OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 18.06.2019 - 13 A 3930/18.A - asyl.net: M27499
https://www.asyl.net/rsdb/M27499
Leitsatz:

Kein Abschiebungsverbot für jungen, im Iran aufgewachsenen, afghanischen Mann:

1. Wurde die Hinwendung zum christlichen Glauben nicht überzeugend dargelegt, reicht der rein formale Akt der evangelischen Taufe in Deutschland nicht aus, um eine drohende Gefahr in Afghanistan i. S. d. § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG zu begründen.

2. Zwar ist die Sicherheits- und humanitären Lage in Afghanistan bzw. in Kabul oder Herat anhaltend schlecht, allerdings ist keine solch extreme Gefahrenlage gegeben, dass bei einem jungen, alleinstehenden und arbeitsfähigen afghanischen Staatsangehörigen von einem Schadenseintritt i. S. d. § 60 Abs. 5 i. V. m. Art. 3 EMRK oder § 60 Abs. 7 AufenthG auszugehen wäre, auch wenn er im Iran aufgewachsen ist.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Iran, Existenzminimum, Existenzgrundlage, extreme Gefahrenlage, Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Extremgefahr, faktischer Iraner, Konvertiten, evangelische Christen, Sicherheitslage, humanitäre Lage, Kabul, Herat, Abschiebungsverbot, junger Mann, alleinstehend, arbeitsfähig,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7, EMRK Art. 3, EMRK Art. 9,
Auszüge:

[...]

II. Für den Kläger besteht kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Bezug auf Afghanistan.

Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten – EMRK – ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. [...]

1. Dies zugrunde gelegt ergibt sich ein Verbot, den Kläger nach Afghanistan abzuschieben, nicht wegen der von ihm geltend gemachten Konversion zum Christentum aus § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 9 EMRK.

a) Eine die Abschiebung hindernde offenkundige Verletzung des unveräußerlichen Kerns der Religionsfreiheit nach Art. 9 EMRK droht nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte dann, wenn der Betroffene im Zielstaat entweder aus religiösen Gründen Verfolgung erleiden wird oder wegen seiner Religionszugehörigkeit der tatsächlichen Gefahr des Todes, der ernsthaften Misshandlung, der offenkundigen Verweigerung eines fairen Verfahrens oder der willkürlichen Freiheitsentziehung ausgesetzt ist (vgl. EGMR, Beschluss vom 28. Februar 2006 – Nr. 27034/05 –, Z. u. T./Vereinigtes Königreich –, S. 7 ("As a result, protection is offered to those who have a substantiated claim that they will either suffer persecution for, inter alia, religious reasons or will be at risk of death or serious ill-treatment and possibly flagrant denial of a fair trial or arbitraty detention, because of their religious affiliation (…)"). [...]

b) Eine religiöse Verfolgung in diesem Sinne droht dem Kläger in Afghanistan nicht.

aa) Personen, die sich vom Islam abgewandt haben (Apostaten), darunter Personen, die vom islamischen Glauben zum Christentum konvertiert sind, sind in Afghanistan Gefahren für Leib und Leben ausgesetzt, wenn ihre religiöse Überzeugung bekannt wird. Im Einzelfall kann auch bereits der entsprechende Verdacht genügen. [...]

bb) Dem Kläger drohen diese Gefahren indes nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit. Der Senat ist aufgrund des Gesamteindrucks, den er durch die Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung gewonnen hat, nicht zu der Überzeugung gelangt, dass bei dem Kläger eine Hinwendung zum christlichen Glauben vorliegt, die die religiöse Betätigung für ihn (auch) in Afghanistan unverzichtbar machte, um seine religiöse Identität zu wahren. Es ist deshalb weder zu erwarten, dass er in Afghanistan den christlichen Glauben praktizieren würde, noch dass er durch ein solches Absehen von religiöser Betätigung in innere Konflikte geriete. [...]

cc) Art. 9 EMRK steht einer Abschiebung des Klägers auch nicht wegen seiner mit dem formalen Akte der Taufe begründeten Zugehörigkeit zur evangelischen Kirche entgegen.

