VG Trier

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Zitieren als:
VG Trier, Urteil vom 19.09.2019 - 7 K 2586/19.TR - asyl.net: M28096
https://www.asyl.net/rsdb/m28096
Leitsatz:

Zuständigkeit nach der Dublin-VO für Familienangehörige von Antragsteller*innen: 

"1. Im Rahmen der Prüfung des Art. 10 Dublin III-Verordnung (juris: EUV 604/2013) ist die Vorschrift des Art. 2 g) Dublin III-Verordnung  (juris: EUV 604/2013) dahingehend einschränkend auszulegen, dass für die Eigenschaft des Familienangehörigen ausreichend ist, wenn die Familie, in die ein minderjähriges Kind später hineingeboren wird, bereits im Herkunftsland bestanden hat (Rn. 21).

2. Die Zuständigkeit eines Mitgliedsstaats nach Art. 10 Dublin III-Verordnung  (juris: EUV 604/2013) setzt voraus, dass dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz des Familienangehörigen zuständig ist (Rn. 27).

3. Die eine Zuständigkeit nach Art. 10 Dublin III-Verordnung  (juris: EUV 604/2013) ausschließende Erstentscheidung in der Sache liegt erst bei einer bestands- bzw. rechtskräftigen Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz vor (Rn. 27)."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Kind, Familieneinheit, Familienangehörige, Unzulässigkeit, Zuständigkeit, nachgeborenes Kind, in Deutschland geborenes Kind, Rechtskraft, Ablehnungsbescheid,
Normen: VO 604/2013 Art. 10
Auszüge:

[...]

21 Zwar setzt Art. 2 g) Dublin III-Verordnung für die Eigenschaft als Familienangehöriger grundsätzlich voraus, dass die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat. An dieser Voraussetzung fehlt es hier, da der Sohn des Klägers erst in Deutschland geboren wurde und das familiäre Band zwischen ihnen im Heimatland Armenien folglich noch nicht existierte. Im Rahmen der Prüfung von Art. 10 Dublin III-Verordnung ist die Vorschrift des Art. 2 g) Dublin III-Verordnung jedoch insoweit einschränkend auszulegen, dass für die Eigenschaft des Familienangehörigen ausreichend ist, wenn – wie vorliegend – die Familie, in die ein minderjähriges Kind später hineingeboren wird, bereits im Herkunftsland bestanden hat (a.A. wohl: VG Lüneburg, Beschluss vom 25. Januar 2019 – 8 B 194/18 –, Rn. 14, juris).

22 Lediglich durch ein derartiges Verständnis des Art. 10 Dublin III-Verordnung kann der im 14. Erwägungsgrund genannten Zielsetzung Rechnung getragen werden, das Familienleben bei der Anwendung der Verordnung zu beachten. Denn ansonsten käme es in Fällen wie dem Vorliegenden, wenn eine schwangere Asylantragstellerin zunächst allein in einen Dublin-Mitgliedsstaat einreist und der Kindsvater seiner Familie erst nach der Geburt des Kindes auf einem abweichenden Reiseweg nachfolgt, gegebenenfalls zu einer abweichenden Zuständigkeit für Mutter und Kind einerseits und für den Kindsvater andererseits. Dies hätte eine mit Art. 8 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten – EMRK – und Art. 7 der Europäischen Grundrechtecharta – GRC – nicht zu vereinbarende Trennung des Kindsvaters von seinem Kind zur Folge (vgl. VG Düsseldorf, Beschluss vom 27. April 2018 – 12 L 3840/17.A –, Rn. 33, juris). Auch ermöglicht ein derartiges Verständnis von Art. 2 g) Dublin III-Verordnung die nach dem 15. Erwägungsgrund der Dublin III-Verordnung ausdrücklich gewollte, gemeinsame und kohärente Bearbeitung der von den Mitgliedern einer Familie gestellten Anträge auf internationalen Schutz (vgl. auch VG Berlin, Beschluss vom 7. Mai 2018 – 34 L73.18 A –, Rn. 8, juris). [...]

29 3. Über den Antrag auf internationalen Schutz des Sohns des Klägers ist bisher keine Erstentscheidung in der Sache ergangen.

30 Zwar hat die Beklagte seinen Asylantrag mit Bescheid vom 20. Mai 2017 (Az.: ...) abgelehnt und das Gericht die hiergegen gerichtete Klage mit Urteil vom 6. März 2019 – 11 K 7076/17.TR – abgewiesen. Die eine Zuständigkeit nach Art. 10 Dublin III-Verordnung ausschließende "Erstentscheidung in der Sache" liegt jedoch erst bei einer bestands- bzw. rechtskräftigen Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz vor (OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 3. September 2019 – OVG 6 N 58.19 –, Rn. 10 ff., juris; VG Berlin, Beschluss vom 7. Mai 2018 – 34 L 73.18 A –, Rn. 8, juris mit Verweis auf Bruns, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, AsylVfG § 27a Rn. 38; Filzwieser/Sprung a.a.O., Art. 10 Rn. K3). [...]

