SG Oldenburg

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Zitieren als:
SG Oldenburg, Beschluss vom 12.07.2019 - S 26 AY 18/19 ER - asyl.net: M27468
https://www.asyl.net/rsdb/M27468
Leitsatz:

Vorläufige Gewährung angepasster (höherer) Asylbewerberleistungen nach § 3 Abs. 4 AsylbLG:

1. Für die Leistungserhöhung nach § 3 Abs. 4 AsylbLG braucht keine Bekanntgabe der angepassten Sätze durch das Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) abgewartet zu werden.

2. Ein auf Gewährung der angepassten Leistungen gerichteter Eilantrag ist begründet.  Ein Anordnungsgrund liegt auch für die isolierte Erhöhung der Leistungen vor.

(Leitsätze der Redaktion, gleichlautend: M27467, ähnlich: M27390)

Schlagwörter: Asylbewerberleistungsgesetz, Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, Sozialrecht, Sozialleistungen, Erhöhung, Inflationsanpassung, Teuerungsausgleich,
Normen: AsylbLG § 3 Abs. 4
Auszüge:

[...]

Gem. § 3 Abs. 4 Satz 1 AsylbLG werden der Geldbetrag für alle notwendigen persönlichen Bedarfe nach Absatz 1 Satz 8 sowie der notwendige Bedarf nach Absatz 2 Satz 2 jeweils zum 1. Januar eines Jahres entsprechend der Veränderungsrate nach § 28a SGB XII in Verbindung mit der Verordnung nach § 40 Satz 1 Nr. 1 SGB XII fortgeschrieben. Gem. § 3 Abs. 4 Satz 2 AsylbLG sind die sich dabei ergebenden Beträge jeweils bis unter 0,50 € abzurunden sowie von 0,50 € an aufzurunden.

Dieser Regelung zuwider hat die Antragsgegnerin die Leistungssätze der Antragstellerin seit dem Jahr 2016 nicht fortgeschrieben. Ihre Pflicht zur höheren Leistungsbewilligung und entsprechend ein Anspruch der Antragstellerin folgt dabei direkt aus dem Gesetz (Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 23. Mai 2019 - L 8 AY 49/18 --, juris; SG Bremen, Beschluss vom 15. April 2019 - S 40 AY 23/19 ER -, juris; SG Stade, Urteil vom 11. April 2019 - S 19 AY 5/19 -, juris; a.A. Hohm, ZFSH SGB 2/2019, S. 68 ff.).

Zwar bestimmt § 3 Abs. 4 Satz 3 AsylbLG, dass das BMAS jeweils spätestens bis zum 1. November eines Kalenderjahres die Höhe der Bedarfe, die für das folgende Kalenderjahr maßgebend sind, im Bundesgesetzblatt bekannt gibt. Dies hat das BMAS für die Jahre 2017, 2018 und 2019 unterlassen. Daraus folgt jedoch nicht, dass keine Leistungserhöhung zu erfolgen hat. Denn die Bekanntgabe selbst hat keine rechtsgestaltende Wirkung (vgl, Frerichs in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014).

Auch soweit der Gesetzgeber entsprechend seinem eigenen in § 3 Abs. 5 AsylbLG vorgesehenen gesetzgeberischen Programm die Leistungssätze nach Auswertung der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe - EVS - 2013 nicht -- wie im SGB II und SGB XII zu 2017 geschehen - neu festgesetzt hat, ergibt sich hieraus nichts Anderes. Solange der Gesetzgeber seiner Pflicht zur Ermittlung neuer Bedarfssätze nicht nachkommt, verbleibt es bei der Regelung des § 3 Abs. 4 AsylbLG. Nur durch eine solche Auslegung, die dem Wortlaut des Gesetzes entspricht, wird eine offensichtlich verfassungswidrige Unterdeckung des Bedarfs vermieden (vgl. hierzu im Einzelnen: Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen a.a.O.). Zwar wäre eine Neufestsetzung der Bedarfssätze durch den Gesetzgeber grundsätzlich vorrangig anzuwenden (vgl. Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen a.a.O.). Jedoch ist die Anwendung der (auch) gesetzlich normierten Fortschreibungsregelung solange nicht versperrt, solange der Gesetzgeber seiner Aufgabe nach § 3 Abs. 5 AsyIbLG nicht nachkommt.

Aus § 3 Abs. 4 Satz 1 AsylbLG i.V.m. § 1 der Verordnung zur Bestimmung des für die Fortschreibung der Regelbedarfsstufen nach den §§ 28a und 134 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch maßgeblichen Prozentsatzes sowie zur Ergänzung der Anlage zu § 28 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (RBSFV) für das Jahr 2018 (BGBl. I 2017, 3767) ergibt sich eine Veränderungsrate i.H.v. 1,63 % und für 2019 eine Veränderungsrate i.H.v. 2,02 % (§ 1 RBSFV 2019, BGBl. I, 2018, 1766).

