VG Trier

Merkliste
Zitieren als:
VG Trier, Urteil vom 20.08.2019 - 6 K 5256/17.TR - asyl.net: M27534
https://www.asyl.net/rsdb/M27534
Leitsatz:

Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 für junge Mutter aus der Provinz Uruzgan:

1. Für die Provinz Uruzgan ist keine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts i.S.d. § 4 AsylG anzunehmen.

2. Bei einer jungen Frau, die weitestgehend im Iran aufgewachsen ist, ist nicht anzunehmen, dass sie bei einer Rückkehr in der Lage wäre, ihre Existenz zu sichern. 

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Uruzgan, Kabul, Frauen, extreme Gefahrenlage, Extremgefahr, Iran, Mutter, alleinstehende Frauen, Existenzgrundlage, Existenzminimum,
Normen: AsylG § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3, AufenthG § 60 Abs. 7,
Auszüge:

[...]

I. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Feststellung der Flüchtlingseigenschaft durch die Beklagte. [...]

1. Die Klägerin hat zunächst selbst keine Verfolgungshandlungen vorgetragen, die ihr in ihrem Herkunftsland - Afghanistan - widerfahren wären. [...]

2. Auch der Umstand, dass die Klägerin von der Volkszugehörigkeit der Hazara und von schiitischer Religionszugehörigkeit ist, vermag für sich allein nicht die beachtliche Wahrscheinlichkeit ihr unmittelbar drohender Verfolgungshandlungen zu begründen. [...]

3. Der streitgegenständliche Anspruch folgt auch nicht aus dem Umstand, dass dem Kind der Klägerin durch die Beklagte, angelehnt an seinen Vater, der Flüchtlingsstatus zuerkannt wurde. [...]

II. Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten zur Zuerkennung subsidiären Schutzes (§ 4 AsylG). [...]

Wodurch ihr eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung (§ 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AsylG) oder gar die Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 AsyIG) drohen sollte, ist unter keinem Gesichtspunkt erkennbar geworden. [...]

Schließlich liegt auch keine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit der Klägerin als Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen und innerstaatlichen bewaffneten Konflikts vor (§ 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AsylG).

Insoweit kann dahinstehen, ob in der Provinz Uruzgan, aus der die Klägerin ursprünglich stammt, oder in Kabul - als voraussichtlichen Zielort der Abschiebung (vgl. BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 - 10 C 15.12 -, juris) - derzeit vom Bestehen eines innerstaatlichen bewaffneten Konfliktes auszugehen ist. Denn jedenfalls hat ein solcher Konflikt kein solches Ausmaß angenommen, dass von einer ernsthaften individuellen Bedrohung der Klägerin als Zivilperson auszugehen ist. [...]

Von den bewaffneten Konflikten in der Provinz Uruzgan geht jedenfalls kein so hoher Grad willkürlicher Gewalt aus, dass jeder in die Region Zurückkehrende alleine durch seine Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften Bedrohung ausgesetzt zu sein. Dabei verkennt das Gericht nicht, dass die Provinz sowohl im Dezember 2017 als auch im Januar und März 2018 zu den volatilen Provinzen im Süden Afghanistans zählte. Regierungsfeindliche bewaffnete Gruppierungen sind in einer Anzahl von Distrikten aktiv. Auch zählt Uruzgan zu jenen Provinzen, in denen eine hohe Anzahl an Zivilisten aufgrund explosiver Kampfmittelrückstände und in indirekter Waffeneinwirkung ums Leben kam (vgl. Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan vom 26. März 2019, S. 239 m.w.N.). Bei einer Bevölkerungszahl der Provinz von geschätzt 362.000 Einwohnern wurden im gesamten Jahr 2018 in der Provinz 173 zivile Opfer, davon 46 Getötete und 127 Verletzte, gezählt (vgl. Republik Österreich, a.a.O., S. 239, UNAMA, a.a.O., S. 68). Die Wahrscheinlichkeit, im Jahr 2018 in der Provinz Uruzgan ziviles Opfer eines sicherheitsrelevanten Vorfalls zu werden, lag damit im gesamten Jahr 2018 bei 1:2.090 und damit unter 1:800, mithin nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, in dem betreffenden Gebiet verletzt oder getötet zu werden, entfernt (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. November 2011 a.a.O.; im Einzelnen: VG Wiesbaden, Urteil vom 24. November 2017 - 7 K 3150/16.WI.A -, juris; VG Würzburg, Urteil vom 4. September 2018 - W 1 K 18.31101 -, juris).

Auch in Kabul besteht derzeit kein solcher Grad willkürlicher Gewalt, dass von einer individuellen Bedrohung der Klägerin ausgegangen werden kann. [...]

III. Die Klägerin hat allerdings Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG. Ein solches liegt im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung (§ 77 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 AsylG) vor. [...]

Im vorliegenden Einzelfall geht das Gericht aufgrund der konkreten Umstände davon aus, dass die Klägerin bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der dortigen Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Der Klägerin wird es mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht gelingen, bei Rückkehr in ihr Heimatland das für sie erforderliche Existenzminimum zu erwirtschaften, so dass sie zeitnah in Lebensgefahr geraten würde. Bezüglich des Vaters der Klägerin und zwei ihrer Brüder hat die Beklagte ein Abschiebungsverbot festgestellt. Ihr Kind hat - angelehnt an seinen Vater - den Flüchtlingsstatus zuerkannt bekommen. Die Klägerin müsste demnach voraussichtlich allein nach Afghanistan zurückkehren. Dabei ist davon auszugehen, dass es ihr als alleinstehende junge Frau nicht gelingen wird, ihr Existenzminimum zu sichern. Die Klägerin verfügt über keine Berufserfahrung. Sie hat beinahe ihr gesamtes Leben im Iran verbracht. Sie hat Afghanistan mit drei Jahren verlassen und hat dort ansonsten nur von ihrem siebten bis zu ihrem achten Lebensjahr gelebt. Mit den Verhältnissen in Afghanistan ist sie nicht vertraut. Ihr Zugang zum schon faktisch stark begrenzten Arbeitsmarkt für Frauen in Afghanistan ist daher zusätzlich erschwert (vgl. VG Köln, Urteil vom 25. Februar 2014 - 14 K 2512/12 -, BeckRS 2014, 50639). Als alleinstehende Frau hätte sie bei einer Rückkehr nach Afghanistan keine Chance, sich im Kampf um Tagelöhnertätigkeiten, bei denen oftmals harte körperliche Arbeit gefragt ist, gegen afghanische Männer durchzusetzen. Sie kann bei einer Rückkehr zur Überzeugung des Gerichts auch nicht auf die Unterstützung durch einen Familienverband hoffen. In Afghanistan hat die Klägerin an Verwandtschaft lediglich eine Tante väterlicherseits. Es ist nicht davon auszugehen, dass diese sie bei ihrer Reintegration effektiv und dauerhaft unterstützen könnte. Der Klägerin stünde somit bei einer Rückkehr nach Afghanistan kein soziales Netz zur Verfügung, dass sie absichern könnte. [...]