31 Für das obenstehend genannte Verständnis von Art. 10 Dublin III-Verordnung spricht die bereits angesprochene Zielsetzung der Dublin III-Verordnung, wonach die Achtung des Familienlebens eine vorrangige Erwägung der Mitgliedstaaten sein soll. Diesem Ziel wird Art. 10 der Dublin III-Verordnung nur gerecht, wenn eine gemeinsame Zuständigkeit für alle Familienangehörigen während des gesamten behördlichen und gerichtlichen Asylverfahrens angenommen wird. Denn andernfalls droht den Familienangehörigen die Trennung bis zum (möglicherweise divergierenden) Abschluss eines oder gar beider Asylverfahren in unterschiedlichen Mitgliedstaaten. Da Art. 10 Dublin III-Verordnung die gemeinsame und kohärente Bearbeitung der von den Mitgliedern einer Familie gestellten Anträge (vgl. 15. Erwägungsgrund der Verordnung) bezweckt, kann dieser im Lichte der Art. 8 EMRK bzw. Art. 7 GRC nur so verstanden werden, dass die Zuständigkeit des Aufenthaltsstaats des Familienangehörigen lediglich dann endet, wenn dessen Verfahren bereits bestandskräftig abgeschlossen ist, dieser also keinen potentiellen Anspruch mehr auf internationalen Schutz hat (VG Berlin a.a.O.).

32 Dass es maßgeblich auf die Bestands- bzw. Rechtskraft der Erstentscheidung in der Sache  ankommt, ergibt sich auch aus dem systematischen Zusammenhang der Art. 9 und 10 Dublin III-Verordnung. Art. ergänzt Art. 9 der Verordnung, welcher die Zuständigkeit für Familienangehörige regelt, die Begünstigte internationalen Schutzes sind. Gemäß Art. 9 Dublin III-Verordnung ist der Mitgliedstaat, in welchem ein Begünstigter internationalen Schutzes aufenthaltsberechtigt ist, für den Antrag von dessen Familienangehörigen zuständig. Nach Art. 10 der Verordnung soll die Zuständigkeit auch bestehen, solange über dessen Antrag noch keine Erstentscheidung ergangen ist. Würde die Zuständigkeit bereits vor dem Abschluss des Klageverfahrens enden, so würde eine von der Verordnung nach dem oben Gesagten nicht beabsichtigte Zuständigkeitslücke für den Zeitraum zwischen der behördlichen und der gerichtlichen Entscheidung entstehen (VG Berlin a.a.O. Rn. 9).

33 Weiter spricht für dieses Verständnis von Art. 10 Dublin III-Verordnung, dass nach Art. 2 lit. d) Dublin III-Verordnung unter der "Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz” die Gesamtheit der Prüfungsvorgänge, der Entscheidungen oder Urteile der zuständigen Behörden in Bezug auf einen Antrag auf internationalen Schutz zu verstehen sind. Daraus ergibt sich, dass die Dublin III-Verordnung erst dann von einer Sachentscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz ausgeht, wenn hierzu behördliche Entscheidungen, gegebenenfalls aber auch gerichtliche Urteile ergangen sind.

34 Auch kann hierdurch einem weiteren Sinn der Bestimmung des Art. 10 Dublin III-Verordnung – den Vorteil für die Mitgliedsstaaten zu nutzen, dass mehrere Familienangehörige zur gleichen Zeit im Asylverfahren stehen, damit wechselweise als Auskunftspersonen herangezogen werden können und die gemeinsame Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz eine genauere und kohärente Prüfung ermöglicht (Filzwieser/Sprung a.a.O. Rn. K2) – besser Rechnung getragen werden. Denn die gemeinsame Antragsbearbeitung ist auch für das noch nicht rechtskräftig abgeschlossene Gerichtsverfahren von Vorteil und bietet auch insoweit eine genauere und kohärentere Prüfung durch das Gericht (ähnlich: Günther a.a.O.).

35 Schließlich steht die genannte Auslegung nicht dem Wortlaut des Art. 10 Dublin III-Verordnung entgegen. Der Begriff "Erstentscheidung" ist nicht als die zeitlich erste Entscheidung in der Sache, sondern als Gegenstück zu der Entscheidung über einen Folge- bzw. Zweitantrag zu verstehen (VG Berlin a.a.O., Rn. 10). [...]