungen, aufgrund derer von diesen Verfahren abgewichen werden könnte.

65 Im Gegensatz zur Regelung über das Flughafenverfahren (§ 18a AsylG) erscheint auch wenig klar, wie sich im Rahmen von § 18 AsylG im Falle einer fiktiven Nichteinreise nach § 13 Abs. 2 Satz 2 AufenthG die "Aufgabenverteilung" zwischen Bundesamt und Grenzpolizei gestalten soll. [...]