OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 28.08.2019 - 9 A 4590/18.A - asyl.net: M28330
https://www.asyl.net/rsdb/M28330
Leitsatz:

Kein subsidiärer Schutz wegen innerstaatlichem bewaffnetem Konflikt in Bagdad:

In Bagdad ist das Ausmaß der willkürlichen Gewalt nicht so groß, dass eine allgemeine Gefahrenlage unabhängig von gefahrerhöhenden individuellen Umständen besteht.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Bagdad, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, Schiiten, Miliz, willkürliche Gewalt, allgemeine Gefahr, gefahrerhöhende Umstände, extreme Gefahrenlage,
Normen: AsylG § 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 3,
Auszüge:

[...]

bb) In Bagdad besteht für die Klägerin wegen der dortigen allgemeinen Sicherheitslage nicht die Gefahr einer erheblichen individuellen Bedrohung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG. Das Niveau willkürlicher Gewalt ist dort nach den dem Senat vorliegenden Erkenntnissen aktuell nicht derart hoch, dass die Klägerin infolge konfliktbedingter willkürlicher Gewalt individuell bedroht wäre. Die Gefahrendichte erreicht nicht das für die Annahme einer individuellen Bedrohung erforderliche Maß (dazu (1) bis (3)). Eine wertende Gesamtbetrachtung unter Berücksichtigung auch der individuellen Situation der Klägerin führt zu keinem anderen Ergebnis (dazu (4)). Das gilt sowohl für die Stadt Bagdad als auch mit Blick auf das gesamte Gouvernement Bagdad.

(1) Die Ermittlung der Gesamtzahl der in Bagdad lebenden Zivilpersonen ist nur unter Rückgriff auf Schätzungen möglich, weil der letzte offizielle Zensus im Irak 1987 bzw. 1997 erstellt worden ist. Dazu kommt, dass sich - bedingt durch innerstaatliche Fluchtbewegungen und Vertreibungen - in Bagdad, insbesondere in der Stadt Bagdad, zahlreiche Binnenvertriebene aufhalten, deren genaue Anzahl unklar ist und sich aufgrund von Zu- und Abwanderungen laufend ändert (vgl. UK Home Office: Country Policy and Information Note. Iraq: Security and humanitarian situation. Version 5.0, 16. November 2018, S. 14 (letzter Zensus 1987); Auswärtiges Amt (AA), Irak: Überblick, 29. Mai 2019 (letzter Zensus 1997). Zur Zahl der im Jahr 2019 (noch) in Bagdad lebenden Binnenvertriebenen vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 12. Januar 2019 (Stand: Dezember 2018) - Lagebericht, S. 20 (ca. 79.000), und United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (UNOCHA), Iraq. Baghdad Governorate profile and monthly humanitarian response, 20. Mai 2019, S. 1 (60.816 "IDPs")).

Die Stadt Bagdad hat aktuell nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes ca. 7,6 Mio. Einwohner (vgl. AA, Irak: Überblick, 29. Mai 2019).

Unter Rückgriff auf Zahlen der Iraqi Central Statistical Organisation (CSO, teilweise auch: COS bzw. COSIT) und Hochrechnungen aus dem Jahr 2009 wird die Einwohnerzahl der Stadt Bagdad in anderen Quellen etwas niedriger - mit ca. 6,7 Mio. zum Stand Juli 2018 - angegeben (vgl. Zahlen auf der Webseite "Citypopulation.de": www.citypopulation.de/Iraq-Cities.html).

EASO (European Asylum Support Office) geht unter Berufung auf Angaben der CIA (The World Factbook) von einer Einwohnerzahl von etwa 6,6 Mio. aus (vgl. EASO, Country of Origin Information Report. Iraq. Key socio-economic indicators, Februar 2019, S. 29).

Für das gesamte Gouvernement Bagdad wird die Einwohnerzahl auf zwischen ca. 7 und 8,5 Mio. geschätzt (vgl. EASO, Herkunftsländerinformation. Irak. Sicherheitslage (Ergänzung). Iraq Body Count - Zivile Todesfälle 2012, 2017-2018, S. 18 (ca. 7,7 Mio., geschätzt "für das Jahr 2015"), sowie Country of Origin Information Report. Iraq. Key socio-economic indicators, Februar 2019, S. 29 ("population of almost 8,5 Mio."); Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich (BFA), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation. Irak, S. 31 ("Bevölkerung von mehr als sieben Millionen Menschen"); Webseite "Citypopulation.de": www.citypopulation.de/Iraq-Cities.html (ca. 8,1 Mio.)).

(2) Die Anzahl der dieser Bevölkerungszahl gegenüber zu stellenden zivilen Opfer willkürlicher Gewalt lässt sich auf der Grundlage der zur Verfügung stehenden Erkenntnisse zwar nicht exakt, aber trotz der in Teilen durchaus unterschiedlichen Vorgehensweise der Auskunftsquellen so verlässlich ermitteln, dass die nach den genannten rechtlichen Maßstäben gebotene annäherungsweise Ermittlung der Gefahrendichte möglich ist. Im Einzelnen lässt sich bezogen auf den Irak und speziell Bagdad Folgendes feststellen:

