VG Gelsenkirchen

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Zitieren als:
VG Gelsenkirchen, Urteil vom 16.04.2020 - 15a K 5545/19.A - asyl.net: M28429
https://www.asyl.net/rsdb/M28429
Leitsatz:

Abschiebungsverbot hinsichtlich Schwedens wegen drohender Kettenabschiebung in den Irak:

1. Alleinerziehende Frauen mit minderjährigen Kindern, die keine Unterstützung durch ihre Familie zu erwarten haben, können regelmäßig im Irak ihre Existenz nicht eigenständig sichern. Es ist daher ein Abschiebungsverbot hinsichtlich des Irak festzustellen.

2. Aus Schweden werden Abschiebungen in den Irak durchgeführt. Dies betrifft auch alleinerziehende Frauen mit Kindern. Schweden hält auch auf Nachfrage an dieser Praxis fest.

3. Da aufgrund des erfolglos abgeschlossenen Asylverfahrens in Schweden eine Kettenabschiebung in den Irak droht, ist auch hinsichtlich Schwedens ein Abschiebungsverbot festzustellen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Schweden, Dublinverfahren, Kettenabschiebung, Zweitantrag, Existenzgrundlage, Abschiebungsverbot, alleinstehende Frauen, Irak, alleinerziehend,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3
Auszüge:

[...]

Der Bescheid des Bundesamtes vom 6. Dezember 2019 ist insoweit rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten. Sie haben auf der Grundlage der Verhältnisse in dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts einen Anspruch auf Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes - AufenthG - i.V.m. Art. 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK - in ihren Personen hinsichtlich Schweden und Irak, (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO).

Nach Ziff. 60.0.1.0 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift des Bundesministeriums des Innern zum Aufenthaltsgesetz vom 26. Oktober 2009 (im Internet abrufbar unter www.verwaltungsvorschriften-iminternet. de/pdf/BMI-MI3-20091026-SF-A001.pdf) gilt die Schutzwirkung des § 60 AufenthG auch für Drittstaaten, in denen die Gefahr der Abschiebung des Ausländers in einen Verfolgerstaat (Kettenabschiebung) besteht. Nach Ziff. 60.0.4.1 der vorerwähnten Allgemeinen Verwaltungsvorschrift verbietet § 60 Abs. 2, 3, 5 und 7 AufenthG die Abschiebung nur in den Staat, in dem dem Ausländer die genannte Gefahr droht, ebenso die Abschiebung in einen Drittstaat, in dem eine Weiterschiebung in den Verfolgerstaat droht (Kettenabschiebung) (vgl. Dollinger, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Auflage 2020, AufenthG, § 60; vgl. VGH München, Beschluss vom 15. Februar 2005 - 24 CS 04.2909 -, BeckRS 2005, 15977 = juris, Rn. 23, zur Einordnung der drohenden sog. Kettenabschiebung in einen endgültigen Zielstaat, in dem Verletzungen von Konventionsrechten drohen, als zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis).

Durch die indirekte Rückführung eines Asylbewerbers von einem Ausgangsstaat über einen Durchreisestaat, der ebenfalls Vertragsstaat der EMRK ist, in einen Aufnahmestaat/Zielstaat, wird die Verantwortung des Ausgangsstaates, sicher zu stellen, dass der Asylbewerber als Folge der Abschiebungsentscheidung nicht einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung in dem Aufnahmestaat/Zielstaat unterworfen wird, nicht aufgehoben. Der Ausgangsstaat kann sich von den Verpflichtungen aus der EMRK nicht befreien, indem er sich auf die Regelungen des Dubliner Übereinkommens über die Verteilung der Verantwortung zwischen den europäischen Staaten hinsichtlich der Entscheidung über Asylbegehren beruft (vgl. EGMR, Entscheidung vom 7. März 2000 - 43844/98 -, NVwZ 2001, 391 und juris, 2. Orientierungssatz).

Zwar droht den Klägern bei einem Aufenthalt in Schweden durch die schwedischen Behörden selbst keine dem Schutz von Art. 3 EMRK zuwiderlaufende Behandlung. Insoweit wird auf die Feststellungen und Ausführungen im angefochtenen Bescheid verwiesen, denen das Gericht insoweit folgt (§ 77 Abs. 2 AsylG).

Allerdings stellt ihre Abschiebung nach Schweden ein Glied in einer möglichen Kette von Ereignissen dar, die in einer Abschiebung der Kläger in den Irak enden könnten, wo sie einer dem Schutz von Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung ausgesetzt wären (vgl. zu diesem Maßstab für die Prüfung einer Kettenabschiebung EGMR, Entscheidung vom 7. März 2000 - 43844/98 -, NVwZ 2001, 391, 302).