In Bezug auf etwaige Gefahren, die aus einer bloß formalen Religionszugehörigkeit folgen könnten, fehlt es an tatsächlichen Anhaltspunkten dafür, dass dem Kläger solche mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Da eine ernsthafte Hinwendung des Klägers zum christlichen Glauben nicht festzustellen ist, ist bei prognostischer Betrachtung zu erwarten, dass er in Afghanistan – auch auf die nach der Berufungsbegründung erwartete Frage, ob er Schiit sei, – nicht selbst von der Taufe berichten wird. [...]

2. Ein Verbot, den Kläger nach Afghanistan abzuschieben, ergibt sich auch nicht deshalb, weil ihm aufgrund der dortigen Sicherheits- und humanitären Lage eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK drohte. [...]

a) In Bezug auf die im Zielstaat herrschende Sicherheitslage kann sich eine solche erniedrigende Behandlung aus einer allgemeinen Situation der Gewalt, einem besonderen Merkmal des Betroffenen oder aus einer Verbindung von beidem ergeben (vgl. EGMR, Urteile vom 28. Juni 2011 – Nr. 8319/07 und 11449/07, Sufi und Elmi ./. Vereinigtes Königreich –, Rn. 216, 218; BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 – 10 C 15.12 –, juris, Rn. 25). [...]

Ob diese Intensität erreicht ist, bestimmt sich insbesondere nach der Art der von den Konfliktparteien eingesetzten Kampfmethoden und deren Eignung, die Zivilbevölkerung – gezielt oder mittelbar – zu gefährden, nach der Intensität und Ausdehnung des Konflikts sowie der Anzahl der aufgrund der Kampfhandlungen vertriebenen, verletzten und getöteten Zivilpersonen (vgl. EGMR, Urteil vom 28. Juni 2011 – Nr. 8319/07 und 11449/07, Sufi und Elmi ./. Vereinigtes Königreich –, Rn. 241, 248). [...]

Darüber hinaus können auch schlechte humanitäre Verhältnisse in ganz besonderen Ausnahmefällen eine erniedrigende Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK darstellen. [...]

Fehlt es an einem verantwortlichen Akteur, ist ein strengerer Maßstab anzulegen. Schlechte humanitäre Bedingungen, die ganz oder in erster Linie auf Armut oder auf fehlende staatliche Mittel, um mit auf natürlichen Umständen beruhenden Gegebenheiten umzugehen, zurückzuführen sind, können eine erniedrigende Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK nur in krassen Ausnahmefällen begründen, wenn ganz außerordentliche individuelle Gründe hinzutreten und humanitäre Gründe zwingend gegen eine Abschiebung sprechen (vgl. EGMR, Urteile vom 29. Januar 2013 – Nr. 60367/10, S. H. H. ./. Vereinigtes König-reich –, Rn. 75, vom 28. Juni 2011 – Nr. 8319/07 und 11449/07, Sufi und Elmi ./. Vereinigtes Königreich –, Rn. 282, und vom 27. Mai 2008 – 26565/05, N. ./. Vereinigtes Königreich –, Rn. 44; siehe auch BVerwG, Beschluss vom 13. Februar 2019 – 1 B 2.19 –, juris, Rn. 10). [...]