Die Sicherheitslage im Irak hat sich seit der weitest gehenden territorialen Zurückdrängung des sog. Islamischen Staates (IS) Ende Dezember 2017 merklich verbessert. Gleichwohl ist sie nach wie vor volatil und in verschiedenen Landesteilen sehr unterschiedlich. Der IS ist weiterhin im Irak aktiv, insbesondere in den Gegenden um Kirkuk, Mosul und Tal Afar, und verübt Anschläge, auch in Bagdad. Offenbar versucht der IS derzeit, nach einer Zeit der Neuformierung, in der die Anzahl der Angriffe stark zurückgegangen war, die Kontrolle über die ländlichen Gebiete im Zentrum des Irak und über Grenzgebiete zurückzuerlangen. Gleichzeitig verstärkt er die direkte Konfrontation mit Sicherheitskräften. Vor allem in (ländlichen) Gebieten, in denen irakische Sicherheitskräfte nicht präsent sind, kommt es zu Drohungen, Einschüchterungen und Tötungen durch den IS. Eine potentiell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung stellen daneben auch die zwar formal in die irakischen Streitkräfte eingebundenen, aber häufig eigenmächtig handelnden (meist schiitischen) Milizen dar. Landesweit kommt es zudem zu einer Vielzahl von Gewalttaten mit rein kriminellem Hintergrund. Insbesondere in Bagdad kommt es zu Entführungen durch kriminelle Gruppen, die für die Freilassung ihrer Opfer Lösegeld fordern (vgl. AA, Lagebericht, S. 16, sowie die seit dem 26. August 2019 gültigen Reise- und Sicherheitshinweise, abrufbar unter www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/iraknode/iraksicherheit/202738; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation. Irak, S. 25 ff.; Joel Wing, Blog "Musings on Iraq": Islamic State rebuilding in rural areas of central Iraq, Bericht vom 3. Juli 2018, und Islamic State returns to Baghdad while overall security in Iraq remains steady, Bericht vom 6. Oktober 2018, jeweils abrufbar unter www.musingsoniraq.blogspot.com).

(a) Trotz dieser nach wie vor angespannten Sicherheitslage ist die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Irak seit Anfang 2017 deutlich gesunken. Damit einhergehend hat sich auch die Zahl der zivilen Opfer (Tote und Verletzte) im Irak seitdem kontinuierlich reduziert. [...]

Hochgerechnet auf das gesamte Jahr 2018 ergäben sich danach landesweit 3.239 Vorfälle mit 6.404 Todesopfern. [...]

Seit Beginn des Jahres 2019 sind die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle in Bagdad und die Anzahl ziviler Opfer noch weiter zurückgegangen.

Die Sicherheitslage in Bagdad hat sich in der ersten Jahreshälfte 2019 weiter stabilisiert. [...]

(3) Bei einer Relationsbetrachtung zwischen der Zahl der in Bagdad lebenden Zivilbevölkerung und der Zahl der zivilen Opfer willkürlicher Gewalt ist das Schädigungsrisiko in Bagdad derzeit nicht so hoch, dass die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG erfüllt wären.

(a) Der erforderlichen quantitativen Risikobewertung legt der Senat im Ausgangspunkt die von UNAMI ermittelten Opferzahlen zugrunde. Zwar handelt es sich bei diesen Zahlen, wie ausgeführt, nach Angaben von UNAMI um Mindestzahlen, insbesondere weil nur verifizierte Opferzahlen in dem veröffentlichten Datenmaterial angegeben werden und nicht (hinreichend) verifizierbare Angaben zu zivilen Opfern, so etwa aus der Provinz Anbar, daher gar nicht genannt werden (vgl. die Angaben etwa in UNAMI, UN Casualty Figures for Iraq for the Month of December 2018, a.a.O.).

Die Zahlen allerdings, die von UNAMI genannt werden, können als verlässlich und vertrauenswürdig angesehen werden. Sie stammen von einer von der internationalen Staatengemeinschaft getragenen Organisation und sind somit einer verlässlichen, an internationalen Standards orientierten Quelle zuzuordnen (so auch OVG NRW, Urteil vom 18. Juni 2019 - 13 A 3930/18.A juris Rn. 142, für die entsprechende UN-Mission in Afghanistan (UNAMA)).

Zudem wertet UNAMI eine Vielzahl unterschiedlicher Quellen aus, so dass, soweit möglich, eine umfassende Ermittlung erfolgt. Die so gesammelten Informationen werden bestätigt und verifiziert, indem voneinander unabhängige und glaubwürdige Quellen genutzt werden. UNAMI-Mitarbeiter sind im Irak selbst vor Ort, insbesondere auch in Bagdad (vgl. hierzu die UNAMI-Quellenbeschreibung unter www.ecoi.net/de/quelle/11506.html. [...]

(b) Ausgehend von 6,6 Mio. Einwohnern Bagdads - obwohl die Zahl für das gesamte Gouvernement nach den oben dargestellten Schätzungen höher sein dürfte - ergibt sich bei Zugrundelegung der von UNAMI dokumentierten Zahl ziviler Opfer im Jahr 2018 (1.214) eine Gefährdungswahrscheinlichkeit von etwa 1 : 5.437 (= 0,018 %). Legt man die von Joel Wing genannten Opferzahlen zugrunde (1.281), errechnet sich eine minimal erhöhte Wahrscheinlichkeit von 1 : 5.152 (= 0,019 %). Berücksichtigt man den Umstand, dass es sich bei den UNAMI-Zahlen um Mindestangaben handelt, und korrigiert die Zahlen deshalb nach oben, indem man von 858 Verletzten (so Joel Wing) und 566 - zivilen - Toten (so IBC) im Jahr 2018 ausgeht (insgesamt 1.424, nochmals erhöht mithin rund 1.500), liegt die Gefährdungswahrscheinlichkeit gleichwohl bei nur 1 : 4.400 (= 0,023 %). Auch wenn man trotz der oben dargelegten Bedenken die ACCORD-Zahlen zugrunde legen würde, ergäbe sich im Übrigen keine signifikante Abweichung. Damit ist in rein quantitativer Hinsicht bei Weitem nicht eine Gefahrendichte erreicht, bei der ohne Hinzutreten weiterer Umstände von einer individuellen Gefährdung jeder in Bagdad anwesenden Zivilperson auszugehen wäre. [...]