Die Abschiebung nach Schweden könnte in einer Abschiebung in den Irak enden. Den Klägerinnen wurde nach eigenen Angaben von den schwedischen Behörden nach Ablehnung ihrer Asylanträge die Abschiebung in den Irak angedroht. Das Bundesamt geht ebenfalls von einer Ablehnung der Asylanträge der Klägerin in Schweden aus. Dies korrespondiert mit der von Schweden am 20. November 2019 erklärten Wiederübernahme gemäß Art. 18 Abs. 1 lit. d) der VO (EU) 604/2013. Danach ist der nach der vorerwähnten Verordnung zuständige Mitgliedstaat verpflichtet, einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, dessen Antrag abgelehnt wurde und der in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat oder der sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats ohne Aufenthaltstitel aufhält, nach Maßgabe der Artikel 23, 24, 25 und 29 der VO (EU) 604/2013 wieder aufzunehmen. Eine Aufenthaltsbeendigung in Schweden wegen der Ablehnung der Asylanträge könnte durch Abschiebung in den Irak als Herkunftsland erfolgen; auch bei den Klägern als alleinstehende bzw. alleinerziehende Frau mit zwei minderjährigen Kindern.

Nach Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 23. März 2020 (Az. 508-516.80/54132) im vorliegenden Verfahren führt Schweden Abschiebungen in den Irak durch. Eine Änderung oder Aussetzung dieser Abschiebepraxis sei "derzeit nicht geplant." Diese Abschiebepraxis bestehe nach Auskunft der schwedischen Behörden allgemein und beziehe sich auch auf alleinstehende Mütter mit minderjährigen Kindern.

Hinsichtlich Irak liegen die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK vor. [...]

Aus den vorliegenden Erkenntnismitteln ergibt sich, dass die humanitäre Lage im Irak sehr schlecht ist. Die Kläger werden als alleinstehende Frau (Klägerin zu 1.) mit minderjährigen Kindern (Kläger zu 2. und 3.) ohne familiären Anschluss nicht in der Lage sein, ihr Existenzminimum zu sichern. Alleinstehende Frauen sind in der patriarchalischen irakischen Gesellschaft besonders verletzlich. Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln sind sie auf dem Arbeitsmarkt und im gesellschaftlichen Leben erheblich benachteiligt. Das verfassungsrechtlich im Irak festgeschriebene Diskriminierungsverbot aufgrund des Geschlechts findet einfach-gesetzlich häufig keine Entsprechung. Die Stellung der Frau hat sich im Vergleich zur Zeit des Saddam-Regimes teilweise deutlich verschlechtert. Frauen sind im Alltag Diskriminierungen ausgesetzt, die ihre Teilnahme am politischen, sozialen und wirtschaftlichen Leben im Irak verhindert. Frauen wird überproportional der Zugang zu Bildung und zum Arbeitsmarkt verwehrt (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak vom 20. November 2018; Auswärtiges Amt, Lagebericht Irak vom 2. März 2020, 12. Januar 2019 und vom 12. Februar 2018; UNHCR, Position zur Rückkehr in den Irak, 14. November 2016).

Die Kläger können bei einer Rückkehr in den Irak nicht auf familiäre Unterstützung verwiesen werden. Die Kläger haben keine derzeit im Irak lebenden nahen oder näheren Verwandten. Auf die Unterstützung durch die (Groß-)Familie des Mannes der Klägerin zu 1. und Vaters der Kläger zu 2. und 3., von dem die Klägerin zu 1. getrennt ist, können sie nicht verwiesen werden, zumal sie auch von ihrer eigenen Familie Anfeindungen ausgesetzt waren.

Selbst bei Berücksichtigung der von den Klägern im freiwilligen Rückkehrfall zu beantragenden Unterstützungsleistungen der Bundesrepublik Deutschland (vgl. REAG/GARP-Programm 2019 - Stand September 2019 (Deutsch) - Reintegration and Emigration Programme for Asylum-Seekers in Germany (REAG), Government Assisted Repatriation Programme (GARP) Projekt "Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen" Informationsblatt; im Internet abrufbar unter:https://files.returningfromgermany.de/files/REAGGARP%20Infoblatt_mit%20Reintegration_ohne%20Armenien_%202019.pdf,StarthilfePlus – Ergänzende Reintegrationsunterstützung im Zielland bei einer freiwilligen Rückkehr mit REAG/GARP, im Internet abrufbar: files.returningfromgermany.de files/190730_SHP_Reintegrationsunterstützung_deutsch.pdf; vgl. auch zu Übersichten und Merkblättern: www.returningfromgermany.de/de/programmes/ergaenzende-reintegrationsunterstuetzung-im-zielland-bei-einer-freiwilligen-rueckkehr-mit-reag-garp), zur Überwindung von Anfangsschwierigkeiten wird es ihnen zur Überzeugung des Gerichts nicht gelingen, ihre Existenz zu sichern. Mangels hinreichend vorhandenen Zugangs zur Grundversorgung könnten sie weder - selbst unter Einsatz dieser finanziellen Mittel - ihre existenzsichernden Grundbedürfnisse befriedigen noch eine Existenz aufbauen. [...]