Bezogen auf den Abschiebungszielstaat Afghanistan sind diese hohen Anforderungen maßgeblich (vgl. EGMR, Urteile vom 29. Januar 2013 – Nr. 60367/10, S. H. H. ./. Vereinigtes König-reich – Rn. 89 ff., und vom 13. Oktober 2011 – 10611/09, Husseini ./. Schweden –, Rn. 91 ff.; siehe auch BVerwG, Beschluss vom 13. Februar 2019 – 1 B 2.19 –, juris, Rn. 10; Urteil vom 31. Januar 2013 – 10 C 15.12 –, juris, Rn. 25), weil die dortigen humanitären Verhältnisse nicht einem Akteur zuzuordnen sind, sondern auf einer Vielzahl von Faktoren beruhen, zu denen die allgemeine wirtschaftliche Lage, Umweltbedingungen wie Klima und Naturkatastrophen ebenso wie die Sicherheitslage gehören. [...]

b) Ausgehend von diesen Grundsätzen erwartet den Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine erniedrigende Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK. Als Zielorte der Abschiebung kommen die Hauptstadt Kabul sowie die Stadt Herat , aus der die Eltern des Klägers stammen, in Betracht. [...]

aa) Eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung droht dem Kläger nicht mit Blick auf die in Afghanistan bzw. in Kabul oder Herat herrschende allgemeine Sicherheitslage.

Eine allgemeine Situation der Gewalt, die zur Folge hätte, dass eine Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in Afghanistan, im Besonderen in Kabul, Gefahr liefe, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Misshandlung ausgesetzt zu sein, haben aufgrund der jeweiligen Erkenntnislage bisher weder der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (vgl. EGMR, Urteile vom 11. Juli 2017 – Nr. 46051/13, S. M. A. ./. Niederlande –, Rn. 53, – Nr. 41509/12, Soleimankheel u.a. ./. Niederlande –, Rn. 51, – Nr. 77691/11, G. R. S. ./. Niederlande –, Rn. 39, – Nr. 72586/11, E. K. ./. Niederlande –, Rn. 67, – Nr. 43538/11 und 63104/11, E. P. und A. R. ./. Niederlande –, Rn. 80, vom 16. Mai 2017 – Nr. 15993/09, M. M. ./. Niederlande –, Rn. 120, vom 5. Juli 2016 – Nr. 29094/09, A. M. ./. Niederlande –, Rn. 87, vom 12. Januar 2016 – Nr. 13442/08, A. G. R. ./. Niederlande –, Rn. 59, und vom 9. April 2013 – Nr. 70073/10 und 44539/11, H. und B. ./. Vereinigtes Königreich –, Rn. 92 f.) noch die obergerichtliche Rechtsprechung (vgl. etwa Niedersächsisches OVG, Urteil vom 29. Januar 2019 – 9 LB 93/18 –, juris, Rn. 57 ff.; VGH Baden-Württemberg, Urteile vom 12. Dezember 2018 – A 11 S 1923/17 –, juris, Rn. 225 ff., und 12. Oktober 2018 – A 11 S 316/17 –, juris, Rn. 302 ff.; Bayerischer VGH, Urteil vom 8. November 2018 – 13a B 17.31960 –, juris, Rn. 43 ff., jeweils m.w.N.) festgestellt. Diese Einschätzung teilt der Senat aufgrund der ihm vorliegenden Erkenntnisse, auf die er die Beteiligten hingewiesen hat.

Danach ist die Sicherheitslage in Afghanistan anhaltend schlecht. Sie weist erhebliche regionale Unterschiede auf und bleibt volatil. [...]

Die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (United Nations Assistance Mission in Afghanistan – UNAMA –) dokumentierte für das Jahr 2018 landesweit insgesamt 10.993 zivile Opfer (Tote und Verletzte). Dies bedeutet gegenüber dem Jahr 2017 mit 10.459 zivilen Opfern einen Anstieg um rund 5%. Gegenüber dem Jahr 2016 mit 11.452 zivilen Opfern hat sich die Zahl um rund 4% verringert. Dabei war im Jahr 2018 mit 3.804 getöteten Zivilpersonen – gegenüber 3.440 im Vorjahr und 3.527 im Jahr 2016 – die seit Beginn der Erhebungen der UNAMA im Jahr 2009 bisher größte Zahl von Todesopfern zu verzeichnen. Der Großteil der zivilen Opfer (63%) ging im Jahr 2018 wie in den Vorjahren auf Angriffe regierungsfeindlicher Gruppen zurück, insbesondere auf solche der Taliban und des sog. Islamischen Staates (IS), denen jeweils 37% bzw. 20% der Angriffe zugerechnet werden. 24% der zivilen Opfer des Jahres 2018 werden auf Kampfhandlungen von Pro-Regierungstruppen zurückgeführt und 10% auf Kreuzfeuer, das keiner einzelnen Konfliktpartei zugerechnet werden kann (vgl. UNAMA, Afghanistan, Protection of Civilians in Armed Conflict, Annual Report 2018, Februar 2019, S. 1, 4; dazu: BAMF, Briefing Notes, vom 25. Februar 2019, S. 1). [...]