Für das Jahr 2017 ist zwar keine Regelbedarfsstufen-Fortschreibungsverordnung erlassen worden. Insoweit ist jedoch die RBSFV 2016 analog anzuwenden. Für eine Analogie spricht, dass eine planwidrige Lücke besteht, die durch die analoge Anwendung der Verordnung angemessen ausgefüllt werden kann. Der Gesetzgeber ist bei Erlass des § 3 AsylbLG W.F. v. 11.3.2016 davon ausgegangen, dass eine dynamische Anpassung jährlich erfolgen wird, indem entweder die Bedarfssätze anhand der i.R.d. SGB XII erlassenen Fortschreibungsverordnung fortgeschrieben werden oder er in allen drei Grundsicherungssystemen (SGB II, SGB XII und AsylbLG) die Bedarfssätze nach Auswertung einer neu vorliegenden EVS neu festschreibt. Den Fall, dass in einem Grundsicherungssystem - insb. dem AsylbLG, dass sich ausweislich des § 3 Abs. 4 und Abs. 5 AsylbLG an dem System des SGB XII eng anlehnt, trotz Vorliegens einer EVS keine gesetzliche Neufestsetzung der Bedarfe erfolgt, hat der Gesetzgeber nicht bedacht und entsprechend nicht geregelt. Zwar ist die RBSFV 2016 nach ihrem Wortlaut für das Jahr 2016 (zum 1. Januar 2016) anzuwenden. Die bestehende Interessenlage ist jedoch vergleichbar. Die RBSFV 2016 ist erlassen worden, um eine dynamische Anpassung der Leistungssätze, auch ohne Neufestsetzung der Bedarfssätze durch den parlamentarischen Gesetzgeber, zu erreichen.

Die durch die Nicht-Verabschiedung neuer Bedarfssätze für das AsylbLG entstandene Lücke lässt sich auch nicht durch eine andere Vorschrift des öffentlichen Rechts schließen. Insbesondere kann der Rechtsanwender nicht selbst eine Veränderungsrate anhand der Bestimmung des § 28a Abs. 2 SGB XII bilden. Dies ist durch das Gesetz ausdrücklich dem normativen (Verordnungs-) Gesetzgeber (vgl. § 40 SGB XII) vorbehalten. Auch ist nach Ansicht des Gerichts nicht die in § 7 Abs. 2 RBEG vom 22. Dezember 2016 (BGBl. I S. 3159) für die im SGB II und SGB XII ermittelten Summen nach § 5 Abs. 2 und § 6 Abs. 2 RBEG anzuwendende Veränderungsrate anzuwenden. Auch wenn diese, ausweislich ihres Wortlauts, gem. § 7 Abs. 1 RBEG abweichend von § 28a SGB XII die Veränderungsrate für den Mischindex für die Fortschreibung zum 1. Januar 2017 regelt, kann sie auf den Bereich des AsyIbLG keine analoge Anwendung finden. Denn dies stünde dem gesetzgeberischen Willen entgegen. Der Gesetzgeber wollte mit dem RBEG vom 22. Dezember 2016 gerade keine Aussagen zu den Bedarfssätzen nach dem AsylbLG treffen. Dies kann dem Gesetzesentwurf der Bundesregierung entnommen werden. Die Bundesregierung hat in ihrem Gesetzentwurf zum RBEG 2017 zwar erkannt, dass mit Vorliegen der Einkommens- und Verbrauchstichprobe 2013 ein entsprechender Überprüfungsbedarf auch der Bedarfssätze nach dem AsylbLG besteht (BRDrs. 541/16, 2, 26). Gleichzeitig wird jedoch ausgeführt, dass dies in einem gesonderten Gesetzgebungsverfahren umgesetzt werden soll und aus diesem Gesetzentwurf keine Aussagen zu den Geldleistungen nach dem AsylbLG zu treffen sind (BRDrs. 541/16, S. 2, 26).

Der analogen Anwendung der RBSFV 2016 steht nicht ihre Ungültigkeit entgegen. Denn ausweislich § 4 RBSFV 2016 ist lediglich ihr Inkrafttreten nicht jedoch ihr Außerkrafttreten geregelt worden, so dass sie auch im Jahr 2017 noch rechtliche Wirksamkeit entfaltet hat. Dementsprechend war der Bedarfssatz der Antragstellerin um 1,24 % für das Jahr 2017 (aufgerundet 4 EUR) und im Jahr 2018 um weitere 5 EUR und im Jahr 2019 um weitere 7 EUR monatlich zu erhöhen. [...]