Trotz der damit für Zivilpersonen anhaltend bedrohlichen Sicherheitslage ist eine landesweit hinreichend beachtliche Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts für Zivilpersonen weiterhin nicht festzustellen. [...]

Auch eine Situation extremer allgemeiner Gewalt, die eine erniedrigende Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK begründen könnte, weil eine abgeschobene Person bereits allein aufgrund ihrer Anwesenheit im Zielstaat mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit gefährdet wäre, vermag ein Gefahrengrad, der sich in diesem Bereich bewegt, in quantitativer Hinsicht nicht zu begründen. [...]

Auch für die Stadt Kabul als möglichem Zielort der Abschiebung des Klägers ist die Gefahrenschwelle in quantitativer Hinsicht nicht erreicht. Allerdings verzeichnete UNAMA für die Provinz Kabul im Jahr 2018 die landesweit höchste Zahl ziviler Opfer (1.866, davon 596 Tote und 1.270 Verletzte) und im Vergleich zum Vorjahr einen Anstieg der Opferzahlen um 2%. [...]

Auch in der Stadt Herat als alternativem Zielort für die Abschiebung des Klägers ist die Gefahrenschwelle in quantitativer Hinsicht derzeit nicht erreicht. [...]

bb) Eine erniedrigende Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK droht dem Kläger auch nicht aufgrund der ihn in der Stadt Kabul oder der Stadt Herat erwartenden humanitären Verhältnisse.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat eine extreme Gefahrenlage, bei der sich die humanitären Gründe gegen eine Ausweisung als zwingend erweisen, in Anbetracht der in Afghanistan, speziell in Kabul, herrschenden allgemeinen Lebensverhältnisse bisher nicht feststellen können (vgl. EGMR, Urteile vom 29. Januar 2013 – 60367/10, S. H. H. / Vereinigtes Königreich – Rn. 89 ff., und vom 13. Oktober 2011 – 10611/09, Husseini / Schweden –, Rn. 83 ff.).

Nach den dem Senat vorliegenden Erkenntnissen besteht eine solche extreme Gefahrenlage in Afghanistan insgesamt sowie in Kabul und Herat als möglichen Zielorten der Abschiebung des Klägers für die Personengruppe der alleinstehenden, gesunden und arbeitsfähigen jungen Männer auch derzeit nicht, sofern nicht besondere, individuell erschwerende Umstände hinzukommen. Dies gilt selbst dann, wenn diese kein nennenswertes Vermögen und keine Berufsausbildung haben, am Zielort über kein familiäres Netzwerk verfügen und im Iran aufgewachsen sind (siehe so (zur jeweiligen Erkenntnislage) auch Niedersächsisches OVG, Urteil vom 29. Januar 2019 – 9 LB 93/18 –, juris, Rn. 94; Bayerischer VGH, Urteil vom 8. November 2018 – 13a B 17.31960 –, juris, Rn. 42, 52; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 12. Oktober 2018 – A 11 S 316/17 –, juris, Rn. 392, 435 f. m.w.N.). [...]

II. Ein Verbot, den Kläger nach Afghanistan abzuschieben, folgt auch nicht aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. [...]